VIII.
Hans und Hilde Steffen waren nur eine Woche lang mit ihrem Boot auf den mecklenburgischen Seen um hergefahren. Dann waren sie wieder nach Hause zurückgekehrt. Die Nachrichten, die sie inzwischen erhalten hatten, klangen unterschiedlich. Eins war jedoch aus allem klar zu entnehmen: Sie selbst wurden nicht gesucht. Die Gestapo schien sich darauf zu beschränken, alles zu verhaften, was in Herbert Buschs unmittelbarer Nähe gearbeitet hatte - also vor allem die Angehörigen der illegalen Siemens-Gruppe. Das war schmerzlich genug und bedeutete im Augenblick die Zerschlagung der ganzen illegalen Organisation von Berlin-Nord. Das Unheimliche dabei war, dass man noch immer nicht wusste, auf welche Weise die Gestapo von der ganzen Sache Wind bekommen hatte. In Amsterdam war der Kurier bis heute nicht eingetroffen. War er geschnappt worden, oder handelte es sich bei ihm um einen dieser unzuverlässigen Burschen, die im entscheidenden Moment Angst vor der eigenen Courage bekamen und einfach schlapp machten? Auch damit musste man rechnen; die Menschen, auf die man Jetzt manchmal zurückgreifen musste, waren nicht immer die besten. Aber niemand wusste Näheres; niemand ahnte überhaupt, wer das letzte Mal den Kurierdienst übernommen hatte. Karl Röttgers, der einzige, der es wissen musste, war seit Herbert Buschs Verhaftung aus seiner Wohnung verschwunden. Anscheinend hatte er es klüger gefunden, eine Zeitlang unterzutauchen. Sicher war also nur eins: Hans konnte mit seiner Frau unbesorgt nach Hause zurückkehren und, soweit es ging, die Arbeit fortsetzen. Alles andere musste man auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.
Hilde Steffen stand an diesem Septemberabend in dem kleinen Garten vor ihrer Laube, einen Strauß Astern im Arm, den sie soeben gebunden hatte. Eigentlich hatte sie noch im Garten arbeiten wollen. Sie war die einzige in der Familie, die manchmal Zeit dafür fand. Mutter Steffen stand von früh bis spät in der Eisdiele, und Hans... Hilde lächelte still vor sich hin. Es war einfach unmöglich, sich Hans in Hemdsärmeln mit Hacke und Spaten vorzustellen. Zum Hausvater hatte er nun mal kein Talent, er lebte nur für die politische Arbeit. Für das Glück der anderen, sagte Hilde immer; die Sorge um das eigene Wohlergehen überließ er ihr. Aber sie war es so zufrieden. In der letzten Zeit hatte sie jedoch manches, was mit der Führung ihres kleinen Hauswesens zusammenhing, besonders die Pflege des Gartens, vernachlässigen müssen. Es fiel ihr bereits schwer, sich zu bücken, und die große Gießkanne konnte sie schon lange nicht mehr schleppen. Sie ging langsam weiter, am offenen Fenster vorbei. Drinnen saß Hans über dem Text für die nächste Sendung. Hilde hätte ihm helfen sollen - aber sie konnte sich so schwer heute Abend hier losreißen. Es war mild wie im Hochsommer, nur die frühe Dunkelheit zeigte an, dass der Herbst nicht mehr fern war.
Eben kam Hans' Mutter den Pfad entlang. Es musste also schon sieben Uhr vorbei sein, eher verließ sie den Laden nicht. Sie trug Bücher im Arm, die sie, mit einem gemütlichen Nicken zu Hilde hinüber, gleich an ihr vorbei ins Haus tragen wollte. Aber Hilde hielt sie zurück. Sie legte den Finger an die Lippen. „Da wird gearbeitet", flüsterte sie.
Sie war immer bemüht, ihre Schwiegermutter soviel wie möglich von der aktiven Arbeit fernzuhalten. Das war nicht leicht, denn Frieda Steffen strotzte vor Aktivität und hätte es am liebsten gehabt, drei Aufträge auf einmal zu bekommen. Und sicher hätte sie alles zur vollsten Zufriedenheit ausgeführt. Wenn es galt, einen Verbindungsmann auf der Straße zu treffen und ihm irgendeine Botschaft zu überbringen, war tatsächlich niemand als Mutter Steffen geeigneter, die mit ihrer Markttasche vor dem verabredeten Platz auf und ab ging und in der Art alter Weiber ihre Formel wie im Selbstgespräch vor sich hin flüsterte. Auch für viele andere Arbeiten war sie unentbehrlich. Sie hielt musterhaft die Kasse der illegalen Gruppe in Ordnung, und ohne ihren Beistand in manchen organisatorischen Fragen wäre eine fruchtbringende Tätigkeit einfach unmöglich gewesen. Das alles erkannte Hilde durchaus an. Aber weshalb sollte sich die Mutter, wie hier, unnötig mit Wissen belasten, das ihr eines Tages nur gefährlich werden konnte? Niemand durfte mehr erfahren, als unbedingt nötig war; darin war Hilde ganz konsequent. Aber sie befand sich da in stetem Widerspruch mit der Schwiegermutter, die zu fürchten schien, man hege Misstrauen gegen sie. Auch jetzt war sie ein wenig beleidigt. Hilde fasste sie schnell um die Hüften und zog sie neben sich auf die Bank. „Komm, Mutter, die Bücher kannst du auch bei mir lassen. Du kriegst dafür die Astern."
Sie legte ihr die Blumen in den Schoß, aber die alte Frau wehrte ab. „Lass man, lass man, Hildchen, die Astern gehören euch. Du hast sie doch gehegt und gepflegt, da sollt ihr euch auch selber dran freuen..."
Sie blickte sich anerkennend um. Wirklich zeugte alles hier im Umkreis von Hildes Fleiß. Mit eigenen Händen hatte sie die frühere Steinwüste urbar gemacht, alles ohne fremde Hilfe und nach eigenem Geschmack angelegt: das kleine Blumenrondell am Eingang, die Fliederhecke, die Rosenstöcke, die vom Frühsommer an bis in den November hinein blühten und denen immer Hildes besondere Sorgfalt gegolten hatte. Überhaupt gedieh ihr alles unter den Händen. Es war, als wollte sich der karge Boden für die besondere Mühe, die Hilde auf ihn verwendete, erkenntlich zeigen. Hilde war unter dem Lob der Schwiegermutter errötet. Sie folgte ihrem Blick über den Garten hin - alle Bäume standen noch in sattem Grün, das Obst reifte, über den braunen Zaun hinweg leuchteten die Sonnenblumen... Aber Hilde war es, als spüre sie in allem schon den nahenden Herbst. Die Sonne, obwohl noch klar und brennend, erschien ihr doch schon ohne die rechte Kraft; die ersten Altweibersommerfäden spannen sich von Baum zu Baum; in dem tiefblauen Himmel, der keine Wolke zeigte, kreiste ein Storchenschwarm - Vorboten des Vogelzugs. Hilde drängten sich diese ersten untrüglichen Zeichen des vergehenden Sommers beinahe schmerzhaft auf. Sie empfand Trauer wie über den Verlust von etwas Unwiederbringlichem - aber dieses Unwiederbringliche schien mehr zu sein als nur ein paar kurze Sommerwochen. Vielleicht war es ihr ganzes schönes, harmonisches, erfülltes Zusammenleben mit Hans, das von den Schatten eines unvermeidbaren Schicksals bedroht war - genau wie dieser Sommertag vom nahenden Herbst. In einer plötzlichen düsteren Ahnung, die sie nicht abschütteln konnte, wandte sie sich zu der Mutter um, griff nach ihrer harten, verarbeiteten Hand.
„Du musst Hänschen später mal alles erzählen, Mutter. Wie mir alles hier sauer geworden ist... Und dass ihr mir die Rosenstöcke nicht vernachlässigt..."
Für Hilde war es ganz selbstverständlich, dass ihr kommendes Kind ein Hans sein würde. In ihren Vorstellungen hatte es schon feste Gestalt angenommen; es glich haargenau den Kinderbildern, die sie von ihrem Mann gesehen hatte. Hans dagegen träumte von einer kleinen Hilde. Beide sahen in dem kommenden Kind gleichsam einer Wiedergeburt des geliebten Partners entgegen - dem Kind auch eigene Züge beizumessen, fiel keinem von beiden ein. Frau Steffen war die Art, mit der Hilde von ihrem Kinde sprach, nicht mehr fremd. Aber jetzt sah sie bei Hildes Worten unwillig auf.
„Was redest du denn da, Hilde - was ist denn in dich gefahren? Bis jetzt ist doch alles gut gegangen..." Sie sah die Schwiegertochter missbilligend an, schüttelte heftig den Kopf. „Ich will dir mal was sagen, Hilde. Du grübelst zuviel. Dein Mann arbeitet drinnen, sagst du? Na also, weshalb bist du nicht längst dabei? Weshalb sitzt du hier und klönst mit mir altem Weib? Wo unsere Männer arbeiten, gehören auch wir Frauen hin - sonst machen die Männer nämlich Mist, verstehst du? Und wenn du jetzt nicht sofort deinem Mann drinnen hilfst, dann gehe ich - und wenn du zehnmal dagegen bist."
Sie schwieg und wischte sich den Schweiß von der Stirn, sie hatte sich warm geredet. Natürlich war es übertrieben, wenn sie Hilde Gleichgültigkeit und mangelndes Interesse für die Arbeit vorwarf. Sie wusste besser als jeder andere, dass dies bei Hilde nicht zutraf. Aber nur durch Übertreibungen war dem Mädel anscheinend beizukommen. Frieda Steffen stand lange genug in der illegalen Bewegung. Sie kannte die zersetzende Kraft solcher Stimmungen, von denen Hilde heute befallen war; jeder Genosse hatte wohl ähnliches an sich selber erlebt. Man musste aber gegen diese Zweifel energisch angehen. Und Hilde hatte wirklich keinen Grund zur übertriebenen Sorge. Die übliche Vorsicht war natürlich geboten, das selbstverständliche Gefasstsein auf den möglichen Tag X, an dem es etwa einmal schief gehen würde. Aber jeder illegale Arbeiter hoffte, diesen Tag nie zu erleben - ohne diese Hoffnung war er nämlich nicht mehr fähig zum Handeln. Und gerade das war es, was Frieda Steffen im Hinblick auf Hilde befürchtete.
Hilde hatte ihre trüben Gedanken gewaltsam zurückgedrängt. Sie stand schwerfällig auf, wie es ihr Zustand jetzt schon mit sich brachte, und schüttelte ihr Haar. „Du hast recht, Mutter", sagte sie. „Wer wirklich etwas tut, kommt nicht auf so verrückte Gedanken." Sie ging mit ihren großen langsamen Schritten, die sie sich in letzter Zeit angewöhnt hatte, ins Haus zurück.
Hans saß am Radio, als Hilde eintrat; er hörte Moskau. Dabei hatte er Papier und Bleistift vor sich auf den Knien und notierte die Adressen von Soldaten, die sich in Kriegsgefangenschaft befanden. Das war eigentlich Hildes Arbeit. Aber als sie zu ihm trat, um ihn abzulösen, winkte er stumm ab. Er zog ihr mit der freien Hand einen Stuhl heran und reichte ihr das fertige Flugblatt. „Hier, lies erst mal, das ist jetzt wichtiger. Ich schreibe schon allein weiter..."
Hilde glättete den Zettel und fing an zu lesen. Es war ein Text üblichen Inhalts, wie Hans ihn schon dutzendfach unter Lebensgefahr durch den Äther geschickt hatte. An Hand von nüchternen Zahlen bewies er, dass die Feindmächte sich erst am Anfang ihrer Anstrengungen befanden, die sie aufbringen mussten um den Krieg zu gewinnen - dass Hitler dagegen schon die Puste ausging. Alles war richtig, was Hans hier schrieb: angefangen mit dem Hinweis auf Stalingrad, wo die Front in verbissenem Meter-um-Meter-Kampf zu erstarren drohte, bis auf die Feststellung, dass es der deutschen Luftwaffe nicht gelungen war, den Luftraum zu beherrschen. Hilde wusste das alles selbst. Wenn sie es nicht schon wüsste, hätte das Flugblatt sie kaum überzeugen können. Das Ganze kam ihr vor wie eine Formel, deren Richtigkeit nur Mathematikern erkennbar ist. Der Text sollte aber nicht für Wissenschaftler geschrieben sein, sondern für Frauen, die es aus ihrer Passivität aufzurütteln galt. Hilde musste lächeln, als sie sich die Worte ihrer Schwiegermutter ins Gedächtnis rief: Die Männer machen Mist, wenn keine Frau dabei ist. Die alte Frau traf mit ihrem gesunden Menschenverstand meist den Nagel auf den Kopf. Auch Hans war ein Mann, der sich in die Gefühlswelt einer Frau schwer hineindenken konnte. Er wollte ihnen immer mit Logik beikommen. Mit Logik war es aber völlig unmöglich, die Frauen von 1942 zu packen, die in ihren Männern nur die Sieger sahen, die schon tief im Feindesland standen, die sich von ihnen Pelze aus Norwegen schicken ließen, Kaffee und Tee aus Holland, seidene Wäsche aus Paris und aus Dänemark Butter, Eier und Speck. - Sie ließ das Flugblatt sinken. Hans hatte das Radio abgeschaltet und trat neben sie. „Nun?" fragte er erwartungsvoll.
Hilde setzte ihm ihre Bedenken auseinander. Um die Frauen, auf die es ankam, anzurühren, genügte es nicht, knapp und sachlich zu bleiben. Hier musste er viel menschlicher werden, musste die Leiden, die ein verlorener Krieg mit sich brachte, in allen grausigen Einzelheiten anschaulich schildern. Etwa so... Während sie selbst anfing zu formulieren, blickte Hans auf sie hinunter. Er dachte an die Jahre zurück, die sie nun schon miteinander verbracht hatten. Immer war ihm Hilde eine tapfere Gefährtin gewesen. Sie hatte ihm bei seinen Sendungen zur Seite gestanden, hatte Flugblätter, bei deren Abfassung sie ihm immer geholfen hatte, auf der Maschine getippt und, wenn es darauf ankam, auch selbst in die Betriebe geschmuggelt. Bei all diesen Arbeiten, die sie mit großer Genauigkeit ausführte, hatte sie stets eine heitere Zuversicht an den Tag gelegt. Immer hatte sie eine Sicherheit ausgestrahlt, wie sie nur das Bewusstsein verleihen kann, für eine gute und gerechte Sache zu kämpfen. Und doch war sie gerade in letzter Zeit, wohl hervorgerufen durch ihren Zustand, manchmal von Bedenken befallen worden. Sie zweifelte an dem Erfolg ihrer gemeinsamen Arbeit. Es hatte eine heftige Aussprache hierüber zwischen ihnen gegeben. Hans begriff nicht, wie man illegal arbeiten konnte, wenn man die Sache anzweifelte, für die man sein Leben einsetzte. Hilde hatte ihn nur lächelnd angesehen. „Ich
tue es, Hans", sagte sie einfach, „weil du es doch auch tust. Natürlich lasse ich dich nicht im Stich."
Zum ersten Mal hatte er ihr fast barsch widersprochen. „Du bist kein Naziweibchen, Hilde, sondern eine denkende Frau. Und von solch einer Frau, besonders von meiner Frau, verlange ich, dass sie selber weiß, was sie tun oder lassen muss. Wenn du mir sagst, du machst nur mit aus Liebe zu mir, so ist das eine ungeheure Verantwortung, die du mir damit auferlegst. Vielleicht geht es eines Tages schief, und sie schnappen uns - dann habe ich dein Leben mit verwirkt, bloß weil du mich liebst. Nein, Hilde, so geht es nicht. Hier ist ein Punkt, da muss jeder mit sich selbst zu Rate gehen. Da muss sich jeder selber fragen: Lohnt es sich für mich, dieser Sache wegen den Kopf zu riskieren? Oder noch besser: Kann ich überhaupt leben, ohne für diese Sache zu kämpfen?"
Hilde hatte seine Hand genommen und ruhig auf ihren Leib gelegt. „Hans, du glaubst doch nicht, dass ich es vor dem da verantworten kann, mein Leben leichtsinnig wegzuwerfen... Vielleicht werde ich das Kind eines Tages um unserer Sache willen opfern müssen. Unser Leben ist ein gefährliches - da lauert die Gestapo... Trotzdem will ich weiterarbeiten. Weil ich fühle, dass ich einfach nicht anders kann."
„Aber niemand kann arbeiten, ohne an den Erfolg zu glauben. Das ist widersinnig."
Hilde hob die Schultern und ließ sie langsam wieder sinken. „Ich muss so leben, weil ich es so für richtig halte. Wir hassen beide den Krieg und wollen den Frieden - also müssen wir unsere Regierung bekämpfen, denn sie trägt die Schuld an diesem Krieg. Wenn ich trotzdem manchmal bezweifle, dass wir, so ganz auf uns allein gestellt, ohne Hilfe vom Ausland ans Ziel kommen werden, steht das meiner Meinung nach auf einem ganz anderen Blatt."
„Nein, Hilde. Wir sind ja schließlich keine Einzelgänger. Wir sind ein Teil eines großen Ganzen. Du weißt, dass wir immer wieder versuchen, auf die Arbeiter in den Betrieben, auf die Soldaten, auf die ausländischen Zwangsarbeiter Einfluss zu gewinnen - unser Ziel ist der Aufstand des ganzen Volkes. Wenn ich je an der Revolution, die wir vorbereiten, zweifeln würde, käme mir ein Leben, wie wir es führen, sinnlos vor."
Hilde schüttelte den Kopf. „Sinnlos kann es nie sein", sagte sie, indem sie sich rückwärts auf die Tischplatte stützte. „Sie können unsere Besten verhaften, sie können ihnen die Köpfe abschlagen. Sie können die Früchte unserer Arbeit immer wieder vernichten, solange sie die Macht haben. Sie können uns verfolgen und foltern und in die Gefängnisse schleppen, alle, bis auf den letzten Mann, solange man ihnen Zeit dazu lässt - und wir werden vielleicht gar nichts erreichen. Trotzdem wird unser Kampf niemals sinnlos gewesen sein." Sie legte beide Hände um ihren Leib, als ob sie das Kind, das sich innen regte, so umspannen wollte. „Die nach uns kommen", sagte sie beinahe feierlich, „werden eines Tages von uns Rechenschaft fordern. Vor ihnen müssen wir bestehen können. Wenn unser Kind von uns wissen will, ob wir an der Barbarei dieser Zeit teilgehabt haben, dann können wir ihm klar in die Augen sehen und ihm ohne zu erröten sagen: Wir haben unsere Pflicht getan. Wir sind uns selber treu geblieben. Deshalb arbeite ich illegal, Hans. Und deshalb kann es nicht sinnlos sein, was wir tun."
Hans musste an diese Aussprache denken, als er jetzt auf Hilde hinuntersah. Das anfängliche Befremden, das ihn damals ergriffen hatte, war inzwischen einer womöglich noch größeren Liebe gewichen, denn Hans verstand, dass Hilde jetzt in erster Linie als Mutter empfand, die von dem Gedanken beherrscht war, dem kommenden Kind Vorbild zu sein. Der selbstverständlichen Forderung, die er für sich erhob: für eine als erstrebenswert erkannte Idee zu kämpfen und für ihre Verwirklichung notfalls das Leben zu lassen, fügte Hilde eine neue, noch härtere hinzu: künftigen Generationen den Kampf vorzuleben. Dabei war es nicht einmal entscheidend für sie, ob sie selbst den Erfolg dessen, wofür sie kämpfte, noch sehen würde.
Sie hatte die damalige Depression übrigens rasch überwunden, wie es für einen so klar denkenden Menschen wie Hilde zu erwarten war. Schon am nächsten Tag war sie heiter wie sonst und schien sich ihres Pessimismus vom vergangenen Tage sogar ein wenig zu schämen. „Es ist der Zustand", sagte sie wie zur Erklärung.
Soeben hatte sie ihre Korrekturen beendet und reichte Hans das Flugblatt zurück. „So, ich denke, jetzt ist es besser." Sie stand rasch wieder auf. „Hast du die Adressen? Sind Berliner dabei?" fragte sie und griff nach dem Zettel, den Hans noch immer in der Hand hielt. Hedwig Reimann, Witwe, las sie. Die Wohnung lag ganz in der Nähe. Dies war praktische, handgreifliche Arbeit, die Hilde jeder anderen vorzog. Hier hatte sie das unmittelbare Gefühl, wirklich helfen zu können. Sie überbrachte den Angehörigen von Gefangenen, die im Auslandssender namentlich aufgeführt wurden, Grüße und eventuelle Benachrichtigungen. Hans sah es allerdings nicht gern, dass sie sich durch diese Arbeit zusätzlich belastete, aber in diesem Punkt hatte Hilde auf ihrem Willen bestanden. Und schließlich hatte er sich gefügt.
Diesmal sollte allerdings noch etwas dazwischenkommen. Es waren plötzlich draußen Tritte zu hören. Hans war mit zwei Schritten am Radio, drehte mit geübtem Griff an der Skala - aber der Empfang stand schon richtig auf dem Deutschlandsender. Es war übrigens nur die Mutter, die eintrat. Sie kam ächzend über die Schwelle und fiel gleich in den erstbesten Stuhl. Ihr Gesicht war vor Erregung gerötet, als hätte sie Ärger gehabt. Und auch ihre Stimme klang aufgebracht.
„Hier, Hans, das musste ich euch heute Abend noch bringen. Wurde eben bei mir abgegeben. Vom Wehrkommando."
Hans trat näher und nahm ihr das Papier aus der Hand. Offenbar zwang er sich, vollkommen ruhig zu bleiben. Aber seine Hand, die den Bogen hielt, zitterte leicht, und eine Zeitlang, während er las, hörte man nur das Rascheln des Blattes. Dann faltete er das Papier wieder zusammen. „Na ja", sagte er gleichmütig, „einmal musste es ja kommen. Befehl zur Meldung beim Bezirkskommando."
„Du müsstest vorher noch mal mit dem Arzt reden", sagte die Mutter eifrig. „Wenn er dir was verschreibt..."
„Unsinn, Mutter. Das verfängt doch im vierten Kriegsjahr nicht mehr... Nein, nein. Am besten, man stellt sich gleich auf die Tatsache ein." Nach dem ersten Schreck war er vollkommen ruhig geworden. Man hatte ihn verpfiffen, das war ganz klar. Ein großer, gesunder Kerl, der noch immer zu Hause war -das machte natürlich böses Blut. Und er hatte Feinde in der Nachbarschaft, dazu war seine politische Einstellung, schon von früher her, viel zu bekannt. Die Frage war nun, ob sie ihm auf dem Wehrbezirkskommando etwas anhaben konnten. Er glaubte, nicht. Denn sein Wehrpass trug den ordnungsgemäßen Meldestempel. Das Versäumnis lag deutlich auf Seiten der Wehrbehörde. Allerdings zweifelte er nicht eine Sekunde daran, dass sie ihn sofort per Schub an
die Front schicken würden - hoffentlich nicht auf eins der gefürchteten „Himmelfahrtkommandos". - Zum ersten Mal dachte er an Hilde, die zurückbleiben würde. Er wandte sich zu ihr um.
Hilde saß am Tisch, den Brief vom Wehrbezirkskommando vor sich aufgeschlagen. Sie las die kurzen Zeilen wieder und wieder, obwohl sie alles bereits auswendig wusste. Sie war betäubt wie von einem Schlag. Das also war es, was sie den ganzen Tag über dumpf vorausgeahnt hatte. Das war die Wendung in ihrem Leben, die sie gemeint hatte in der Luft zu spüren wie den Wechsel der Jahreszeiten und die sich nun genauso unerbittlich vollzog - ohne die geringste Möglichkeit für sie, ihr Einhalt zu tun. Die Trauer, die sie den ganzen Abend hindurch nicht hatte abschütteln können, senkte sich jetzt auf sie wie ein schwerer Stein und presste ihr die Kehle zusammen. Auf alles war sie gefasst gewesen. Dass die Gestapo kam - hundertfach in allen Einzelheiten ausgemalt, hatte diese Vorstellung schon fast nichts Schreckliches mehr. Aber Hans als Soldat - eingereiht in ein Heer stumpf gedrillter Gefährten; Menschen, die er verachtete, zu blindem Gehorsam verpflichtet; anderen, mit denen er sich am liebsten verbrüdert hätte, in befohlener Todfeindschaft gegenübergestellt - etwas Sinnloseres gab es nicht. Und es bedeutete das Ende, das fühlte sie. Nicht nur das Ende der illegalen Arbeit, sondern auch das Ende für Hans. Ein Mensch wie er würde auch draußen an der Front Widerstand leisten,
die Gefahr der Entdeckung war dort größer, weil er sich erst Verbündete schaffen musste - und die Maschinerie des Nazismus ließ so leicht niemand aus ihren Zangen.
Hans streichelte sanft ihren Arm. „Du musst es nicht so schwer nehmen", sagte er. „Der Krieg ist bald aus."
Es war ein Trost, den jeder Soldat seinem Mädchen gab, um ihm den Abschied leichter zu machen. Aber bei Hilde verfing er nicht. Denn darüber waren sich alle aus der Gruppe in unzähligen Diskussionen einig geworden: Diese ungeheure, von Hitler durch Europa gejagte Kriegsfurie war nicht auf einen Hieb zum Stillstand zu bringen. Einmal in Schwung gekommen, gehorchte sie ihren eigenen Gesetzen. Langsam, qualvoll, wie mit dem Messer eines Chirurgen herausgeschnitten, würde ein Land nach dem anderen der von ihr befallenen Gebiete wieder abbröckeln müssen. Das war ein langwieriger, schmerzhafter Prozess, der noch vielen von ihnen das Leben kosten würde. Und die einzige Möglichkeit, den Prozess zu beschleunigen, war der Aufstand von innen.
Aber es war müßig, jetzt solchen Gedanken nachzuhängen. Es gab noch viel zu besprechen. Was Hans am meisten am Herzen lag, war das Sendegerät. Hilde sollte es sofort, nachdem seine Abreise festgesetzt war, in Sicherheit bringen; ohne ihn konnten die Sendungen doch nicht stattfinden, und die Anwesenheit des Geräts in der Wohnung bildete ein stetes Gefahrenmoment. Während sie hierüber sprachen, hatte keiner von ihnen mehr auf die Mutter geachtet. Frieda Steffen stand jetzt auf und kam auf sie zu.
„Das lasst doch meine Sorge sein, Kinder. Im Verstecken habe ich wahrhaftig die meiste Routine."
„Nein, Mutter." Hilde sah hilfesuchend auf ihren Mann. „Hans - sage ihr, dass du es ihr nicht erlaubst. Mutter soll sich nicht mit solchen Dingen belasten. Es ist genug, wenn wir beide -"
„Hilde hat recht", fiel Hans ihr rasch ins Wort. „Der Laden muss sauber bleiben, Mutter. Er ist immer noch ein sicherer Treffpunkt für uns. Da liegt deine Aufgabe - wir dürfen uns nicht zersplittern."
„Nein, nein", sagte Frieda Steffen erbittert. „Nur du darfst dich zersplittern. Und Hilde darf es. Ihr beide dürft ein Dutzend Aufgaben haben, so dass die eine immer gleich die andere gefährdet. Übrigens" - sie kam näher auf die beiden zu und erhob sich auf die Zehenspitzen „Lotte Burkhardt sitzt schon eine Weile bei mir drüben. Durch den dussligen Wisch habe ich das ganz vergessen. Sie bleibt bloß eine Nacht - schläft im Laden. In dem Kaff hat sie nicht länger bleiben können..."
„Und da kommt sie ausgerechnet zu uns?" fragte Hans aufgebracht. „Verstehe ich nicht. Lotte ist doch sonst nicht so unvorsichtig..."
„Sie wusste nicht, wohin, Hans. Die Adressen, die sie hatte, stimmten alle nicht mehr. Und sie sagt, sie hat genau darauf geachtet, ob sie beschattet wird. Sie ist ein paar Mal im Zickzack gegangen..."
Hilde ging auf die Diele und kam mit ihrem Kopftuch zurück. Sie band es so um, dass das halbe Gesicht darunter verschwand.
„Ich gehe zu ihr", sagte sie. „Sie weiß ja noch gar nicht, dass sie Rudolf geholt haben - und dass Eva bei ihrer Großmutter ist..." Sie ging zur Tür, kehrte aber auf der Schwelle noch einmal um und kam zu Hans zurück. „Ich gehe dann gleich noch zu der Frau, Hans. Das schaffe ich noch vor dem Alarm." Sie zog sein Gesicht zu sich herunter und küsste ihn. „Es ist ja noch nicht unser letzter Abend..."
Hans und seine Mutter sahen ihr nach, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Nach einer Weile klangen ihre Schritte draußen auf dem Kies. Frieda Steffen drehte sich um und sah an ihrem großen Sohn hinauf. „Du hast eine tapfere Frau, mein Junge."
Hans nickte. „Ich weiß - und eine genauso tapfere Mutter. Gerade deshalb fällt es mir so schwer, euch allein zu lassen." |
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |