DIE SO GENANNTEN GEWERKSCHAFTEN
Schon wiederholt war bisher die Rede von den „Gewerkschaften", die die Faschisten aufgebaut haben und die angeblich ein wichtiger Bestandteil ihres Staatssystems sind. Wir haben schon gesehen, was Arbeiter und Bauern über die Gewerkschaften denken. Sie haben von ihnen nichts zu erwarten, es sei denn die Unterstützung der Unternehmer bei der Verschärfung der Ausbeutungspolitik. Aber was sind diese Gewerkschaften eigentlich? Wie sind sie aufgebaut, und womit beschäftigen sie sich? „Wissen Sie, unser Gewerkschaftssystem ist eine wundervolle Sache. Es ist so vollkommen durchdacht und so großartig konstruiert. Nur, leider - das Volk versteht es nicht!" Der mir das sagte, war ein junger Gewerkschaftsekretär in Palermo. Sohn eines Professors aus Norditalien, befand er sich hier im Süden als höherer Funktionär. Es war einer der vielen Fälle, wo ich feststellen konnte, dass die leitenden Körperschaften des Südens durch Funktionäre aus dem Norden besetzt sind. Das gehört zum System. Der agrarische und zum Teil noch sehr rückständige Süden ist für den industriellen Norden - Kolonie. Der alte Gegensatz zwischen Nord und Süd, der seit jeher eines der großen Probleme der italienischen Politik darstellte, ist vom Faschismus höchst einfach „gelöst" worden: Die „Verbesserung der Lage des Südens" geschieht in der Form der Unterwerfung und Durchdringung der Wirtschaft in den südlichen Provinzen und auf den Inseln durch das norditalienische Finanzkapital. Ein ganzes Heer von faschistischen Beamten und Halbbeamten aus dem Norden sind die Träger dieser Politik. Mein Gewährsmann gehörte zu dieser Schicht. In Stunden gemütlichen Beisammenseins machten er und seine Freunde gar kein Hehl daraus, dass sie sich hier im Süden wie in einer Kolonie fühlten. „Die Leute hier sind ja wie die Neger", sagten sie und
ergingen sich in süßen Erinnerungen an ihre schönen norditalienischen Städte.
„Das Volk versteht sie nicht", diese „Gewerkschaften", die sich die Professorensöhne so herrlich und harmonisch ausgedacht haben. Und es hat seinen Grund, wenn das Volk sie nicht versteht!
Schon ganz allgemein betrachtet sind die faschistischen Gewerkschaften ein phantastisches Gebilde.
Sie wurden tot geboren. Ihre Geburtsurkunde ist das Gesetz vom 3. April 1926 über die „rechtliche Disziplinierung der kollektiven Arbeitsbeziehungen". Die alten Klassengewerkschaften der Arbeiter waren längst zerstört. Sie hatten sich aufgelöst, teils durch die faschistischen Strafexpeditionen mit Feuer und Schwert und durch zwangsweise Absetzung und Ermordung ihrer Führer, teils dadurch, dass die sozialdemokratischen Führer sie Hals über Kopf im Stich ließen, kampflos das Feld räumten und sich aus dem Staube machten. Das Gesetz vom 3. April 1926 gab ihnen offiziell den Todesstoß. Es führte die einheitliche faschistische Zwangsorganisation ein. Nur eine einzige Vereinigung von „Arbeitnehmern" wurde anerkannt, die faschistische. Auf dem Papier wurde ihr die Anerkennung zugesprochen, auch wenn sie nur ein Zehntel der Arbeiter des betreffenden Berufszweiges umfasste. Tatsächlich wurde auch diese Bedingung nirgends beachtet: Jedes von der örtlichen Parteiorganisation ernannte Gewerkschaftssekretariat wurde ohne weiteres legalisiert. Und dieser bürokratische Apparat erhielt vom Gesetz das Recht, von allen „Arbeitnehmern", auch wenn sie der Organisation überhaupt nicht angehören, einen Beitrag zu erheben. Der entsprechende Betrag wird einfach durch den „Arbeitgeber" allwöchentlich vom Lohn abgezogen! Auf jeder Lohntüte kann man diese Abzüge finden. Dafür ist dann aber diese Gewerkschaft allein berechtigt, im Namen aller Arbeiter zu verhandeln. Sie tut es, ohne auch nur irgendwie selbst diejenigen Arbeiter zu befragen, die ihr Mitgliedsbuch besitzen. Denn es gibt gar keine Versammlungen. Wozu wären sie auch nötig? Die Funktionäre werden ja auch so nicht gewählt, sondern von der jeweils höheren Instanz ernannt. Nach diesem Prinzip wurde eine große, alle Branchen umfassende Organisation aufgebaut: eine köstliche Futterkrippe für Tausende von erwerbslosen Faschisten, die hier „Lebensstellungen" auf Kosten der den Arbeitern zwangsweise abgezogenen Beiträge erhielten. So entstand die faschistische Gewerkschaftskonföderation mit dem Sekretär Rossoni (einem ehemaligen Syndikalisten) an der Spitze.
Und sonderbar: Auch diese Karikatur auf eine Arbeiterorganisation wurde gefährlich. Irgendetwas musste dieser Apparat doch tun. Und schon diese bescheidene, nur zum Schein und mit aller Demagogie durchgeführte „Tätigkeit zum Schutz der wirtschaftlichen und moralischen Interessen und zum Zwecke der Wohlfahrt und Bildung der Arbeiter" wurde für den Faschismus untragbar. Klasseninteressen begannen sichtbar zu werden. Zur Tür hinausgejagt, kam der Klassenkampf zum Fenster wieder herein. Das Ergebnis war, dass man die Gewerkschaftsföderation auflöste, Herrn Rossoni auf ein anderes Pöstchen abschob und die einzelnen Gewerkschaftsorganisationen in dem Labyrinth des „Korporativsystems" begrub.
Aber man ging noch weiter: Man nahm diesen Scheingewerkschaften auch noch die Funktionen der „Wohlfahrt" und „Bildung". Für beide Tätigkeitszweige wurden neue besondere Organisationen geschaffen, die „Casse mutue" (Kassen der gegenseitigen Hilfe) und die „Dopo-Lavoro"-Organisation. Man schlug dabei zwei Fliegen mit einer Klappe: den Gewerkschaften wurde das Tätigkeitsfeld noch weiter verengt, und zugleich wurden Tausende von neuen Posten zur Unterbringung faschistischer Funktionäre geschaffen.
Was blieb eigentlich für die Gewerkschaften übrig? Ich bin darüber von höchst zuständiger Seite genau informiert worden und habe auch ein Stückchen praktischer Gewerkschaftsarbeit mit eigenen Augen und Ohren kennengelernt. Auf dem Corso Ferraris in Turin steht ein großes, mehrstöckiges Haus. Hier bin ich in den Jahren 1920/21 oft ein und aus gegangen. Damals war das etwas schmuddlige Gebäude ständig von zahlreichen Gruppen diskutierender und scherzender Arbeiter umgeben. In den vielen Zimmern herrschte reges Leben. Proleten gingen ein und aus. In allen Zimmern und Sälen fanden Sitzungen statt, wurden Besprechungen abgehalten und Auskünfte erteilt. Das Haus beherbergte damals die „Arbeitskammer" von Turin, die Hochburg der stark entwickelten und kämpferischen Turiner Arbeiterbewegung. Ich habe dasselbe Haus einige Jahre später anders wiedergesehen: Die eingeschlagenen Fenster trugen schwarze Brandspuren. Das Dach fehlte. Als klägliche Ruine ragte die alte Festung des Sozialismus in den blauen Himmel. Die faschistischen Banden hatten gründliche Arbeit getan!
Und nun war ich wieder hier. Wiederaufgebaut und frisch angestrichen lag das Gebäude still und verlassen in der breiten Straße. Am Tore zwei Faschisten in Milizuniform. Auf den Treppen und Korridoren dieselbe Verlassenheit wie draußen. Durch eine Kette von Sekretären, Untersekretären und Wachtposten, deren römischen Gruß ich mit saurer Miene mit ausgestrecktem Arm beantwortete, kam ich endlich zum Herrn Generalsekretär der Industriegewerkschaften. Aber der Herr hatte keine Zeit für mich. Er war in dem pompös ausgestatteten Saal, der ihm als Kabinett diente, bei einer Unterredung mit zwei wohlgenährten besseren Herren beschäftigt. Ich musste mich mit dem Vizepräsidenten Herrn Scolari begnügen. Auch er sah den Arbeitersekretären wenig ähnlich, die ich in früheren Jahren hier getroffen hatte. Mich interessierte es zu erfahren, womit sich alle diese Leute, die da mit ihren Sekretären, Sekretärinnen und Maschinistinnen in den vielen Zimmern herumsaßen, eigentlich beschäftigten. Ich wurde bald belehrt, wie umfangreich und verantwortungsvoll ihre Arbeit ist! Ja, sie haben viel zu tun, diese Sekretäre, denn sie sind ja - die ganze Organisation! Niemand nimmt ihnen die Arbeit ab. In den vielen Hunderten von Fabriken, die es in Stadt und Provinz Turin gibt, bestehen keinerlei Gewerkschaftsvertretungen.
„Vertrauensleute in den Betrieben haben wir nicht. Sie sind vom Gesetz nicht erlaubt. Wir haben dort so etwas wie ,Korrespondenten', die uns über die Vorgänge auf dem Laufenden halten müssen. Aber die sollen auch abgeschafft werden. Vielleicht werden sie durch eine Art von Experten ersetzt, wenn das Gesetz sie anerkennt."
„Und was macht der Arbeiter, der etwas von seiner Gewerkschaft will?"
„Nun, er kommt eben zu uns. Dazu sind wir ja da. Wir nehmen seine Beschwerden entgegen. Sehen Sie", erklärt mir Herr Scolari, indem er einen Pack Papier aus seinem Schreibtisch nimmt, „hier haben wir Formulare. Wenn ein Arbeiter zu uns kommt, wird gleich ein Protokoll aufgenommen. Ohne das geht es nicht."
Ich sehe mir die Formulare an. Ja, das ist alles wunderschön:
„Ich, der Unterzeichnete...... aus......, geboren in......,
...Jahre alt, wohnhaft in......, Straße......Nummer ... erkläre im Sinn des Artikels 4 des Königlichen Dekrets vom
26. 2.1928 Nr. 471, dass der Unternehmer ...... Firma......"
Und so geht es weiter und weiter. Da fehlt nichts, und am Ende legt der Unterzeichnete (der „Denunziant" heißt es auf italienisch) alle seine Rechte und Ansprüche in die Hände der Gewerkschaft; „respektvoll unterzeichnet......", wie es so schön am
Ende lautet.
Man kann sich recht vorstellen, mit welchem Gefühl brüderlichen Vertrauens der „respektvolle Denunziant" sein Schicksal in die Hände des wohlerzogenen, rosigen Herrn Sekretärs legt, der da hinter dem großen geschnitzten Eichentisch ihm gegenüber thront! Wie leicht und einfach das alles ist: Aus der Fabrik den Weg zu finden zu diesem hohen Herrn, der da nichts anderes tut, als auf den respektvollen Besuch seines Klienten zu warten; und wie freudig er sich als „Denunziant" mit Haut und Haar, Straße und Hausnummer „seiner" Gewerkschaft ausliefert. Aber was wird denn nun eigentlich hier verhandelt? Womit kommen die Arbeiter?
Die Möglichkeiten sind von vornherein weise eingeschränkt. Ein Protokoll wird nur aufgenommen, wenn es sich um irgendeine Art von Verletzung der von der Gewerkschaft (wie wir wissen ohne Zutun der Arbeiter) abgeschlossenen Verträge handelt. Im Monat März beschäftigte sich das Provinzsekretariat von Turin, unter dessen „Leitung" über 100000 Industriearbeiter stehen, mit - 675 Fällen. Davon waren 580 Einzelfälle. Und fast die Hälfte von ihnen betraf wiederum die Frage der Anerkennung des Dienstalters und die Einhaltung der Kündigungsfrist. Es wurden Summen von 80,100,300 Lire gefordert. Sieht man die Statistiken noch genauer an, so findet man, dass die Mehrzahl der „Arbeitnehmer" aus der Industrie - Angestellte waren!
Und wie wird nun ein solcher Fall behandelt? Ist die „Denunziation" erfolgt, so kann der Herr Gewerkschaftssekretär nicht etwa mit der Firma verhandeln. Wozu gäbe es sonst „Arbeitgeberverbände", in denen wiederum Tausende von Faschisten Posten und Pöstchen innehaben? Die müssen doch auch etwas zu tun bekommen. Der Gewerkschaftssekretär wendet sich also zunächst einmal an den zuständigen Verbandssekretär. Und dann geht es los. Dann werden neue Akten angelegt, Forderungen formuliert, auf beiden Seiten Advokaten herangezogen, Gerichte treten in Tätigkeit... Ja, dann gibt es zu tun. Ein ganzer Schwarm von Schreibern, Advokaten, Vertretern, Richtern und weiß Gott, was noch alles, wird in Bewegung gesetzt.
Mit überlegener Miene breitet Herr Scolari alle Einzelheiten dieses großartigen Verfahrens vor mir aus. Und dann soll noch jemand kommen und den Faschismus beschuldigen, er tue nichts für die Arbeiter! Die sechshundert Mann, die den weiten Weg bis zum Provinzsekretär gefunden haben, ernähren mit ihren Denunziationen ein ganzes Heer von faschistischen Angestellten. Da sage noch einer, der Faschismus bekämpfe nicht die Arbeitslosigkeit!
Aber auch um die Löhne kümmert sich die Gewerkschaft. Die Rahmenverträge werden weit ab in Rom geschlossen, wo die höchsten Funktionäre der beiden Seiten schnell eine gemeinsame Sprache finden. Die Punkte Lohn und Arbeitszeit bleiben dabei offen. Sie zu „konkretisieren" ist Aufgabe der lokalen Organisation. Und das geschieht auf folgende sinnige Weise: Die Unternehmer teilen - ich gebe hier, wie überall, wieder, was Herr Scolari mir erzählt hat, und der muss es schließlich wissen - die Mindestlöhne mit, die sie tatsächlich ihren Arbeitern zahlen. Diese Angaben werden dann von den Gewerkschaften als Grundlage für die in den Vertrag aufzunehmenden Minimallöhne genommen, die das Existenzminimum ausdrücken. Ein Unterschied zwischen Existenzminimum und tatsächlich gezahlten Mindestlöhnen kann es ja nicht geben, meint Herr Scolari, denn die Unternehmer können doch nicht weniger zahlen als soviel, dass die Arbeiter davon leben können. „Allerdings bemühen sich die Unternehmer dabei, niedrigere
Löhne anzugeben, als sie wirklich zahlen. Aber das ist schwer nachzuprüfen. Wir haben ja keine Vertretungen in den Fabriken. Eine Nachprüfung kann nur erfolgen durch die Inspektoren des Ministeriums der Korporationen."
Man kann sich vorstellen, wie oft solche Nachprüfungen erfolgen und was dabei aus den „Minimallöhnen" wird. Aber das alles war noch Theorie. Erst zwei Tage später sollte ich ein Stück Praxis erleben.
Es war in Vercelli, der Provinzhauptstadt, die zwischen Turin und Mailand in der Po-Ebene liegt. Wieder besuchte ich den Provinzsekretär der Industriegewerkschaften. Wieder führte man mich durch Korridore und große Säle, bis wir in dem „Kabinett" des Sekretärs, Herrn Uitthemperghe, anlangten. In einer Ecke des großen, mit spiegelndem Parkett ausgelegten Saales saß hinter seinem mächtigen Schreibtisch der Herr Sekretär. Auch er schien eine Fabrik nur vom Hörensagen zu kennen. Aber im Knopfloch des gutgeschnittenen schwarzen Anzuges prangte das faschistische Abzeichen. Und das verleiht ja bekanntlich Allwissenheit.
Herr Uitthemperghe ist noch mehr beschäftigt als sein Turiner Kollege. Er hat wenig Zeit für mich und drückt mir zunächst einen großen schriftlichen Bericht über seine Gewerkschaft in die Hand, aus dem ich alles Nötige entnehmen könne. Während ich zu lesen beginne, hat er wichtige Telefongespräche zu erledigen. Er erkundigt sich nach der Gesundheit der Frau eines unbekannten Mannes am anderen Ende der Strippe, verabredet sich zum Mittagessen mit einem Herrn Advokaten - kurz, er erledigt die dringendsten Gewerkschaftsarbeiten. Diese Beschäftigung dauert an, als man ihm einen Arbeiter meldet. Er braucht eine Weile, bis er Zeit findet, den Besucher eintreten zu lassen.
Ich bin sehr mit der Lektüre meines Materials beschäftigt und achte natürlich nicht auf den Besuch, der ja auch nicht für mich bestimmt ist.
In der Tür am anderen Ende des Saals erscheint eine abgehärmte Gestalt, die schon durch ihr Äußeres die enge Verbundenheit des Mannes mit der Gewerkschaft bezeugt, zu deren Sekretär er kommt. Schüchtern, die Mütze in den Händen drehend, macht der Besucher an der Tür halt. Er sucht mit den Augen „seinen Vertreter".
„Komm nur, komm nur näher", lädt ihn Herr Uitthemperghe leutselig ein.
Langsam nähert sich der Arbeiter. Der Weg über den glänzenden Parkettboden ist weit. Schließlich steht er neben mir vor dem Schreibtisch, immer noch die Mütze in den Händen drehend. „Nur vorwärts, keine Angst", fährt der Herr Sekretär fort, einen Seitenblick auf mich werfend. „So, nun gib mir die Hand! Hier bei uns gibt man sich die Hand!"
Zögernd streckt der Besucher dem feinen Herrn die nicht gerade saubere Hand hin. Aber der Herr fasst sie und schüttelt sie kräftig.
„Nun, mein Lieber, wie steht's, wie geht's?" „Schlecht, schlecht, Herr ..."
„Uitthemperghe, Kamerad Uitthemperghe! - Was führt dich her?"
Eine kleine Pause. Der Arbeiter blickt ein paarmal auf und nieder. Er sucht nach Worten. Aber dann geht es mit einem mal los, in ununterbrochenem Redeschwall:
Seit fünf Monaten ist er arbeitslos. Schon lange bekommt er nichts mehr. Eine Frau und drei Kinder. In der Stadt, auf dem Lande keine Verwandten, keine Bekannten, nichts. Und jetzt, jetzt wird er aus der Wohnung geschmissen. Seit einem Monat hat er keine Miete mehr bezahlt. Der Hausherr weiß, dass von ihm nichts zu holen ist. Heute soll schon alles auf die Straße geschafft werden. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll." „Ja, wo bist du denn eigentlich her?"
„Ich? Aus Biella. Ich habe dort in der Fabrik N. als Wollweber gearbeitet. Bis vor fünf Monaten. Ich habe das schon gesagt: dann bin ich entlassen worden ..."
„Aus Biella? Ja, aber dann musst du dich doch nicht hierher wenden! Hier bist du bei der falschen Adresse. Du hättest erst einmal in Biella ein Protokoll aufnehmen lassen müssen ..." „Das habe ich ja, das heißt, ich war dort schon überall in Biella, die ganzen letzten Tage. Aber da war doch nie jemand da." „Bist du denn beim Kameraden Lazzari gewesen?" „Na ja, aber der ist doch eben nie zu finden."
„Nun, das ist schon möglich. Der hat eben schrecklich viel zu tun. Er hat nicht bloß Biella, sondern auch noch Graglia und Cossato und Mongrando und ..."
„Was kann ich denn dafür? Ich kann doch nicht warten." „Ja, da hilft nichts. An den musst du dich zuerst wenden. Bist umsonst mit der Eisenbahn hergekommen. Ich werde dir hier ein Briefchen an ihn schreiben ..."
„Was soll ich denn mit dem Briefchen machen? Heute soll ich schon 'rausgeworfen werden. Vielleicht steht meine Frau jetzt schon mit den Möbeln auf der Straße. Ich weiß nicht mehr - ich tu irgendwas Schreckliches! So kann ich nicht weiter ..." „Nur die Ruhe, mein Lieber, nur die Ruhe. So schlimm wird es ja nicht gleich sein. Nimm den Zettel, geh zu Lazzari, und er wird schon sehen, wird dir wieder Arbeit verschaffen . . ." „Arbeit? Arbeit? Bei uns werden immer nur noch mehr Leute entlassen."
„Bist du denn nicht im Vermittlungsbüro eingetragen?" „Ja, das sind wir alle. Ich bin schon seit fünf Monaten da. Es werden immer mehr."
„Da heißt's eben warten! Wir werden schon etwas finden. Du wirst sehen, wir verlassen dich nicht! So, und nun fahre schön zurück."
Zögernd macht der Arbeiter kehrt. Noch einmal wendet er sich zurück.
„Aber das sage ich Ihnen: Ich weiß nicht, was ich tue! Und wenn ich irgend etwas anstelle" - er machte eine bezeichnende Geste mit der Hand, die die Mütze hält - „ich hab's Ihnen gesagt!" „Na, so schlimm wird's schon nicht werden, nur mit der Ruhe, mein Lieber, addio."
Uitthemperghe war während dieser Szene aufgestanden. Jetzt
nimmt er gemütlich Platz; er zuckt die Schultern.
Aber ich bin noch nicht mit dem Studium meines Materials fertig,
aus dem ich vorhin so schön - das ganze Gespräch aufgezeichnet
habe!
Ich erfuhr nachher noch, dass die Stimmung bei den Arbeitern in der Provinz, die zu siebzig Prozent in den Gewerkschaften organisiert seien, „ganz ausgezeichnet und diszipliniert" ist. Ja, weiß Gott, das habe ich gesehen. Ich konnte es mir schon denken, als mir am Tage vor die Arbeitslosen in Biella, die dort überall auf den Plätzen herumstehen, ihr Herz ausgeschüttet hatten.
Jetzt hatte ich endgültig die Herrschaft und Harmonie dieses Systems verstanden - aber auch warum das Volk sie so ganz und gar nicht versteht! |
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