X.
Kriminalkommissar Möller sah seinen Vorgesetzten erst am nächsten Tag in den Diensträumen wieder. Der Untersturmführer saß in seinem Büro und bemalte das Löschblatt. Er sah nicht einmal auf, als Möller eintrat, und hörte sich seinen Bericht mit offen zur Schau getragener Langeweile an.
„Na also", sagte er nur, als Möller geendet hatte. „Haben Sie das Aas schon vernommen?"
Möller schüttelte den Kopf. „Ich habe noch nicht verhaftet. Lasse noch genauestens beobachten, Untersturmführer."
„Verrückt geworden?" brüllte Scharnke los. Er war aufgestanden und stand jetzt dicht vor dem anderen: langaufgeschossen, mit breiten wattierten Schultern; parfümduftend und frisch, als käme er eben aus der Badewanne. Aber sein Gesicht war in diesem Augenblick krebsrot vor Wut. „Wollen sich wohl den Happen wieder wegschnappen lassen? Diese Frau da - die Witwe - braucht bloß das Maul nicht zu halten, und schon verduftet Ihre Hexe, das kennen wir doch. Das Gesindel steckt samt und sonders zusammen."
„Aber da ist noch der Kerl, gegen den wir bisher noch immer keine Handhabe haben", wagte Möller einen Einspruch. „Und ich habe das ganz bestimmte Gefühl -"
„Ihre Gefühle heben Sie für Ihre Frau auf - und verschwenden Sie sie nicht auf Dinge, die Verstand erfordern", sagte Scharnke. „Sonst noch was?" Er sah den Kommissar herausfordernd an.
Möller war blass geworden. Er musste mit Gewalt an sich halten, um nicht seinem Chef eine ebenso unverschämte Antwort ins Gesicht zu schleudern. So flegelhaft hatte er den Untersturmführer nur selten erlebt. Meist fiel er aus der Rolle, wenn er irgendeinen Erfolg zu verzeichnen hatte. Dann stach ihn der Star, wie man zu sagen pflegte. Aber jetzt hatte er nicht einmal einen Erfolg aufzuweisen. Noch immer war der Geheimsender nicht liquidiert - und hier im Falle Steffen benahm er sich instinktlos und tölpelhaft. Vorschnelles Zupacken konnte alles verderben. - So schwer es Möller wurde, er musste doch noch mal einen Vorstoß wagen. Er setzte bewusst eine amtliche Miene auf:
„Steffen, Hans, ist zur Wehrmacht einberufen, nachdem sich das Schwein solange gedrückt hat. Wenn wir die Wehrbehörde von uns aus benachrichtigen würden?..."
„Aber ich weiß gar nicht, was Sie wollen", unterbrach ihn Scharnke ungnädig. „Lassen Sie den Kerl doch einrücken, und verhaften Sie das Weib! Stellen Sie keine unnötigen Kombinationen an..."
Das Telefon klingelte. Am anderen Ende der Leitung war der Kriminalassistent, den Scharnke auf Lotte Burkhardts Spur gesetzt hatte. Er meldete: Alles unverändert.
„Es ist gut - komme 'rüber!" brummte Scharnke schon im Aufstehen. Er knallte den Hörer auf die Gabel. Die Jüd'sche war der eigentliche Grund seiner schlechten Laune. Seit dem frühen Morgen trieb sie sich in der Gegend des Kriminalgerichts umher, scheinbar ziellos und ohne jeden erkennbaren Zweck. Wenn sie nicht bald mit ihren Verbindungen herausrückte, würde er sie kurzerhand festnehmen. Man konnte Adressen auch auf andere Art erfahren. Und er hatte längst Appetit auf seinen Armagnac...
Lotte Burkhardt ging inzwischen langsam die Melanchthonstraße zwischen der Spener- und der Paulstraße auf und ab. So weit konnte sie in jeder Richtung gehen, ohne das Haus ihrer früheren Schwiegermutter aus dem Blickwinkel zu verlieren. Seit Stunden wartete sie auf den unerhörten Glücksfall, dass vielleicht ihre Tochter Eva aus dem Hause trat. Einmal musste sie doch kommen, sagte sie sich. Sie würde einkaufen müssen, oder sie kam zu einem Spaziergang herunter... Lotte hatte sich nicht überwinden können, Berlin wieder zu verlassen, ohne den Versuch gemacht zu haben, ihr Kind zu sehen. Dabei hatte sie es Hilde Steffen in die Hand hinein versprechen müssen. Hilde hatte ihr die Adresse einer alten Dame aus Anklam gegeben, die Illegale bei sich unter brachte und irgendwie mit ihrer Karte durchschleppte. Zu ihr sollte Lotte erst mal fahren. Sie hatte Hildes Wohnung heute früh in der festen Absicht verlassen, sofort zum Stettiner Bahnhof zu fahren. Sie nahm auch die richtige Straßenbahn - doch unterwegs stieg sie plötzlich um und fuhr zuerst nach Moabit. Sie wusste, es war absurd, hier aufs Geratewohl auf das Kind zu warten. Außerdem konnte ihr jede Minute, die sie überflüssigerweise in Berlin zubrachte, in ihrer schwierigen Lage zum Verhängnis werden.
Seit geraumer Zeit fiel ihr ein Landser auf, der jedes Mal, wenn sie eine unvermutete Wendung machte, vor irgendeinem Schaufenster in ihrer Nähe stand und mit scheinbarem Interesse die Auslagen betrachtete. Aber die Auslagen - das war ein vorsintflutlicher Schaukelstuhl in einer Korbflechterei und in dem anderen Laden ein Stapel Schuhe mit durchlöcherten Sohlen. Beides war keineswegs das lange Anschauen wert. Lotte überlegte. Im Grunde fühlte sie sich mit ihren falschen Papieren als Erna Färber ziemlich sicher. Trotzdem mochte sie es keineswegs auf einen Zwischenfall ankommen lassen. Sie nahm sich vor, den Landser bei nächster Gelegenheit auf die Probe zu stellen. An der nächsten Ecke würde sie in die Spenerstraße einbiegen und bis nach Alt-Moabit hinaufgehen. Kam er ihr auch dorthin nach, dann wusste sie mit Bestimmtheit, dass er sie verfolgte und würde ihm auf der belebten Straße leichter entkommen können.
Aber als sie an der Ecke nach ihm Umschau hielt, war er fort. Statt dessen sah sie plötzlich Eva vor der Tür. Lotte blieb stehen und lehnte sich gegen die Wand. Sekundenlang war es ihr, als steige das Blut wie eine warme Welle in ihr empor und schlage über ihrem Kopf zusammen. Eva ging an der Hand der Großmutter. Beide blieben einen Augenblick vor der Haustür stehen, als müssten sie sich erst schlüssig werden, welche Richtung sie einschlagen sollten. Dann kamen sie schräg über die Straße gerade auf Lotte zu. Lotte stand unbeweglich. Erst als die beiden schon die Hälfte des Dammes hinter sich hatten, durchfuhr es sie, dass die alte Frau Burkhardt sie auf keinen Fall sehen durfte. Sie schlüpfte in einen Hausflur. Hinter der Scheibe verborgen, konnte sie jetzt ihr Kind in aller Ruhe betrachten.
Eva ging ohne Stern, das fiel ihr zuerst auf, und sie empfand ungeheure Erleichterung bei dieser Entdeckung. Eva zumindest schien aus den Schwierigkeiten heraus zu sein. Ob die Großmutter in der kurzen Zeit ihre Arisierung durchgesetzt hatte oder ob sich sonst eine Möglichkeit hatte finden lassen, um Eva vor den Nazis reinzuwaschen - das alles würde sie wahrscheinlich nachher von Eva erfahren. Denn für Lotte stand es fest, dass sie ihr Kind auf jeden Fall sprechen würde. Wenn es jetzt nicht gelang, würde sie wenigstens versuchen, ihr unbemerkt einen Zettel zuzustecken, und sie trafen sich dann später. - Zärtlich folgte sie Eva, die jetzt ganz dicht an ihr vorüberkam.
mit den Blicken. Sie sah gesund aus, mit runden roten Bäckchen - wenn auch etwas fremd in dem neuen karierten Kleid und mit den Zöpfen, die sie an Stelle des lang herabfallenden offenen Haares trug. Sie hatte die Großmutter untergefasst und sah zu ihr auf - dabei redete sie eifrig auf sie ein. Alle paar Schritte machte sie einen kleinen Hopser - wie der übermütige Sprung eines Lämmchens. Es erfüllte Lotte mit Wehmut, als sie daran dachte, dass sich Eva bei ihr niemals so unbeschwert gegeben hatte. Immer war sie scheu und bedrückt gewesen - denn ihr selbst war es nicht wie anderen Müttern vergönnt, ihrem Mädel eine sorglose, glückliche Kindheit zu bereiten. Bei der Großmutter fühlte sich das Kind offenbar wohl, und soweit man sehen konnte, herrschte zwischen beiden das beste Einvernehmen. Das verwunderte Lotte etwas - denn die alte Frau hatte sich bisher noch nicht einen einzigen Tag nach ihrer Enkelin umgesehen. Um so besser, wenn es jetzt anders war. Sie hatte allen Grund, sich darüber zu freuen. Aber ob es richtig war, wenn sie das Kind jetzt wieder aus seinem mühsam gewonnenen Gleichgewicht riss? Einen Augenblick siegte die Vernunft über ihr Gefühl, und sie nahm sich vor, umzukehren. Doch gleich darauf erschien ihr der eigene Entschluss geradezu unmenschlich und unnötig hart. Wer weiß, wann sie Eva wieder sah - jetzt, da sie gerade im Begriff stand, wieder wegzufahren, und in einer Zeit, da sich auch die Luftangriffe auf Berlin immer mehr verschärften? Nein, sie musste wenigstens mit dem Kind eine Adresse vereinbaren, unter der sie einander schreiben konnten. Eva war groß und vernünftig genug, um derlei Dinge mit der nötigen Vorsicht zu tun.
Behutsam trat sie wieder auf die Straße hinaus. Die alte Frau Burkhardt stand mit Eva einige Häuser entfernt vor einem Friseurgeschäft. Jetzt gingen sie beide hinein. Lotte schlenderte unschlüssig näher. Doch plötzlich stockte ihr Herz vor freudigem Schreck. Sie sah Eva allein aus dem Laden herauskommen und, die Einkaufstasche am Arm, in entgegengesetzter Richtung davongehen. Besser konnte es sich gar nicht treffen. Lotte folgte ihr rasch - aber gerade jetzt schoben sich ein paar Fußgänger zwischen sie und das Kind, und Eva würde im nächsten Augenblick um die Ecke biegen. Lotte rief sie beim Namen, aber ihre Stimme war belegt, statt eines Rufes wurde nur ein heiseres Krächzen daraus. Doch Eva hatte sie gehört. Lotte sah, wie das Kind stehen blieb und sich umdrehte. Für den Bruchteil einer Sekunde tauchten ihre Augen in die der Mutter - schmale, kalte Katzenaugen, die keinen Schimmer eines Erkennens zeigten. Dann wandte sich das Kind gleichgültig wieder weg. Lotte war mit ein paar Schritten neben ihr. „Eva", rief sie lachend, „erkennst du deine eigene Mutter nicht mehr? Habe ich mich so verändert in der kurzen Zeit?"
Atemlos vom Laufen und vor Erregung, blickte Lotte ihre Tochter an, strich sich das wirre Haar aus der Stirn. Sie wusste, sie sah nicht gerade salonfähig aus Von der Feldarbeit war sie tief gebräunt. Ihr stark nachgedunkeltes Haar war von der Sonne gebleicht und in einigen Strähnen fast wieder hellblond geworden. Natürlich hatte es jede Form verloren und fiel ihr lang und ungepflegt über die Schulter. Aber konnten diese Kleinigkeiten sie wirklich so verändern? Bei der Vorstellung, dass ihr eigenes Kind sie nicht wieder erkannt hatte, lachte sie immer noch belustigt auf.
Doch plötzlich hörte sie auf zu lachen. Eva benahm sich so merkwürdig, fand sie. Statt ihr um den Hals zu fallen oder sonst irgendwie ihre Freude zu äußern, stand sie nur stumm vor ihr, mit gesenktem Kopf, über der Nase eine steile scharfe Falte, die Lotte noch nicht an ihr kannte. Ihre Hände umklammerten den Henkel der Einholetasche.
„Ich habe dich erkannt", sagte sie endlich. Sie sah dabei nicht auf, starrte nur immer weiter vor sich hin auf den Boden.
Lotte sah, dass ein paar Frauen neugierig zu ihnen herübergafften. Sie fingen also schon an aufzufallen. Sie nahm Evas Hand und zog sie näher ans Haus, wo sie den Vorübergehenden weniger im Wege standen. Die kleine Kinderhand war eiskalt. Lotte behielt sie zwischen ihren warmen Fingern.
„Was soll denn das heißen, Eva?" fragte sie. „Du hast mich erkannt, und trotzdem sagst du mir nicht guten Tag?" Sie glaubte plötzlich zu verstehen und beugte sich zu Eva hinunter: „Hast du Angst, mit mir zu sprechen?"
„Nein", sagte das Kind verstockt. „Aber ich will nicht."
Sie löste ihre Hand aus der der Mutter und machte Miene weiterzugehen. Aber jetzt packte Lotte mit festem Griff ihren Arm. Das Kind drehte sich um und sah die Mutter feindselig an.
„Du hast mich damals auch allein gelassen!" rief sie heftig. „Da war es dir gleichgültig, was aus mir wurde. Hauptsache, du warst in Sicherheit. Und du bist schuld, dass Vater verhaftet ist."
Sie brach in Weinen aus. Lotte sah hilflos auf die kleine Gestalt, die von Schluchzen geschüttelt wurde. Auf solchen Ausbruch war sie nicht gefasst gewesen. Die gemeinsame Not und das Elend der letzten Jahre hatten Eva und sie enger aneinandergeschmiedet, als es sonst zwischen Mutter und Kind der Fall zu sein, pflegt. Immer waren sie völlig aufeinander angewiesen gewesen. Schon seit langem sah Lotte in Eva mehr als ein Kind - eine richtige Kameradin, mit der sie jede Sorge besprechen konnte. Und jetzt, nach ihrer ersten gewaltsamen Trennung, dieser Stimmungsumschwung! Aber Lotte glaubte einfach nicht, dass Eva sich wirklich von ihr abgewandt hatte. Ihr Hass war nicht echt. Hinter den sinnlosen Beschuldigungen, die sie hervorgesprudelt hatte, entdeckte Lotte die Feindschaft der alten Frau Burkhardt. Und sie erkannte mit Sorge, was wenige Wochen im Innern eines Kindes anrichten können - wenn man es systematisch darauf anlegt.
„Erzählt dir die Großmutter so etwas?" fragte sie. Dabei streckte sie die Hand aus, um Eva übers Haar zu streichen. Sie wollte ihr mit Liebe entgegenkommen, wollte versuchen, sie mit der alten Zärtlichkeit wieder zurückzugewinnen. Aber Eva riss sich los. Tränen in den Augen, machte sie einen Schritt von der Mutter weg, als könne sie es nicht ertragen, so nahe bei ihr zu stehen.
„Ja, Großmutter sagt es", erwiderte sie. „Aber ich weiß es auch selbst. Du bist weggefahren, ohne dich um mich zu kümmern. Und um selbst freizukommen, hast du Vater verraten!"
Flammend sah sie die Mutter an, in ihren graugrünen Katzenaugen stand kalte Verachtung. Lotte rang um eine Antwort. Sie war nicht fromm - aber jetzt hätte sie gewünscht, darum beten zu können, dass sie die richtigen Worte fand. Wie sollte sie je wieder an ihr Kind herankommen? Eva war ja noch ein Kind, andere ihres Alters spielten mit Puppen. Nur Eva war durch die Ungunst der Verhältnisse so früh gereift. Hätte Lotte Zeit zur Verfügung gehabt, dann hätte sie mit großer Geduld auf Eva eingehen können. Aber was sollte sie ihr hier auf der Straße sagen, nachmittags zwischen halb und drei Viertel fünf, an irgendeine Häusermauer gepresst, eingekeilt zwischen Frauen, die hastig und nervös ihre Einkäufe machten? Wie sollte sie so rasch das Vertrauen des Kindes zurückgewinnen? Die Minuten, die sie zusammen sein konnten, waren gezählt. Lotte seufzte. Die kostbare Zeit, die sie hätte festhalten mögen, zerrann ihr wie Sand zwischen den Fingern, aber noch immer sagte sie nichts. Die Aufgabe, die hier vor ihr stand, schien fast unlösbar. „Hast du kein Vertrauen mehr zu mir, Eva?" fragte sie endlich.
Das Kind schwieg. Nach einer Weile sagte es finster: „Willst du mich wieder mit nach Hause nehmen?"
„Würdest du denn mitkommen?" fragte Lotte schnell. „Ja - wenn du wieder richtig meine Mutter bist..." Eine Sekunde lang trat ein wärmerer Schimmer in ihre Augen, wie ein Licht, das jemand tief drinnen entzündet hat, doch es flackert, es ist zu schwach, um sich durchzusetzen, es erlischt. Aber Lotte hatte genug gesehen. Unbekümmert um die Vorübergehenden riss sie Eva an sich und küsste sie, streichelte ihre magere kleine Gestalt. In diese Zärtlichkeit legte sie alles, was sie ihr sonst hätte sagen müssen. Dass sie unter falschem Namen lebte, dass sie sich ängstlicher verbergen musste als ein Hase bei der Treibjagd, dass sie vielleicht in dieser selben Minute, da sie hier beide zusammen waren, in unmittelbarer Lebensgefahr schwebte. Aber das alles erzählte sie Eva nicht, das würde das Kind nur unnötig belasten. Statt dessen streichelte sie immer weiter ihr Haar.
„Eine Weile bleibst du noch bei der Großmutter", sagte sie dann. „Ist sie denn gut zu dir?"
„Ja", nickte Eva. Und nach einer Weile: „Jetzt ist sie gut..."
„Was heißt das: jetzt?" fragte die Mutter ahnungsvoll. Eva wurde rot. „Ich muss schlecht von dir sprechen", sagte sie leise.
Lotte schluckte. Das war schlimmer, als sie befürchtet hatte. Eine Minute lang schloss sie die Augen. Eine Welle von Hass überspülte sie. Hass gegen die alte Frau, die ihre Macht einem wehrlosen Kind gegenüber so schamlos missbrauchte, Hass gegen die Verhältnisse, die solchem Unrecht Vorschub leisteten. Sie rang mit einem Entschluss. In diesem Augenblick war sie bereit, Eva trotz aller Schwierigkeiten von der verhassten Frau wegzuholen und zu sich zu nehmen. Ihre seelische Entwicklung zumindest wäre dann weniger gefährdet. Doch gerade jetzt wand sich Eva aus ihren Armen los. „Da kommt die Großmutter schon!" rief sie aus. Ihre Augen, die an Lotte vorbeisahen, waren vor Schreck weit geöffnet, ihre Stimme klang heiser vor Angst. „Sie darf uns nicht sehen. Sie will überhaupt nicht, dass ich auf der Straße herumstehe..."
Ohne ein weiteres Wort riss sie sich los und bog eilig um die Straßenecke. Als Lotte ihr nachlief, war sie nicht mehr zu sehen. Wahrscheinlich war sie in einem der Läden untergetaucht. Lotte blieb mitten auf der Straße stehen. Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn, als ob sie den Druck, der um ihren Kopf lag, dadurch lockern könnte. Ihr war benommen zu-
mute wie nach einer schweren Betäubung. Als sie sich endlich umblickte, sah sie die alte Frau, Eva an der Hand, wieder auf die Ecke zugehen. Allem Anschein nach zankte sie laut mit dem Kind. Eva hielt den Kopf gesenkt. Ihre kurzen Zöpfe standen zu beiden Seiten wie zwei Ohren ab. Jetzt hopste sie nicht mehr, sondern ging still und gemessen. Aber sie drehte sich auch nicht mehr um, bevor sie endgültig um die Ecke verschwand.
Lotte ging langsam weiter. Es hatte keinen Sinn, dass sie hier länger stand. Sie ging die Paulstraße entlang bis zum Kriminalgericht, stieg in die Vierundvierzig, stand stumpf zwischen stoßenden, drängelnden, randalierenden Menschen. Die Fensterscheibe vor ihr warf ihr Bild zurück, und Lotte starrte sich verwundert ins Gesicht. Es war, als träfe sie nach langer Zeit eine Bekannte wieder, und erstaunt musste sie feststellen: Sie ist alt geworden.
Der Zug nach Anklam fuhr abends um zehn. Sie hatte also gut vier Stunden Zeit. Sie ging in den Wartesaal. Der große kahle Raum war bis in den letzten Winkel mit Menschen verstopft. Es roch nach Kohl und nach billigen Zigaretten. Wohin Lotte blickte - überall wurden Frühstücksbrote gekaut oder Suppen geschlürft, alle Kiefer mahlten. Ihr wurde plötzlich übel, und sie strebte zum Ausgang. Ihr fiel ein, dass sie seit dem frühen Morgen nichts gegessen hatte. Sie konnte auch nichts essen, weil sie keine Marken hatte. Hilde hatte ja annehmen müssen, dass sie heute Abend längst bei der alten Dame in Anklam sei. Sie stellte sich am Fahrkartenschalter an. Als sie die Karte in der Hand hielt und sich umdrehen wollte, legte sich mit sanftem Druck eine Hand auf ihre Schulter. Unwillig wandte sie den Kopf. Hinter ihr stand ein Herr in Zivil, und als sie aufsah, blickte sie in das nichts sagende, fahle, blank rasierte Gesicht ihres Fliegers.
„Guten Abend, Lotte Sarah Burkhardt", sagte er mit zynischem Grinsen und weidete sich an ihrem Gesichtsausdruck. „Na, komm mit, mein Täubchen - ich habe einen Wagen da für uns beide..."
Er schob sie unauffällig mit dem Knie vor sich her. Plötzlich zwang er sie stillzustehen. „Pfoten her!" zischte er ihr ins Ohr. Im nächsten Moment spürte Lotte den kalten Metallring um ihre Handgelenke. Das Schloss klickte ein. Scharnke höhnte: „Siehst du - so fesselt man die Weiber an sich..." Er trat plötzlich noch näher an sie heran: „Erzähl mir mal gleich, wo du deinen Sender versteckt hast. Den packen wir gleich mit ein..." Und als Lotte schwieg, nach einer Weile kalt: „Ach, du magst noch nicht. Willst dir erst unsere Bunker von innen besehen..." Noch immer benommen, folgte ihm Lotte zum Ausgang. Draußen wartete eine schlichte Limousine, Viersitzer, ganz in Schwarz. Wie ein Sarg, dachte Lotte, als sie einstieg. Ins Polster gedrückt, dachte sie dann nur noch eins, als ob das das Allerwichtigste wäre: Vielleicht fahren wir durch Moabit. Vielleicht sehe ich Eva noch einmal!
Aber der Wagen fuhr, statt abzubiegen, schnurgerade nach Süden. Jetzt erst erkannte Lotte klar, was geschehen war. Der Schmerz um das Versäumte überwältigte sie. Jeder Kilometer entfernte sie weiter von Eva. Und sie hatten sich nichts gesagt, was wirklich wichtig war. |
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