WIDERSPRÜCHE UND KURIOSITÄTEN
Ich besinne mich auf meine erste Berührung mit Italien. Es war vor dem Kriege. Wir waren als Wandervögel über die Alpen gestiegen, hatten Tirol durchquert und zogen nun in die Po-Ebene hinunter, um nach Venedig zu kommen. Unsere Enttäuschung war groß. Was fängt ein Wanderer an ohne Wiesen und Waldränder? Wozu wandern, wenn man sich nicht von Zeit zu Zeit irgendwo friedlich im Schatten ausstrecken oder am
Wasser in der Sonne braten kann? Und das fanden wir nicht. Jede Straße, jeder Weg war eingehegt von Mauern und Zäunen. Man konnte keinen Schritt vom Wege abtun, ohne auf Privateigentum, ja auf so oder so bestellte Felder und Gärten zu kommen.
Bei späteren Reisen in anderen Teilen des Landes wiederholte sich immer dasselbe, ob es nun in der Umgebung Roms, in den Albanerbergen, bei Neapel oder am Ätna war. Erst sehr viel später lernte ich ein anderes Italien kennen. Man muss hinaufsteigen in die Berge, wo das Ackerland aufhört, wo eine dünne Humusschicht kaum den Felsen bedeckt, wo die Abhänge zu steil sind, um Felder und Gärten zu tragen, wo auch für Obst und Weinterrassen der Boden zu karg geworden ist, oder wo die Gärten und Terrassen von früher, von den Einwohnern verlassen, verfallen und verwildern. Oder man muss in die Ödländer vordringen, in die unbestellten versumpften Gebiete - aus denen feinen aber schnell die unerträgliche Hitze, die Moderluft und die Malaria bringenden Mücken vertreiben.
Dieser erste Eindruck von Italien als dem Land, wo es für den deutschen romantischen Wanderer, der nicht nur alte Kirchen, malerische Städte und Museen sucht, nichts zu holen gibt, wird schnell ergänzend vertieft durch eine andere Beobachtung: Hinter den Wällen, Hecken und Zäunen, die einen hindern, vom
Wege abzuweichen, dehnen sich unendliche Felder und Gärten. Jeder Flecken Boden ist ausgenutzt. Und nicht nur das: Er ist in den meisten Fällen ausgenutzt in einer Art und Weise, wie wir sie in anderen europäischen Ländern selten finden. Man denkt sofort an das, was man von der chinesischen Landwirtschaft gehört oder auf Abbildungen gesehen hat. Die ganze Po-Ebene von Venedig hinauf bis nach Piemont liegt da wie ein einziger ununterbrochener Garten. Reben, die an hoch oben zwischen Bäumen gezogenen Fäden ranken, durchschneiden kreuz und quer das Land. Dazwischen liegen mit Korn und Mais bestellte Felder, Aber sie sind anders bestellt als bei uns. Die Reihen stehen in weiteren Abständen. Zwischen ihnen sieht man schon die Anfänge neuer Kulturen: da kommen Puffbohnen, alle Arten Kohl und andere Gemüse. Wann man auch diese Felder durchfährt und durchwandert - immer ist etwas los. Immer wird gepflügt, gehackt, gejätet, gehäufelt und geerntet. Ein dichtes Netz von Kanälen durchzieht das Land. Das von den Alpen kommende Wasser wird durch Pumpwerke, Staubecken, Haupt- und Nebenkanäle aus den von Dämmen eingefassten Flüssen auf das Land geleitet und fließt durch ein feines Netz von Gräben und Furchen den Feldern und Pflanzen zu. So kommt es, dass auf diesem Land drei, vier und fünf Ernten im Jahr gewonnen werden. Weiter im Süden ändert sich das Bild. Aber es bleibt der Haupteindruck: Jeder Flecken fruchtbaren Landes wird von Menschen in der stärksten Weise ausgenutzt. Gewiss kommen weite Strecken von Sumpf- und Ödländern, kommen Hügel und Berge, an deren Abhängen kein Hälmchen sprießt. Aber in den Tälern und Ebenen lacht einen eine üppige Vegetation an, die die Frucht unendlicher Arbeit zahlloser tagaus, tagein auf den Feldern beschäftigter Menschen ist. Es wechseln die Kulturen, es wechseln die Formen und Methoden der Bearbeitung. Aber es bleibt der Eindruck eines schier unerschöpflichen Reichtums. Er verschwindet auch nicht ganz im Süden, in Sizilien, dem viel verschrienen Lande der großen Dürre. Die weiten wogenden Kornfelder im Innern des Landes, die Weinberge mit den kunstvoll behäufelten, tiefgehaltenen Weinstöcken, die schier endlosen dunkelgrünen Haine, aus denen Apfelsinen und Zitronen leuchten - auch sie erwecken den Eindruck ungewöhnlichen Reichtums. Und er verstärkt sich nur noch, wenn man erfährt, dass hier bis zu fünfzehn Doppelzentner Weizen und sechzig bis siebzig Doppelzentner Apfelsinen und Zitronen pro Morgen geerntet werden. Und dann verlässt man das Land und kommt in die Industriestädte. Und wieder ist man erstaunt. Man findet sich vor ganz modernen Fabrikanlagen, deren Bauten aus Beton und Glas einen an Amerika denken lassen. Da sind die riesigen Maschinenfabriken in den großen Industriezentren des Nordens: die Breda, Alfa-Romeo, Fiat und wie sie alle heißen. Und selbst in kleineren Provinzorten, in denen man es gar nicht erwartet, wie in Biella oder Vercelli, stößt man auf ähnliche moderne Anlagen. Bis hinunter nach Sizilien begleiten einen die gewaltigen Mühlen und die großen Makkaronifabriken. In den Hafenstädten ragen die Krananlagen und Gerüste moderner Werften in den Himmel. Betritt man dann eine dieser großen Fabrikanlagen, so findet man in ihnen die allermodernsten Maschinen, neueste Transportmittel und Fließbänder. Und wenn man auch in der Tagespresse Artikel gegen die Rationalisierung und für den Schutz des Kleinbetriebes findet, beweist der Augenschein, dass die industrielle Konzentration und die ständige Modernisierung des Produktionsprozesses auch vor Italien nicht haltgemacht haben. Und noch etwas anderes kommt hinzu: In jedem Gespräch mit Arbeitern und Bauern erfährt man, dass es fast keine Familie gibt, die nicht den einen oder anderen Verwandten im Ausland hat. Alle diese Auswanderer schicken regelmäßig Geldsendungen an ihre daheimgebliebenen Verwandten oder kehren eines Tages mit kleinem in Mark, Franken oder Dollar erspartem Vermögen zurück und erwerben ein Stückchen Land oder ein kleines Geschäft. Sie bringen höhere Kulturansprüche, größeres Wissen und einen gewissen fortschrittlichen Geist mit. Woran kann es einem Lande fehlen, das über solche natürlichen und künstlichen Reichtümer verfügt? Muss dieser Reichtum nicht die Grundlage für einen ständig wachsenden Wohlstand der Massen sein? Und stellt dieser Wohlstand der Massen nicht eine unvergleichliche Basis für ein immer weiteres Wachsen der Produktivkräfte und des Wohllebens des ganzen Volkes dar? Und auf einmal wandelt sich das Bild, und man taucht in einem namenlosen Elend unter.
Wendet man den Blick von den Feldern und Gärten, von den prächtigen Industrieanlagen und den Palästen und Villen der vornehmen Stadtteile zu den Menschen, zu der Masse der Arbeitenden, so glaubt man sich in ein anderes Land versetzt. Gruppen von Elendsgestalten, in deren Zügen die Spuren des Hungers und der Krankheit eingeprägt sind, stehen überall herum. Ihre Anzüge, die manchmal noch ein früher besseres Leben erkennen lassen, sind abgewetzt, geflickt oder gar zerlumpt. Das Schuhwerk ist abgetragen und brüchig. Auf den Marktplätzen der Städte des Südens stehen die arbeitsuchenden Landleute herum* ein ausgebleichtes Cape oder ein zerschlissenes Plaid zum Schutz gegen die morgendliche Kühle um die Schultern. Die kleinen Pächter und Tagelöhner, die sich beim Morgengrauen auf den Feldern der Riesengüter Siziliens, Apuliens und Kalabriens einfinden, kommen in Bastschuhen oder Lederpantoffeln, die Bein mit Lumpen umwickelt, die von ein paar Stricken zusammengehalten werden. Sie tragen kurze Jacken aus Schaf- oder Ziegenfell, die der Träger schon von seinem Großvater geerbt zu haben scheint. Und auch die Masse, die sich an Sonn- und Festtagen in den Kirchen drängt, sieht um kein Haar besser aus. Die in Lumpen gehüllten, mageren Gestalten bilden einen unheimlichen Gegensatz zu der Pracht der in Hunderten von Kerzen schimmernden Altäre und zu den wohlgenährten rosigen Priestern die ihnen von der Kanzel herab die Schrecken der Hölle und die Herrlichkeiten des ewigen Lebens ausmalen. Schier endlos ziehen sich in den großen Städten, mit Ausnahme der wenigen modernen Industrie- und Handelszentren wie Turin, Mailand und Bologna die Elendsquartiere hin, in denen Hunderttausende von Arbeitern, kleinen Handwerkern und Gewerbetreibenden mit ihren kinderreichen Familien hausen. Der Fremde pflegt in diesen großen Städten, in Genua, Neapel oder Palermo, von den feinen Geschäftsstraßen aus, auf die diese Viertel münden, einen Blick in die „malerische Schönheit" dieser Gassen zu werfen. Schnell wird der Kodak gehoben und eine Aufnahme von der Straße gemacht, auf der unten zwischen den im Freien arbeitenden Handwerkern Scharen von Kindern herumtoben, von den Balkons an langen Seilen kleine Körbchen heruntersteigen, aus denen der Straßenhändler sich das Geld nimmt, um ein paar
Pfund Kartoffeln oder Zwiebeln hineinzulegen, während oben an Stricken, die von Haus zu Haus und von Balkon zu Balkon die Gassen mit einem dichten Netz überziehen, die ewige Wäsche gräulich gegen den tiefblauen Himmel flattert. Aber ahnt der Fremde, was für ein Elend diese Gassen bergen? Sehen wir uns einmal eine solche Gasse näher an: Ich habe in Palermo einen ganzen Tag in einem der „Cortile" verbracht, deren dichtes Netz wohl die Hälfte der Stadt zwischen der feinen Via Maqueda mit dem Opernplatz (der die „größte Oper" Europas beherbergt) und der Kathedrale und dem königlichen Schloss bedeckt.
Der Arbeiter, dessen Bekanntschaft ich irgendwo in der Stadt gemacht hatte, wollte mich erst nicht zu sich nach Hause mitnehmen. Er schämte sich offenbar, dem Fremden das Elend seiner Existenz zu offenbaren. Aber ich war hartnäckig gewesen, und so kamen wir endlich in seiner Gasse an. Die Gasse ist hundert Meter lang und etwa drei Meter breit. Wie überall, so empfängt uns auch hier Arbeitslärm der Handwerker und Kindergeschrei. Die Häuser, die wie Ruinen aussehen, sind zwei bis drei Stock hoch. Jedes ist ein Zimmer breit. Fenster gibt es nicht, nur Türen. Diese münden oben auf die Straße und in den oberen Stockwerken auf kleine baufällige Balkons. Die „Wohnungen" sind sich alle gleich: ein Raum mit einer kleinen Küchenecke. In jedem dieser Löcher wohnt eine Familie von durchschnittlich sieben bis neun Köpfen. Über zweitausend Personen wohnen in dieser kleinen Gasse! Selten war in einer Wohnung mehr als ein männliches Wesen zu finden, das Arbeit oder sonst einen Verdienst hatte. Durchschnittlich brachte jeder zehn Lire am Tage nach Hause. Und davon lebt dann die ganze Familie. Man kann sich vorstellen, wie die Menschen aussehen, die hier hausen. Und so wie sie leben Hunderttausende in den genannten Städten!
Das Bild des Elends der Massen wird noch klarer, wenn man erfährt, was diese Menschen essen. „Glücklicherweise isst unser Bauer nur einmal täglich", hat Mussolini neulich in einer Rede gesagt. Und das stimmt. Ja, es ist sogar beinah zu viel gesagt. Wir werden später noch die Lebensbedingungen der Bauern genauer kennenlernen. Wir werden erfahren, warum es Zeiten
gibt, wo sie die ganze lange Woche, weit von Hause entfernt, in Stroh- und Lehmhütten auf den Feldern leben und sich während dieser Zeit fast ausschließlich von trockenen, kalten Speisen ernähren, die sie von zu Hause mitnehmen: von Brot, Käse, Zwiebeln und einem Schluck Wein. In den Gegenden mit ausgeprägtem Großgrundbesitz im Norden und im Süden wird die einzige Mahlzeit zu Hause eingenommen, wenn der Vater nach Sonnenuntergang vom Felde zurückkommt. Nur in manchen Gegenden gibt es mittags auf dem Felde noch eine Suppe. In Mittelitalien, wo vor allem die Halbpacht verbreitet ist, wird die Hauptmahlzeit mittags im Hause genossen. Ein kärgliches Frühstück und Abendbrot wird auf dem Felde verzehrt. Die Zusammensetzung der Speisen ist in ganz Italien bei den Bauern von größter Eintönigkeit. Die Grundlage bilden Brot, Mehlprodukte und Hülsenfrüchte. Frisches Gemüse wird schon seltener gegessen. Fleisch, das es in der Zeit nach dem Kriege fast jeden Sonntag gab, kommt immer seltener auf den Tisch. Die Landbevölkerung kehrt zu den Zuständen zurück, wo es nur dreimal im Jahr, zu Ostern, zu Pfingsten und zu Weihnachten, Fleisch gab. An die Stelle des Fleisches ist immer mehr der Stockfisch getreten, Importware aus Skandinavien, die drauf und dran ist, italienisches Nationalgericht zu werden. Aber nicht nur der Bauer ist auf diese Elendsration gesetzt. Was Mussolini von ihm gesagt hat, gilt heute ebenso vom Arbeiter. Ja, seine Ernährung ist noch schlechter. Denn wenn auch der ärmste Tagelöhner noch irgendein Stückchen Feld oder Garten hat, auf dem er sich etwas frisches Gemüse ziehen kann, muss der Arbeiter alles kaufen. Auch für ihn ist das Fleisch längst zu einer märchenhaften Angelegenheit geworden. Hören wir einen Arbeiter selber an:
Die Zeitung „Il Lavoro", eine der wenigen Zeitungen Italiens, die sich erlaubt, von Zeit zu Zeit eine etwas oppositionelle Haltung einzunehmen, hatte im Februar eine Serie von wissenschaftlichen Artikeln über das Thema: „Was und wie viel muss man essen" veröffentlicht. In ihrer Nummer vom 5. März 1931 druckte sie dann einen anonymen Brief von vier Arbeitern zu dieser Frage ab. In dem Artikel heißt es:
„Sie wissen sehr wohl, dass der Arbeiter, angesichts seines kümmerlichen Einkommens von heute, sich darauf beschränken
muss, sehr wenig Nahrungsmittel zu verzehren, die er unter den billigsten auswählt. Die Arbeiter kümmern sich nicht um Vitamine und Proteine, sondern möchten einfach wissen, wovon er sich praktisch ernähren soll, um wenig auszugeben und doch zu leben ...
Natürlich müssen Sie (das brauchen wir Ihnen wohl nicht zu sagen) zuerst einmal daran denken, dass die Arbeiter in ihrer großen Masse, weil sie es nicht können, keine Süßigkeiten, feine Teigwaren, Obst, Gartenfrüchte, Milchprodukte und Marmeladen verzehren, auch wenig Milch, wenig Zucker, wenig Butter, wenig Gemüse, Reis, Eier oder sogar Fleisch oder andere appetitliche Sachen und Sächelchen.
Die Arbeiter von heute füllen sich den Magen (wenn ihnen das überhaupt gelingt) größtenteils mit magerer Suppe, trockenen Makkaroni, meistens Bruchware, Kartoffeln oder Soße mit viel Kartoffeln, mit Stockfisch, Klopsen aus allen möglichen Resten, Brot zweiter und dritter Sorte, Kabeljau, Maisgrieß, weißen Bohnen, Erbsen, Zwiebeln, Kaidaunen, Pfeffer, wässriger Milch, Gerste, altem Käse ... und mit einem Scheibchen Rinderwurst bei festlichen Gelegenheiten, einem bisschen gebratenen Fisch (meistens Tintenfisch), einem bisschen Weißbrot und Fleisch zu Weihnachten, und grauem Kuchen zu Ostern und zu Weihnachten. Vielleicht trinken die Arbeiter außer reichlich Wasser auch einmal ein Gläschen Wein (übrigens nicht alle), aber das muss man ihnen schon lassen, sei es, weil der Wein die traurigen Gedanken verjagt, sei es, weil sie damit doch heutigen Tages dazu beitragen, die Krise im Weinbau zu lösen, die ein andres der großen Übel unserer Nation darstellt." Dieser Brief spricht eine beredte Sprache. In den letzten Worten zeigt sich die ganze Ironie, mit der die Zeilen geschrieben sind. Man kann sich nach dieser Darstellung, die erstens aus einer großen Hafenstadt stammt, und zweitens die faschistische Zensur passiert hat, vorstellen, wie der Speisezettel des Arbeiters in Wirklichkeit aussieht.
Was bei diesen Wohnungs- und Ernährungsverhältnissen aus der Gesundheit der Bevölkerung wird, kann man sich denken. Die Pellagra, die epidemische Darmkrankheit, die bis zur Jahrhundertwende unter der norditalienischen Landbevölkerung
Verheerungen anrichtete, ist zwar noch nicht wieder als Epidemie aufgetreten. Aber die Vorkämpfer gegen diese furchtbare Krankheit haben seinerzeit die entsetzlichen Ernährungsverhäitnisse bei der Landbevölkerung in der Po-Ebene als Ursache der Pellagra festgestellt. Sie ist nach und nach mit dem bis in die Nachkriegszeit anhaltenden Steigen des Wohlstands der ländlichen Massen verschwunden. Wie lange wird es dauern, bis sie unter diesen Menschen, die der Faschismus auf die Hungerrationen der Zeit vor 1900 zurückgebracht hat, wieder auftritt?
Inzwischen wüten Tuberkulose und Malaria als Volkskrankheiten. Was nützt der offizielle Kampf gegen die Tuberkulose, was helfen die paar Heilanstalten, die Bekämpfung der Mückenplage und das durch ein besonderes Staatsmonopol vertriebene Chinin auf die Dauer, wenn die körperliche Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung durch Hungerlöhne und chronische Unterernährung ständig sinkt?
Das ist das andere Italien: das graue Elend der Millionen der werktätigen Bevölkerung in diesem Lande mit den blühenden Feldern und Gärten und den prachtvollen, modern ausgestatteten Großbetrieben. Statt ständig zu wachsen, geht der Innenmarkt ebenso ständig zurück. Der Konsum von Zucker, Textilwaren, Schuhzeug, Wein, Gemüse, Öl usw. sinkt von Jahr zu Jahr. Der letzte Winter mit seinen riesigen Lohnkürzungen und den steigenden Arbeitslosenziffern hat Absatzrückgänge bis zu dreißig und vierzig Prozent gebracht.
Aus diesem allgemeinen Bild des scheinbaren Reichtums des Landes und des tatsächlichen Elends der Massen heben sich einzelne Fälle besonders krass heraus.
Wir haben schon gesägt, dass die Zustände in Italien einen Vergleich mit dem alten Russland vor der Revolution nahelegen. Auch dort fanden wir ein an natürlichen Schätzen besonders reiches Land, in dem die Massen der werktätigen Bevölkerung ein beispielloses Elendsdasein führten. Auch dort standen Wirtschaftsformen aus der Feudalzeit einer zum Teil aufs höchste entwickelten Industrie gegenüber. Wenn man aber Vergleiche für manche heute - 1931 - noch in Italien bestehenden Zustände sucht, so muss man weiter gehen als nach Russland: Man muss sich noch
China wenden, oder man muss in das frühe Mittelalter von Italien selbst zurückgehen.
Geradezu chinesische Zustände herrschen im Süden. Als ich von meinen Beobachtungen einem Freund erzählte, der ein besonderer Kenner Chinas ist, unterbrach er meine Erzählungen alle Augenblicke mit dem Ausruf: „Das ist ja wie in China." Chinesisch sind viele Formen der intensivsten gartenmäßigen Feldbestellung, mit einer ausgebauten Bewässerungskultur, bei der die tatsächlich auf dem Lande arbeitende Bevölkerung fast Hungers stirbt, weil sie unendliche Pachtzinsen an die Besitzer und ihre Stellvertreter abgeben muss. Aber die Ähnlichkeit mit China geht bis in lächerliche Einzelheiten. Ich will so einen Fall erzählen. Auf dem Landgut Ficuzza, fünfzig Kilometer landeinwärts von Palermo, fand ich in einem Raum des Verwaltungsgebäudes an einem Nagel einen Strick hängen, auf dem an hundert sonderbare, mit Kerben versehene Holzstäbchen aufgefädelt waren. Dieser Strick mit den Stäbchen, der auf den ersten Blick aussah wie ein Kinderspielzeug, wie eine Strickleiter oder die Halskette einer Negerfrau, war - die Buchführung des Gutes. Achthundert Morgen dieses Gutes lässt sein Besitzer, der Hotelbesitzer Spadafora aus Palermo, von Halbpächtern bearbeiten, Bauern, die ihm die Hälfte oder zwei Drittel des Ernteertrages abliefern müssen. Diese Bauern kommen allmorgendlich aus dem zwölf Kilometer vom Gut entfernten Bergstädtchen Marineo zur Arbeit auf die Felder des Spadafora. Die Leute, von denen jeder ein Stück Land von fünfzehn bis zwanzig Morgen Größe bearbeitet, sind des Lesens und Schreibens unkundig. Aber sie müssen dem Gutsherrn eine Abrechnung vorlegen. Das ganze Jahr hindurch bekommen sie von ihm Vorschüsse in Gestalt von Bargeld und Korn. Die Vorschüsse müssen nach der Ernte abgerechnet werden. Die Grundlage dieser Abrechnung bilden die Stäbchen, die ich im Verwaltungsgebäude hängen sah. Jedes Stäbchen ist das Konto eines Bauern. An dem einen Ende ist sein Name und die Nummer seines Feldstücks aufgeschrieben. An den Seiten des Stäbchens wird die Rinde abgeschält, das runde Holz abgeflacht, und dann werden Kerben eingeschnitzt: auf der einen Seite die Geldvorschüsse, auf der anderen Seite die Scheffel Getreide, die er zur Aussaat erhalten hat. Dann wird das Stäbchen der Länge nach gespalten, so dass die Einkerbungen auf beiden Seiten halbiert werden. Die eine Hälfte nimmt der Pächter mit nach Hause. Wenn er einen neuen Vorschuss braucht, bringt er seine Hälfte mit. Sie wird dann an die andere Hälfte angelegt, und für den neuen Vorschuss wird über die beiden Hälften hinweg eine neue entsprechende Kerbe eingeschnitten. Die andere Hälfte bleibt beim Edelmann. Da hängen diese Hölzchen, auf einen Faden aufgefädelt, an einem Nagel, an der Wand. Soviel Bauern, soviel Stäbchen! Sie hängen da, als Symbol uralter Sklaverei, die der Faschismus treu behütet.
Wie alt mag diese Tradition sein? Die Eintragung erfolgt in römischen Zahlen. Man sieht ordentlich den Verwalter eines Latifundiums der alten römischen Zeit vor sich, wie er dieselben Einkerbungen für die freigelassenen Sklaven macht, die er auf den Feldern seines Herrn arbeiten lässt.
„Chinesisch" sind die Arbeits- und Lohnverhältnisse in den Schwefelgruben Siziliens. Unter den furchtbaren Bedingungen, von denen noch später die Rede sein wird, arbeiten in den Schwefelgruben Siziliens gegenwärtig 15000 Arbeiter. Davon sind gut ein Drittel Kinder unter vierzehn Jahren. Die Grubenbesitzer zahlen Lohn nur an die Häuer. Die Bezahlung der Lastschlepper unter Tage, die fast ausnahmslos Kinder sind, geschieht durch die Häuer. Auf diese Weise sind die Kinder den Häuern vollkommen ausgeliefert.
Ausgesprochen mittelalterlichen Zuständen begegnet man auf Schritt und Tritt in Mittelitalien. Schon auf den ersten Blick springt einem beispielsweise in die Augen, wie sich in Toskana die Siedlungs- und Besitzverhältnisse seit dem frühen Mittelalter nicht verändert haben. Betrachtet man die Bilder der toskanischen Maler des 14. Jahrhunderts in den Museen, so findet man auf den Hintergründen der Heiligenbilder toskanische Landschaften, die ebenso gut jetzt wie vor sechshundert Jahren gemalt sein könnten: Oben auf den Bergen am Rande des Waldes liegen die „Villen", die festen Schlösser der Herren und Grundbesitzer. Weiter unten am Abhang schließen sich die riesigen Steinhäuser der Pächter und Halbpächter an. Auch sie sehen aus wie kleine Burgen Ich werde später ausführlich darstellen, was der eigentliche Inhalt dieser mittelalterlichen Besitz- und Wirtschaftsverhältnisse und insbesondere der „Halbpacht" in Toskana ist. War schon im Mittelalter die Halbpacht eine Form von Sklaverei, deren Bestehen allein der herrschenden Klasse ihr Wohlleben und die von uns so bewunderte reiche geistige und künstlerische Kultur der Renaissance möglich machte, so ist diese Wirtschaftsform heute nichts anderes; ja die Sklaverei ist noch schlimmer: denn wenn im Mittelalter der Pächter nur den Grundherrn und Edelmann über sich hatte, so ist er jetzt, ohne von den ungeheuren Abgaben an den Grundbesitzer befreit zu sein, eingekeilt in die kapitalistische Warenwirtschaft, die ihm bei jedem Schritt, bei jeder Handlung, die er tut, noch einmal ein Stück von dem mageren, ihm verbleibenden Verdienst abzwackt.
Es ist ebenso Mittelalter, was wir auf den Latifundien Süditaliens und Siziliens sehen: Wenn der Spekulant und Bankier, der heute in Sizilien in den meisten Fällen die Erbschaft der alten Adelsfamilien angetreten hat, sich nach dem Muster seiner feudalen Vorläufer heute noch „Edelmann" nennen lässt und von seinen zerlumpten Pächtern und Tagelöhnern als von seinen „Bürgern" spricht, so ist das mehr als ein Spiel mit Worten: tatsächlich sind die alten Besitz- und Arbeitsverhältnisse, aus denen jene Bezeichnungen entstanden, bis heute unverändert geblieben. Aber auch hier gilt dasselbe, was wir von der Halbpacht in Toskana gesagt haben: Die Ausbeutung, die den Inhalt des Verhältnisses von Bürger und Edelmann im Mittelalter bildete, ist unter der alten rechtlichen Form eine viel schlimmere geworden. Auch diese „Edelleute" und „Bürger" leben und arbeiten jetzt innerhalb der kapitalistischen Warenwirtschaft. Sie bewirkt es, dass der Verdienst des Edelmanns ebenso zunimmt wie der des Bürgers abnimmt: denn der Edelmann, der ständig die Hälfte oder zwei Drittel der Ernte ohne weiteres einsteckt, legt dieses Geld in Hausbesitz, Handels-, Industrie- und Bankunternehmungen an. Zu der Grundrente, die er von seinem Landbesitz bezieht, steckt er noch Mehrwert ein. Der Bürger aber ist gezwungen, seine Naturalwirtschaft immer mehr einzuschränken und das, was er zu seinem Leben braucht, immer mehr auf dem kapitalistischen Warenmarkt zu kaufen. Dazu aber muss er erst einen Teil des Ernteertrages, der ihm verbleibt, verkaufen. Natürlich genießt er bei diesem Verkauf seiner Produkte und bei dem Einkauf seiner
Bedarfsartikel nicht die Vorzüge des reichen Besitzers. Er muss seine Ernte sofort losschlagen und sie dem Aufkäufer zum niedrigsten Preis abgeben. Seine Bedarfsartikel aber muss er an Ort und Stelle einkaufen und dadurch eine ganze Schicht von Händlern mit ernähren, während der reiche Besitzer seinen Bedarf in den Städten und im Engroshandel decken kann. Man kann diese Veränderung, die der Kapitalismus in die weiter fortbestehenden mittelalterlichen Besitz- und Arbeitsverhältnisse getragen hat, geradezu mit Händen greifen. Man braucht nur einmal so einen „Edelmann" einem „Bürger" gegenüberzustellen. Der „Edelmann" - ein wohlgenährter Herr mit akademischer Bildung, Großgrundbesitzer, Hausbesitzer, Spekulant an der Börse, Aktionär eines Mühlenbetriebes, Besitzer eines Autos usw. Er wohnt natürlich fernab von seinem Gut in der Stadt in einem der alten, aber jetzt modern eingerichteten Adelshäuser oder einem funkelnagelneuen Palazzo. Der „Bürger" - ein unterernährter Landprolet, halb in Lumpen gekleidet, Bastschuhe an den Füßen. Auf ein- und demselben Landbesitz stehen sich der zum Großkapitalisten gewordene „Edelmann" und der proletarisierte „Bürger" auch mit verschiedenen Wirtschaftsformen gegenüber, die ebenso deutlich die Vertiefung des Gegensatzes infolge der kapitalistischen Entwicklung der Gesamtwirtschaft widerspiegeln: auf dem Teil des Gutes, das der Besitzer selbst mit Tagelöhnern bearbeitet, laufen moderne landwirtschaftliche Maschinen und werden die neuesten Methoden des Fruchtwechsels, der Düngung, der Bewässerung usw. angewendet. Und dicht nebenan, jenseits des Feldrains, schiebt der Bürger den Holzpflug, der sich in nichts von dem Holzpflug des alten russischen Mushik unterscheidet, sät mit der Hand das Korn aus und bringt bestenfalls ein bisschen Stallmist aus der 12 Kilometer entfernten Stadt mit.
Alle diese mittelalterlichen Reste und „chinesischen" Zustände inmitten des Landes, das auf den ersten Blick so reich aussieht und dann seine ganze Armut und Elendigkeit preisgibt, sind mehr als ein geschichtliches Kuriosum. Alle diese Widersprüche bilden den Boden, aus dem der besondere italienische Faschismus erwuchs, und geben der faschistischen Gewaltherrschaft, die diese rückständigen Verhältnisse pflegt, sie dort wieder hergegestellt hat, wo sie zu verschwinden begannen, und gleichzeitig die hochkapitalistische Entwicklung fördert, ihren besonderen Ausbeutungscharakter.
Bevor wir diesen eigentlichen Inhalt der faschistischen Ausbeutungspolitik betrachten, müssen wir eine kleine, wichtige Abschweifung machen.
Wie entwickelte sich der Faschismus aus dem Gefüge der widerstreitenden Klassenkräfte Italiens? Was fand er vor, als er zur Macht kam? Wie war die Stellung der werktätigen Massen vor dem Antritt seiner Herrschaft? |
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