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Elfriede Brüning - ... damit du weiterlebst (1949)
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IX.

Die Eisdiele „Zur gelben Baracke", Inhaberin Frieda Steffen, lag eingebettet von den Gärten der Laubenkolonisten an der großen Ausfallstraße nach Tegel. Einige hundert Meter stadteinwärts davon hörte das Großstadtleben vollkommen auf. Wie mit dem Messer abgeschnitten, stand das letzte Haus mit seiner kahlen Brandmauer da. Was jetzt noch kam, war nur noch unbebautes Gelände, Schuttabladeplätze, ein paar bestellte Parzellen, die zu dem großen Fabrikhof gehörten, der sich weiter hinten nach Norden erstreckte. Gegenüber der Eisdiele gab es auf diese Weise nicht einmal die hier üblichen Laubenbewohner. Ein einziger Geräteschuppen stand da, den sich der Fabrikpförtner Harnecker und seine Frau als Notunterkunft eingerichtet hatten, nachdem ihre bisherige Wohnung in der Lychener Straße einem der letzten Luftangriffe auf Berlin zum Opfer gefallen war. Frau Harnecker stand in dem engen Raum, in dem ihre gefetteten Möbel so dicht übereinander gestapelt waren, dass sie sich kaum umdrehen konnte, und richtete das Abendbrot für ihren Mann. Das war auf dem einflammigen Kocher keine Kleinigkeit. Frau Harnecker hatte den Topf mit den Kartoffeln, die durchaus nicht gar werden wollten, direkt auf die Flamme gesetzt und den Topf mit den Schmorgurken obenauf. Sie war etwas nervös. Was Pünktlichkeit anbetraf, verstand ihr Mann keinen Spaß. Wenn er kam, wollte er sein Essen haben, und nicht etwa vom Feuer direkt auf den Tisch, sondern schön abgekühlt, so dass er es sofort hinunterschlingen konnte. Denn er musste gleich wieder weg zum Nachtdienst. Da war er schon. Frau Harnecker hörte Schritte draußen, gleich darauf polterte es gegen die Tür. Sie streckte die Hand aus und schob den Riegel zurück.
Aber draußen stand nicht ihr Erich, sondern zwei fremde Herren. Ein älterer in Mantel und Hut und ein junger in Fliegeruniform. Der Flieger machte gleich einen Schritt auf sie zu; da er aber einzusehen schien, dass sie sich innen unmöglich alle bewegen konnten, blieb er auf der Schwelle stehen.
„Ist das Ihre Wohnung?" fragte er ziemlich barsch.
„Ja - ja", antwortete Frau Harnecker verstört. Sie drehte sich zu ihrem Kocher um, wo gerade in diesem Augenblick das Kartoffelwasser wild zu sprudeln anfing, sie musste den Topf rasch vom Feuer nehmen. Aber jetzt stand sie da, den Topf in der Hand. Sonst goss sie das Wasser draußen ab, vor der Tür, aber sie konnte es doch den Herren nicht vor die Füße gießen. In ihrer Verlegenheit wurde sie rot wie ein Schulmädel.
„Lassen Sie Ihre Töpfe jetzt", sagte der Flieger. „Packen Sie Ihr Essen ein, und machen Sie, dass Sie
wegkommen. Die Bude ist beschlagnahmt." Er schlug seinen Uniformkragen zurück und wies auf die Blechmarke: „Geheime Staatspolizei. Machen Sie kein Aufsehen!"
Frau Harnecker war so perplex, dass sie den rußigen Topf auf das blankpolierte Küchenbüfett stellte. Die Arme sanken ihr kraftlos herab. Sic war eine aufrichtige Nationalsozialistin. Sie hatte immer pünktlich ihren Eintopf entrichtet, und bei der letzten großen Winter-Sammelaktion hatte sie ihre beiden besten Wolldecken für die frierenden Soldaten an der Ostfront hingegeben. Ihr Mann war als Schwerbeschädigter aus dem letzten Weltkrieg leider verhindert, noch mal mit dem Gewehr loszuziehen, wie er es als alter Feldwebel glühend gewünscht hätte, aber er tat auch hier in der Heimat seine Pflicht. So mancher Meckerer war durch seine Umsicht der gerechten Strafe zugeführt worden. In der Partei waren sie alle beide nicht. Genau gesagt, hatten sie jedes Mal den Anschluss verpasst. Aber Erich wirkte in der Arbeitsfront und sie in der NSV. Jetzt waren sie ausgebombt, aber noch kein Wort der Klage war über ihre Lippen gekommen. Erich war gerade dabei, den entstandenen Schaden auf Heller und Pfennig schätzen zu lassen. Seit Tagen kramte er zu diesem Zweck nach alten etwa noch vorhandenen Rechnungen, um sie zu vernichten. Denn man konnte nie wissen, vielleicht kamen sie bei der Schätzung besser weg. Mit der Polizei hatten sie beide selbstverständlich noch nie etwas zu tun gehabt. - Das alles ging Frau Harnecker durch den Kopf, während sie hilflos von einem der Herren zum anderen sah.
„Aber das geht doch nicht", stotterte sie endlich. „Das ist doch hier unser Behelfsheim. Da muss ein Irrtum vorliegen..."
Scharnke war in solchen Fällen rigoros. „Frau!" herrschte er sie an. „Sie werden doch in ganz Berlin eine Menschenseele kennen. Haben Sie keine Verwandten?"
„Doch - meine Schwester in der Swinemünder Straße..."
„Na also! Und jetzt sorgen Sie dafür, dass uns keiner mehr stört. Irgendwelche Ansprüche reichen Sie meiner Dienststelle ein. Und wenn Sie quatschen, sperren wir Sie ein."
„Und wie lange werden Sie - wann können wir wieder---"
„Das werden Sie schon merken", unterbrach Scharnke sie grob. Er winkte Möller an seine Seite. Beide warteten, bis die Frau das Allernötigste in ihre Einkaufstasche gestopft und hastig, unter fortwährendem Kopf schütteln, den Raum verlassen hatte. Möller klinkte die Tür hinter ihr zu. Scharnke hatte einen Schuh abgestreift und kratzte sich den Fuß.
„Mich juckt mein großer Zeh", sagte er. „Ein Zeichen, dass heute noch was fällig ist." Er trat auf Strümpfen ans Fenster und presste sein Gesicht gegen die Scheibe. Draußen lag die eintönige, ausgedörrte, schnurgerade Straße, von der Dämmerung wie von
einer Staubwolke eingehüllt. Eine Straßenbahn kroch soeben vorüber. Dann watschelte Frau Harnecker unterm Fenster vorbei. Nach diesen Sensationen gab es rein nichts mehr zu sehen. Die Eisdiele gegenüber hatte schon geschlossen. In einer halben Stunde würde es stockfinster sein.
„Jetzt noch Alarm", sagte Möller, „dann sitzen wir aufm Proppen."
„Wieso?" fragte Scharnke. „Unsere Vögelchen sitzen sicher. Oder haben Sie Angst, dass die Engländer ihre Eier ausgerechnet denen ins Nest legen? Das wäre fatal. Meine Jüd'sche möchte ich gern selber zum Tode befördern."
„Ich die andern nicht minder." Möller trat in den Schatten des Raumes zurück und zündete sich hinter der vorgehaltenen Hand eine Zigarette an. Es war schon Verdunkelungszeit, aber natürlich konnten sie den Vorhang nicht herunterlassen. Die glimmende Zigarette hinter der Hand verborgen, trat er wieder neben den Untersturmführer. Der drehte sich halb zu ihm um. „So? Kennen Sie die Schweine? Schon im Verbrecheralbum verzeichnet?"
„Das reine Kommunistenpack", nickte Möller. „Die Alten nach 18 natürlich USPD, Anhänger Karl Liebknechts, der polnischen Jüdin Rosa Luxemburg und so weiter. Gegen den Sohn lief schon mit siebzehn Jahren von uns der erste Haftbefehl. Später Jugendgericht, KZ... 1934 zu einem Jahr Plötze verknackt. Verbreitung von Hetzschriften und so weiter. Ich fress' 'nen Besen, wenn der nicht dicke in die Sache verwickelt ist. Der ganze Laden ist natürlich nur blanke Tarnung."
Scharnke nickte. Darin hatte er recht. Nur ein hirnverbrannter Idiot würde sich sonst mit seinem Eisladen in diese gottverlassene Gegend setzen. Und kein Eisladen, der wirklich einer war, machte abends Schlag sieben Uhr zu wie ein Milchgeschäft. In diesem Punkt stimmte er mit Möller überein. Aber sonst - den gro­ßen Coup mit dem Geheimsender würde er schon selber landen, und zwar bei seiner Charlotte Sarah. Er hatte bis jetzt nur noch nicht zugepackt, weil er die ganze Mischpoke auf einen Schlag fangen wollte. Wer weiß, wer an seiner Sarah noch alles hing. Aber die ganze Zeit über feixte er schon bei der Vorstellung, was für ein Gesicht die Jüd'sche aufsetzen würde, wenn er sich ihr zu erkennen gab.
Er zog eine Flasche aus seiner Hosentasche und nahm einen kräftigen Schluck. Dann knallte er die Flasche auf den Tisch.
„Vorschußlorbeeren", lachte er. „Komm her, Otto - um den Rest wird geknobelt." In einer seiner seltenen Anwandlungen von Kameradschaftlichkeit ließ er sich zuweilen dazu herab, den viel älteren Kommissar zu duzen und beim Vornamen zu nennen. Selbstverständlich setzte er voraus, dass der andere umgekehrt derartige Vertraulichkeiten vermied und jene natürliche Distanz, die zwischen einem Kriminalkommissar alter Schule und einem SS-Untersturmführer mit dem Rang eines Kriminalrates gegeben war, zu wahren verstand. Beide hockten sich jetzt auf die Tischkante. Und während sie albern wie zwei große Jungen um den Kognak würfelten, hielten sie dabei ständig mit einem Auge die gelbe Baracke „unter Beschuss", wie Scharnke sich ausdrückte; und wie zwei Jäger, die auf Anstand liegen, warteten sie auf das heraustretende Wild, dessen Beute sie sich absolut sicher waren.
Um halb neun Uhr verließ Hilde Steffen das Häuschen ihrer Schwiegermutter, in dem sie ein paar Worte mit Lotte Burkhardt gewechselt hatte, und trat auf die Straße hinaus. In derselben Sekunde griff Möller nach seinem Hut...
Sie ging in Richtung Norden, auf Tegel zu. Nach den ersten hundert Metern war es Möller klar, dass er eine gewiegte Illegale vor sich hatte, die keine der erprobten Vorsichtsmaßregeln außer acht ließ. Von Zeit zu Zeit blieb sie unter irgendeinem Vorwand stehen, um die Straße vorsichtig zu überblicken. Dann wieder schlug sie Haken in der offensichtlichen Absicht, einen vermeintlichen Verfolger irrezuführen. Dabei war sie sich der akuten Gefahr offenbar gar nicht bewusst. Möller grinste in sich hinein. So leicht war er nicht abzuschütteln. Er war bekannt dafür, dass er, einmal auf die richtige Spur gesetzt, wie eine Klette an seinem Opfer hing. Fast gelangweilt ging er weiter hinter ihr her. Dabei tastete er sie schamlos mit den Blicken ab. Was in solcher Frau wohl vorgehen mochte. Sie erwartete ein Kind - und gab sich mit solchen Dummheiten ab. Machte sich unnötig das Leben schwer Möller war kein Nazi, aber er war im Polizeidienst ergraut, und die Polizei war dazu da, um den Staat zu schützen. Also schützte er auch den nationalsozialistischen Staat. 1937 hatte man ihn übrigens endgültig vor die Alternative gestellt: in die Partei einzutreten und endlich zu avancieren - oder sich weiter die jungen Dachse aus der SS über den Kopf wachsen zu lassen. Natürlich hatte er nicht eingesehen, weshalb er sich durchaus seinem Glück widersetzen sollte. Zugegeben, manches hatte ihm im Anfang nicht an den Nazis gepasst. Aber er neigte immer dazu, denen recht zu geben, die den Erfolg für sich buchen konnten. Nur Dummköpfe und Marxisten, was in Möllers Augen dasselbe war, hielten stur an ihrer einmal gefassten Meinung fest.
Jetzt musste er sich aber zusammenreißen! Um ein Haar wäre ihm sein Opfer entwischt. Die Frau war in einem Hauseingang verschwunden. In der Annahme, sie hätte ihr Ziel erreicht, war Möller bewusst einige Sekunden zurückgeblieben - plötzlich sah er, dass er eins der in Berlin recht häufigen Durchgangshäuser vor sich hatte. Es war sogar ein besonders tückisches Haus. Es führte einmal, die Ecke abschneidend, auf die große Hauptstraße, dann aber auch, über den zweiten Hinterhof, auf eine Nebenstraße. Möller hatte den Stadtplan genau im Kopf, im Amt hatten sie alle Durchgänge darauf mit Fähnchen besteckt. Trotzdem blieb er mitten auf dem Hof ziemlich ratlos stehen. Wohin konnte die Frau sich gewandt haben? Er entschloss sich endlich doch für die Hauptstraße. Wenn er sich in Trab setzte und die Hauptstraße bis zur Kreuzung hinauflief, musste die Frau auf jeden Fall an ihm vorbei. Denn er nahm nicht an, dass sie wirklich in die Nebenstraße wollte. Wenn überhaupt, hatte sie den Durchgang dorthin nur zur Tarnung benutzt. Da war sie übrigens schon. In den Winkel eines weit zurückspringenden Hauseingangs gedrückt, sah er sie direkt auf sich zukommen. Aber sie bemerkte ihn nicht. Er selbst sah - im matten Aufflammen eines verdunkelten Scheinwerfers, der vorüberglitt - für den Bruchteil einer Sekunde ihr Gesicht. Ein Gesicht, das er nicht mehr vergessen würde. Dunkle, etwas schräg gestellte Augen mit buschigen Augenbrauen, große gerade Nase, ein kräftiges Kinn. Das Ganze besessen von einer fast männlichen Energie.
Er nahm die Verfolgung wieder auf. Plötzlich blieb sie stehen. Ein vierstöckiges Mietshaus; im Parterre gab es zwei Läden, undefinierbaren Charakters, da die Rollläden heruntergelassen waren. Möller blieb auf der gegenüberliegenden Seite und äugte scharf hinüber. Fest stand, die Frau kannte das Haus nicht. Sie tastete die Haustür nach der Klinke ab, und als sie drinnen war, dauerte es eine geraume Weile, bis sie den Schalter für die Beleuchtung gefunden hatte; erst nach einer Weile fiel das Licht mit einem schmalen Streifen quer über die Straße. Möller stellte eine nüchterne Berechnung an. Das Vorderhaus beherbergte schätzungsweise zehn Familien. Dank der allgemein sehr mangelhaften Verdunkelungstechnik lag das häusliche Leben dieser zehn Familien offen vor ihm: in jedem Stockwerk sah man - auf der rechten Seite sowohl wie auf der linken - aus je einem Zimmer Licht durch das Fenster fallen. Möller dachte nun, dass in der Wohnung, in der die Besucherin erscheinen würde, sich wahrscheinlich noch ein zweiter Raum erhellen müsste. Mit Spannung wartete er auf die geringste Veränderung. Wirklich flammte plötzlich im Parterre noch ein zweites Licht auf, das jedoch sofort, da der Raum nicht verdunkelt war, wieder ausgelöscht wurde. Möller pfiff durch die Zähne. Er fühlte auf der Haut ein Prickeln - das Fieber eines alten Jagdhundes hatte ihn wieder gepackt. Es dauerte nicht lange, da öffnete sich die Haustür von neuem und schloss sich rasch. Die Frau trat wieder auf die Straße.
Möller ließ sie laufen. Er trat jetzt selbst in den Flur und studierte das Namensschild im Parterre links. Hedwig Reimann, Witwe - las er. Er überlegte, ob er klingeln sollte, dann ließ er es. Für gewisse Seelen wirkte eine Vorladung immer massiver. Aber er konnte sich noch nicht entschließen fortzugehen. Eine Weile starrte er wie fasziniert auf das stumme Haus, als erwarte er, dass es doch noch den Mund auftue. Dann kam eine größere Gesellschaft die Treppe herunter, verabschiedete sich draußen lärmend:
„Also, Kinder - bleibt übrig!"
„Ja, wann sehen wir uns?"
„Um fünf nach dem Endsieg!"
Die Straße hallte wider von ihrem Gelächter. Der Hausherr schloss sorgfältig die Tür ab. Er war kaum wieder fort, als ein junges Mädchen über die Straße kam und auf die Haustür zuging. Es war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt und trug ein Paket unterm Arm. Als es die Tür verschlossen fand, wandte es sich hilfesuchend um - und erblickte Möller.
„Gehören Sie hier ins Haus?" fragte sie.
„Habe leider keinen Schlüssel", sagte Möller zweideutig.
„Zu wem wollen Sie denn?"
Aber das junge Mädchen war die zwei Stufen, die zur Tür führten, schon wieder hinabgesprungen und klopfte im Parterre an das Fenster. Es war das Fenster von Frau Reimann. Aber sie schien nicht zu hören.
„Die gute Frau wird schon schlafen", sagte Möller, um ins Gespräch zu kommen.
„Ach wo, sie wartet ja auf mich", sagte das Mädchen. „Ich bringe ihr das Trauerkleid. Die Chefin ist eben erst damit fertig geworden. Und Frau Reimann braucht es doch morgen - morgen ist die Trauerfeier für ihren Sohn..."
Jetzt öffnete sich das Fenster im Parterre endlich. In dem dunklen Viereck erschien ein faustgroßer heller Fleck - Frau Reimanns Gesicht. Sie beugte sich weit hinaus, strengte sich augenscheinlich an, in dem Dunkel irgend etwas zu sehen.
„Ach, du bist es, Renate", sagte sie endlich. Sie winkte das junge Mädchen hastig näher heran. „Hör mal, Kind. Nimm mal alles ruhig wieder mit nach Hause. Ich brauche es nicht mehr." Sie beugte sich noch weiter aus dem Fenster, fasste mit beiden Händen die Schultern des Mädchens. „Robertchen ist gar nicht tot", flüsterte sie. „Er ist in Gefangenschaft. Ich habe soeben die Nachricht erhalten..." Sie ließ das Mädchen wieder los. „Geh mal nach Hause", sagte sie wieder ruhiger. „Ich komme morgen bei der Chefin vorbei. Dann erzähle ich ihr alles selbst."
Sie wartete, bis das junge Mädchen sich zum Gehen wandte, dann wollte sie das Fenster wieder schließen. In diesem Augenblick trat Möller näher heran und schob seinen Arm über das Fensterbrett. „Ach - auf ein Wort noch, Frau Reimann", sagte er gemütlich. Die alte Frau schrak heftig zusammen. Sie legte die Hände auf die Brust, als fiele es ihr plötzlich schwer, zu atmen. „Bitte", sagte sie spröde.
„Frau Reimann", begann Möller und legte jetzt auch den zweiten Arm auf das Fensterbrett, „ich glaube, wir unterhalten uns in Ihrem eigenen Interesse lieber drinnen. Manchmal ist es nicht angebracht, unfreiwillige Zeugen zu haben..."
„Ach so, ja - wenn Sie meinen..."
Sie führte ihn verwirrt in ihr Schlafzimmer, merkte erst, als sie drinnen waren, den Irrtum und bat ihn nun errötend in die „gute Stube". Möller schob das Zierdeckchen vom Sofa beiseite und setzte sich. Er zog ein Blatt Papier hervor und schraubte die Kuppe vom Füllfederhalter.
„Wir können ganz rasch machen, Frau Reimann", sagte er. „Ich sehe, Sie sind müde. Wir wollen nur schnell zu Protokoll nehmen, was Sie soeben dem jungen Mädchen erzählt haben. Also Ihr Sohn ist in Gefangenschaft. Sie haben die Nachricht von der jungen Frau, die Sie vor einer knappen halben Stunde aufgesucht hat - nicht wahr?"
Die alte Frau fing an zu zittern. Ihre Lippen wurden so weiß wie ihr Haar. „Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden", stammelte sie. „Wer sind Sie überhaupt? Was wollen Sie?"
Möller schlug gelangweilt seinen Kragen hoch. „Geheime Staatspolizei - das braucht Sie aber nicht zu ängstigen, liebe Frau, sofern Sie vernünftig sind. Das Leugnen hilft Ihnen übrigens gar nichts. Ich habe das Weib zu Ihnen hineingehen sehen. Wollen Sie mir jetzt mal Wort für Wort schildern, was es Ihnen gesagt hat?"
„Ja", nickte die Frau gehorsam. Sie war wie ein Kind, das Schelte bekommen hat und jetzt verspricht, immer folgsam zu sein. „Also, sie hat gesagt, ich soll mir keine Sorgen machen. Robertchen ist in Russland, hat sie gesagt. Es geht ihm gut..."
„Und das glauben Sie auch noch - dass es ihm bei den Bolschewiken gut geht?" fragte Möller drohend. „Sehen Sie denn nicht, dass Sie einer ganz Gefährlichen auf den Leim gekrochen sind?" Er sah plötzlich, dass die alte Frau auf ihren Beinen schwankte und fügte milder hinzu: „Haben Sie sich gar keine Gedanken darüber gemacht, woher das Weib seine Weisheit hat?" Frau Reimann schwieg. „Aus'm Feindsender hat sie's, und das wissen Sie auch. Sie machen sich strafbar, wenn Sie so was nicht melden. Ist Ihnen das nicht bekannt?"
Die alte Frau brach plötzlich in Schluchzen aus. „Ich weiß doch gar nichts", jammerte sie. „Ich kenne die Frau nicht. Ich weiß noch nicht mal ihren Namen... "
„Den wissen wir selber", sagte Möller gleichmütig. Er schob ihr das Blatt Papier, das er emsig beschrieben hatte, über den Tisch hinweg zu. „Nun unterschreiben Sie mal - dann ist der Fall erledigt."
Zufrieden steckte er das Blatt Papier wieder ein -das belastende Protokoll, mit dem er die Frau fest in der Hand hatte. Wenn die schon ihren Kopf verspielte, was würde dann erst der Kerl auf dem Kerbholz haben... Er griff nach seinem Hut.
„Und Robertchen?" fragte Frau Reimann in seinem Rücken. „Ist es wahr, dass Robertchen in Gefangenschaft ist? Sagen Sie doch, dass das wenigstens wahr ist..." Etwas in der Stimme der alten Frau bewegte Möller, sich noch einmal nach ihr umzudrehen. Sekundenlang zögerte er. Er hatte selbst einen Sohn draußen, allerdings in der Etappe. Aber wo lag da heute schon der Unterschied? Die Flugzeuge bepflasterten das Hinterland genauso wie die Front,
und auf alle Fälle - ihm wäre wohler, wenn sein Junge erst wieder heil zu Hause säße. Aber ob er ihm wünschen möchte, in die Hände der Bolschewiken zu fallen? Hatte diese Alte denn noch nichts von den Gräueln gehört, die die Untermenschen an wehrlosen Soldaten verübten? Er drehte sich brüsk wieder weg. Seien Sie froh, wenn er tot ist", sagte er nur, und es war die mal wirklich nicht so roh gemeint, wie es klang.
Als er auf die Straße trat, heulten gerade die Sirenen los. Er sah sich unschlüssig um. Sollte er es wagen, noch bis zum Schuppen zurückzulaufen? Aber er hatte es gar nicht so eilig, dem Scharnke wieder unter die Augen zu treten. Dass er Erfolg gehabt hatte, konnte er ihm auch später noch sagen. Vergnügt vor sich hin pfeifend ging er in den erstbesten Luftschutzkeller.

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