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Elfriede Brüning - ... damit du weiterlebst (1949)
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V.

Untersturmführer Dietrich Scharnke saß in seinem behaglich eingerichteten Büro in der Prinz-Albrecht-Straße und malte mit Hingebung Fischchen. Das war eine liebe Gewohnheit von ihm. Kein Bogen Papier, kein leerer Briefumschlag, kein unbeschriebener Aktenrand, ja, nicht einmal die blank polierte Platte des Schreibtisches selbst waren sicher davor, mit den schlanken Fischleibern des Pg. Scharnke, alten Kämpfers und Trägers des Goldenen Parteiabzeichens, bedeckt zu werden. Seine Phantasie im Entwerfen neuartiger, erstaunlicher Fischgestalten war unerschöpflich;  die Zahl seiner Erfindungen hundertfach. Scharnke machte sich wenig daraus, dass seine Manie von missgünstigen Kameraden bewitzelt wurde, dass man sie belächelte, ja, dass sie ihm im Laufe der Zeit sogar einen harmlosen Spitznamen eingetragen hatte. Er trug den Spott mit Gleichmut - und malte weiter Fischchen. Ein weißer Bogen Papier, am Ende eines langen Arbeitstages von seiner Hand mit zierlich gewundenen, anmutig schlanken Fischchen bedeckt, erweckte in ihm ein Gefühl tiefer Befriedigung wie nach einem gut erledigten Tagewerk. Zufrieden streckte er sich danach nieder und schlief traumlos bis in den heilen Tag, an dem er dann wieder, ausgeruht und erquickt wie ein gut gedeihender Säugling, unter neuem emsigem Fischchenmalen an die Bewältigung seiner vielfachen Aufgaben ging.
Dietrich Scharnke gab sich keine Rechenschaft dar­über, welchen verborgenen Komplexen sein Maltrieb entsprang. Freudsche Schriften und Deutungen wurden von seinem nationalsozialistisch geschulten Geist von vornherein als jüdische Schmierfinkereien abgelehnt. Und mit dem Gebiet der Tiefenpsychologie hatte er sich im Verlauf seines dreißigjährigen Lebens ebenso wenig befasst wie beispielsweise seine Scheuerfrau. Scharnkes Erklärung sich und anderen gegen­über war äußerst simpel. „Was wollt ihr?" fragte er grinsend. „Das sind alles die Fische, die mir früher oder später ins Netz gehen."
Ihm gingen wirklich sehr viele ins Netz. Heute malte er auf die Rückseite einer detaillierten Kostenaufstellung für ein vollstrecktes Todesurteil einen Fisch, der fast die ganze Seite einnahm. Seine blonde Sekretärin, die er weniger wegen ihrer Leistungen als wegen ihres altdeutschen Vornamens Ute eingestellt hatte - ihr Vatersname war leider Krause sah ihn bewundernd an. „Ein Hecht?" fragte sie ungläubig, denn gewöhnlich zauberte ihr Chef kleinere Exemplare der Gattung aufs Papier. Scharnke schob Bleistift und Bogen beiseite. „Ein Hecht!" bestätigte er und lehnte sich zufrieden in seinen Stuhl zurück Plötzlich schien ihm etwas einzufallen. „Hör zu, Mädchen", sagte er und klopfte mit dem Mittelfinger auf die Schreibtischplatte. „Heute Abend ist Dienst!"
„Ja?" sagte Fräulein Krause errötend.
Er hatte eine Kneipe entdeckt, dicht am Kaiserdamm, die für seine Zwecke eine wahre Fundgrube war. Dort wurde heute noch Wein ausgeschenkt, und nicht etwa nur glasweise, sondern pro Person eine Flasche und zu zivilen Preisen. Weiß der Himmel, welcher hochgestellten Persönlichkeit der Wirt diese außergewöhnliche Konzession abgepresst hatte. Ging ihn auch nichts an. Ihn interessierte allein das Publikum, das nach dem ungewohnten Genuss solcher Alkoholmengen erfahrungsgemäß äußerst mitteilsam wurde. Das Hetz der lieben Volksgenossen kehrte sich in solchen Momenten nach außen, und was man da zu hören bekam - die Haare konnten einem zu Berge stehen, und die Feder sträubte sich, es später in den Berichten wiederzugeben. Erst kürzlich hatte er einen jungen Parteianwärter vom Tisch weg verhaften müssen. Dieser Unglücksrabe saß nur da, die Augen stier auf die geleerte Flasche gerichtet und erzählte jedem, der es hören oder nicht hören wollte, wie er als Soldat in Polen den Auftrag gehabt habe, die Juden in Scharen niederzuknallen. Er schilderte den Vorgang in allen Einzelheiten. Angefangen mit der mathematisch ausgeklügelten Aufstellung der Opfer dicht am Rande des Flusses - dergestalt, dass die Leichen nach erfolgter Exekution kopfüber in die Fluten platschten, womit die Frage ihrer Beseitigung von selbst gelöst war -, bis zu den Schwierigkeiten bei der Vollstreckung. Des langen und breiten legte er dar, dass nicht jeder Genickschuss den Tod garantiere, und wie er sich erst langsam auf den einzig richtigen Halswirbel habe einschießen müssen. Binsenweisheiten also, die er erzählte; Tatsachen, die heutzutage jedem dritten Volksgenossen vollkommen geläufig waren. Dabei glotzte er aber seinen Gesprächspartner an und tastete mit seinen Blicken dessen Wirbel ab - dass es jedem kalt über den Rücken lief. Schließlich war er, Scharnke, eingeschritten und hatte dem gesprächigen Landser, der noch dazu verbotenerweise in Zivil umherlief, kraft der Zaubermacht seines Blechschildchens den Mund gestopft. Wo käme man auch hin, wenn heute jeder Wehrmachtangehörige anfangen wollte, der ungeschulten Masse des Volkes seine Erlebnisse im besetzten Gebiet zu erzählen? Da hätte er selbst noch ganz andere Dinge berichten können; Dinge, die sie sich in Polen und später auch während des Vormarschs im Westen mit den Judenweibern geleistet hatten. Es überkam ihn jetzt noch angenehm, wenn er daran dachte. Aber solche Erlebnisse behielt man natürlich für sich, man ergötzte sich daran noch in der Erinnerung und richtete sich im Bewusstsein seines unter Beweis gestellten Herrenmenschentums daran auf.
Übrigens waren Juden Scharnkes Spezialität. Wo immer eine Aktion gegen einen von ihnen im Gange war, versuchte er an die Sache heranzukommen, denn
nichts versetzte ihn so in Ekstase wie der verängstigte Blick eines gequälten Juden. In solchen Momenten war er direkt schöpferisch. Leider waren in letzter Zeit die Fälle, in denen Juden offen gegen die Staatsgewalt hetzten, infolge ihrer um sich greifenden Ausrottung selten geworden, und Scharnke hatte schon gefürchtet, mit dieser Konjunktur sei es endgültig vorbei. Da aber hatte ihm die gütige Vorsehung noch einmal einen fetten Brocken in die Hände gespielt. Eine ganze jüdische Betriebsgruppe war aufgeflogen.
Er stand auf und reckte sich wohlig. Seine Sekretärin, Fräulein Ute Krause, stand immer noch vor ihm und wartete auf seine Befehle. Er sah sie gnädig an: „Um acht hier im Büro - ich komme mit dem Wagen."
Die Kneipe erschien eigentlich schon wieder nebensächlich, es gab jetzt Wichtigeres. Vor einer Woche hatte ihm der Sturmbannführer die umfangreiche Akte „Geheimsender Unbekannt" übergeben, mit einem süßsauren Lächeln: „Beißen Sie sich die Zähne daran aus, Untersturmführer!" Scharnke hatte den Fall studiert und sich dabei in helle Wut gesteigert. Da gab es im Dritten Reich seit über zwölf Monaten einen Verbrecher, der die Frechheit besaß, Nachrichten landesverräterischen Inhalts in die Luft zu posaunen, munter und regelmäßig, zu Zeiten, die man genau aufnotiert hatte - aber man konnte ihm nicht sein verfluchtes Handwerk legen; man fasste ihn nicht. Seit über einem Jahr war man nicht einen Schritt weitergekommen, wenn man davon absehen wollte, dass in der Zwischenzeit ein Mann verfolgt, verhaftet und leider schon an den Galgen gebracht worden war, bevor sich seine Unschuld endgültig herausgestellt hatte. Scharnke malte einen Fisch an den Aktenrand und zuckte die Achseln. Künstlerpech so was, irren war eben sogar bei der Gestapo menschlich. Er grinste über seinen boshaften Witz und legte sich nun, was den Geheimsender betraf, selber ins Zeug. Und siehe da, schon der fünfte Tag brachte ihm einen großen Erfolg. Sieben muntere Fischlein zappelten im Netz. Sieben - aber einer wäre ihm lieber gewesen. Eben der Richtige, und der fehlte noch. Scharnke war vor sich selber ehrlich genug, um zuzugeben, dass das bisherige Ergebnis nicht auf sein Verdienst zu buchen war. Er hatte einfach Schwein gehabt. Im Grunde war es immer das gleiche, und das ganze Geheimnis seiner Erfolge bei der Fahndung beruhte darauf: Man musste nur Geduld haben und warten können. Denn einmal schossen sie alle einen Bock, auch die gerissensten. Auch dieser „Geheimsender Unbekannt" und seine Clique hatten es getan. Ein ganzes Jahr hindurch waren sie bei ihrer „Arbeit" mit äußerster Vorsicht zu Werke gegangen, hatten den Standort des Gerätes ständig gewechselt und die Sendungen verschlüsselt in den Äther geschickt - dadurch der Fahndung auch von dieser Richtung her den Wind aus den Segeln nehmend. Aber plötzlich waren sie plump genug, den Codeschlüssel - an dem letzten Endes ihr eigener Kopf hing - einem Gefreiten in die Tasche oder, genauer gesagt, in den Stiefel zu stecken. Scharnke zog den vor ihm liegenden Aktendeckel näher an sich. Dieser Bericht des SD-Außendienstes war ihm unter dem Datum des 22. August zugegangen. Er besagte mit dürren Worten, dass man in Amsterdam bei Durchsuchung eines gewissen Gefreiten Haber, der sich der Urlaubsübertretung schuldig gemacht hatte, einen Geheimcode entdeckt hätte, den man zur weiteren Untersuchung nach Berlin übersandte. Scharnke war mit Feuereifer an die Arbeit gegangen. Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen - in weniger als vierundzwanzig Stunden erhielt er die Bestätigung, dass er den Schlüssel für den „Geheimsender Unbekannt" in Händen hatte. Die Nachrichten, die er nun entziffern konnte, enthielten Geheimberichte über den Stand der Kriegsproduktion. Die Quelle wies auf die Firma Siemens und innerhalb der Firma auf eine ganz bestimmte Abteilung. Scharnke ging ans Großreinemachen. Der Jude, der die Patentabteilung von Siemens leitete, zappelte als zweiter im Netz, das der Untersturmführer ausgelegt hatte, nächst dem Gefreiten, der auf seine Anordnung im Solowagen nach Berlin transportiert worden war. Es folgte eine ganze Reihe anderer, die sich noch in den Maschen verfingen. Die Informationsquelle für den Sender war wohl damit verstopft, aber der Sender selbst noch nicht verstummt; ein Zeichen, dass sie noch nicht ganze Arbeit getan hatten.
Scharnke gähnte laut. Innerlich war ihm nicht ganz so forsch zumute, wie er sich den Anschein gab; eher flau. Gestern Nacht hatte sein Assistent Möller die Vernehmungen geleitet. Er selbst hatte in der „Femina" durchgebummelt. Die verfluchten Weiber. Sie zogen einem das Mark aus den Knochen und ließen einen faden Geschmack zurück. Und Möller kriegte manchmal weiche Anwandlungen. Er musste gleich mal zu ihm und sich berichten lassen. Er öffnete die Tür in der Mahagoniwand, mit der sein Büro verkleidet war, und wusch sich in dem dahinter befindlichen Waschbecken die Hände. Ein zarter Duft breitete sich aus. Die Seife stammte aus Paris, ebenso die reinseidene Krawatte, die er jetzt aufknüpfte und sorgfältig neu band. Scharnke legte Wert auf sein Äußeres. Trotz der immer knapper werdenden Waschmittelzuteilung hielt er die Gewohnheit aufrecht, täglich das Hemd zu wechseln; seine Hose war immer wie frisch aus dem Laden, nie sah man gestopfte Socken bei ihm. Seine Zivileleganz war ein Bestandteil seiner raffinierten Vernehmungstechnik. Es wirkte auf einen Gefangenen, der unrasiert und verdreckt aus dem Keller heraufkam, deprimierend, sich plötzlich einem gepflegten Mann gegenüberzusehen. In der Beziehung hatte der Untersturmführer seine Erfahrungen.
Jetzt zog er seinen Scheitel neu, sprengte sich Juchten ins Haar und drehte sich endlich um. Fräulein Krause polierte gerade ihre Fingernägel. Scharnke blieb einen Augenblick vor ihr stehen, registrierte seine Wirkung auf sie und sagte dann lässig:
„Ich bin zur Raubtierschau - falls etwas los ist."
„Raubtierschau" nannte er seinen täglichen Informationsgang durch den Keller, eine Arbeit, zu der er keineswegs verpflichtet war, denn er konnte die Gefangenen natürlich viel bequemer in sein Büro zitieren. Aber gerade an diesem Teil seines Tageslaufs, den er selbst eingeführt hatte, hielt er mit Inbrunst fest. - Heute wollte er sich die Neueingänge mal genauer ansehen. Sie lagen wirklich in ihren Zellen wie die Tiere im Käfig. Scharnke ging langsam den lang gestreckten Gang hinunter, hob mal hier, mal dort den Deckel von dem Gucklochfenster und blickte hinein. Drinnen bot sich überall das gleiche Bild, das er eigentlich bis zum Überdruss kannte: der Gefangene auf seiner Pritsche, in einer Stellung, der man den Grad seiner „Behandlung" genau ablesen konnte: sitzend, kauernd oder schmerzverkrümmt. Nur in der ersten Sekunde, wenn Scharnke den Gucklochdeckel beiseite schob, hob sich der Blick des Gefangenen, um sofort wieder gleichgültig, teilnahmslos abzugleiten. - Der Häftling 352, der ehemalige Gefreite Felix Haber, war gefesselt. Scharnke drehte sich um und winkte dem Wachtmann: „Was is'n hier los?"
Der SS-Mann knallte die Hacken zusammen. „Selbstmordversuch, Untersturmführer. Wollte sich mit dem Brillenglas die Pulsadern aufschneiden. War bis jetzt im Dunkelarrest."
Scharnke nickte gleichmütig. Diese Art Strafmaßnahmen waren nicht sein Ressort, ihn interessierte mehr das Psychologische. Er hielt das rechte Auge ans Guckloch. Der Kerl hatte die Uniform noch an, Gefreitenwinkel und sonstige Abzeichen natürlich abgerissen. Wie ein Haufen Dreck kauerte er da, die Beine angezogen, die Arme mit den gefesselten Handgelenken „im Streckverband" über den Kopf gespannt. Die kurzsichtigen Augen - die Brille hatte man ihm inzwischen abgenommen - wie blind geradeaus gerichtet. - Schade um so was, dachte Scharnke. Der hätte übers Jahr schon Feldwebel sein können. Er ließ gelangweilt den Verschluss zurückschnellen. Neben ihm stand plötzlich Möller. Er wies mit dem Kopf gegen die Zellentür: „Der ist reif für Freisler", sagte er. „Reichskriegsgericht", verbesserte Scharnke.
Er ging neben Möller weiter den Gang entlang, steckte sich eine Zigarette an. „Übrigens", fragte er zwischen zwei Zügen, „weshalb solche Eile? Der Galgen ist geduldig - der wartet."
„Aber der Kerl ist unergiebig. Spielt stur den Harmlosen, der von nichts gewusst hat." „Keinen Namen genannt?"
Möller hob die Schultern, ließ sie dann langsam wieder sinken. Das sah aus, als sei sein Kopf eine Minute lang untergetaucht. „Dann werden wir seinem Gedächtnis nachhelfen müssen", sagte Scharnke. Er gab diese ungeschriebene Anordnung des letzten Folterungsgrades eigentlich nur aus Gewohnheit. Er versprach sich nichts davon, war sich vielmehr sicher, dass der Mann wirklich nichts
wusste. Dieser Anfänger war natürlich nur vorgeschoben. Vielleicht sollte man ihn wirklich bald baumeln lassen. Er hatte schließlich seinen Zweck erfüllt.
Möller war stehen geblieben. Er deutete mit einladender Handbewegung auf die nächste Tür: „Hauptangeklagter Busch", sagte er mit dünnem Lächeln, damit der Einstufung des Häftlings durch den Staatsanwalt schon vorgreifend. Es sollte witzig sein.
Der Untersturmführer ergriff sofort wieder von dem Guckloch Besitz. Jedes Mal, wenn er die Klappe von diesen kleinen Fenstern zurückschob, erfasste ihn eine seltsame Spannung, die noch anhielt, bis er den ersten Blick in das Innere tat - dann wich sie regelmäßig einem Gefühl tiefer Ernüchterung. Auch jetzt spürte er beim Anblick des geschundenen Häftlings, der sein verquollenes Gesicht, die von Schlägen aufgeplatzten Lippen gerade auf die Tür gerichtet hielt, als wüsste er, dass er von dorther beobachtet wurde, nur grenzenlose Langeweile, ja Verdruss. Übrigens ein intelligentes Gesicht, musste Scharnke widerwillig zugeben. Er kannte den jungen Juden schon von der ersten Vernehmung her, als er klar und sicher, seine Antworten in echt jüdischer Dreistigkeit zur Propaganda ausnutzend, seine Aussagen gemacht hatte. Busch war privilegierter Jude - einer der anscheinend wirklich tüchtigen Ingenieure, auf die nicht verzichten zu können man leider geglaubt hatte. Die Firma hatte ihm in dem allgemeinen Raum, an den er mit seiner Tätigkeit gebunden war, einen Verschlag errichtet, hinter dem er zwar vorschriftsmäßig isoliert, aber auch völlig ohne Kontrolle arbeiten konnte. Wohin solche unangebrachte Großzügigkeit führte, trat dabei klar zutage. Busch hatte nicht nur seine internen Kenntnisse an den Feind ausgeliefert, sondern offenbar auch auf die gesamte Arbeiterschaft zersetzend gewirkt. Unter den Verhafteten, die der Zusammenarbeit mit ihm dringend verdächtig waren, befanden sich sogar bewährte Mitglieder der Arbeitsfront. Er wandte sich wieder Möller zu: „Sonst schon irgendwelche Anhaltspunkte?" fragte er. Möller zuckte resigniert die Achseln: „Die halten alle zusammen wie Pech und Schwefel." „Das tun Verbrecher immer", versetzte Scharnke scharf. Er war unzufrieden mit dem Kommissar. Für ihn bestand überhaupt kein Zweifel darüber, dass der Schwarzsender bei den Mitgliedern dieser Siemens-Gruppe zu finden war. Fragte sich nur, bei welchem. Sein Plan stand übrigens fest: die Kneipe sausen lassen und heute Nacht die Häftlinge noch einmal selber vornehmen. Wäre ja witzig, wenn ihn seine Spürnase diesmal im Stich lassen wollte. „Was ist denn das für eine Neuerwerbung?" fragte er jetzt. Er hatte hinter einem Guckloch ein fremdes Gesicht entdeckt. Möller trat neben ihn. „Der Mann einer Jüdin, die sehr stark belastet ist", berichtete er. „Sie soll mit Busch eng konspiriert haben." „Und die Jüd'sche selbst?"
„Ist leider flüchtig. Der Kerl scheint ihre Flucht begünstigt zu haben. Auf jeden Fall haben wir ihn gleich mal mitgenommen."
„Großartig!" sagte Scharnke beifällig. Auf einmal war er wieder besser gelaunt. Was die Jüd'sche betraf - die war ihm sicher. Im vierten Kriegsjahr des Dritten Reiches gab es nicht mehr viele in Deutschland, die einer Jüdin wegen den Hals riskierten. Aber hier war doch endlich mal ein Anhaltspunkt. - Er winkte dem Wachtmann, ließ sich von ihm die Zelle aufschließen. Bei seinem Eintritt fuhr Rudolf Burkhardt erschrocken von seiner Pritsche hoch. Er versuchte, sich auf die Beine zu stellen; es misslang. Seine Gliedmaßen, die in den letzten Stunden zu formlosen Klumpen geschwollen waren, lagen neben ihm, als wären sie abgetrennt. Entsetzen im Blick, sah er um sich. Rudolf hatte in der vergangenen Nacht Gelegenheit gehabt, die unzweifelhaften Fortschritte, die die Gestapo in ihrer Vernehmungstechnik seit 1933 gemacht hatte, am eigenen Leibe kennen zu lernen. Besinnungslos war er schließlich auf der Strecke geblieben. Im Morgendämmern hatten sie ihn aus dem Bunker geholt und wieder in seine Zelle zurückgeschleift. Hier hatte er bis jetzt ohne einen Gedanken gelegen, allen äußeren Eindrücken gegenüber stumpf. Auf dem Tisch stand sein Essen unberührt, von Fliegen umsummt. Ein aufdringlicher Gestank - die Kohlrüben mit dem Geruch von Schweiß und Eiter gemischt - erfüllte den engen, beinahe lichtlosen Raum.
Scharnke trat angeekelt einen Schritt zurück. „Das ist also das Schwein", sagte er. Er maß Rudolf mit seinem gefürchteten eiskalten Blick, der den Häftlingen Schauer der Angst über den Rücken jagte. Rudolf schloss die Augen, auf alles gefasst. Aber zu seiner Verwunderung sagte der andere bloß: „Sie kann's wohl besonders gut - deine Judensau?"
Möller lachte ein breites Alte-Herren-Lachen. Solche Scherze des Untersturmführers gefielen ihm ausnehmend gut. Er fühlte sich dabei angenehm an seinen Stammtisch erinnert. Plötzlich sah er, dass der Häftling reden wollte. „Kannst du nicht aufstehen?" brüllte er ihn an. „Weißt wohl nicht, wen du vor dir hast?"
Gegen die Tür gelehnt, sahen er und Scharnke mit an, wie Rudolf sich auf die Seite wälzte. Von hier aus bemühte er sich, die Beine zu strecken und sie langsam über die Pritschenkante hinaus auf den Boden zu stemmen. Mit ungeheurer Anstrengung hob er dann den Oberkörper, stand endlich aufrecht, zitternd und weich in den Knien. Aber jetzt begann seine Hose zu rutschen, man hatte ihm den Gürtel bei der Einlieferung abgenommen. Rudolf wollte sie mit den Händen halten, aber die Finger waren wie dicke Knoten, die er nicht bewegen konnte. Angst und Scham im Gesicht, musste er es geschehen lassen, dass seine Hose langsam, aber unausweichlich an den Beinen herab zu Boden glitt.
„Prost Mahlzeit", sagte Scharnke, als Rudolf nackt dastand. „Jetzt 'n Schnaps und Zigaretten - dann können wir es uns gemütlich machen."
Er hatte die Wirkung seiner Worte auf den Häftling nicht voraussehen können. Bisher hatte Rudolf alles, was mit ihm geschah, zwar voll Angst, aber mit dumpfem Gleichmut hingehen lassen. Doch die bloße Erwähnung des Wortes „Schnaps" elektrisierte ihn. Zum ersten Mal seit gestern Mittag, als die Gestapo ihn von Lottes Wohnung weg verhaftet hatte, machte er sich klar, was eigentlich mit ihm geschehen war. Sie hatten ihn verhaftet, weil sie Lotte nicht kriegten. Eine maßlose Wut gegen die Gestapo stieg in ihm auf. Daneben quälte ihn eine einzige Vorstellung: Wenn er frei wäre, hätte er Schnaps. Er schmeckte den Alkohol schon auf der Zunge, spürte das Brennen im Halse, als wäre es wirklich. Wie ein Betrunkener war er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Er wusste nur eins, er musste hier heraus.
Er machte einen unbeholfenen Schritt auf Scharnke zu. „Herr Kommissar", stotterte er, „lassen Sie mich frei. Ich weiß ja gar nichts..."
Kommissar Möller, der schon auf dem Flur stand, drehte sich um. „Heute Nacht hat er ganz gut gewusst, wo seine Jüd'sche ist. In Storkow, hat er gesagt." Er hob drohend die Faust. „Bursche! Hast du uns angelogen...!"
Rudolf glotzte ihn an. Heute Nacht? Hieß das, dass er unter den Folterungen ausgesagt hatte? Den ganzen Tag hatte er unter dem Druck dieser Möglichkeit dagelegen, von bohrenden Zweifeln gequält. War er weich geworden? Die Frage beunruhigte ihn nicht
Lottes wegen. Lotte war heute für ihn eine fremde Frau, deren Schicksal ihn nur noch am Rande berührte. Aber er hatte sich selber hineingeritten. Wenn er zugegeben hatte, dass er Lottes Aufenthalt kannte, hieß das, dass sie ihm daraus einen Strick drehen konnten. Sie würden ihn wegen „Fluchtbegünstigung einer Jüdin" belangen. Das konnte ihm jahrelanges KZ einbringen. Rudolf kroch winselnd auf sein Lager zurück, lag mit offenen Augen da, die Beine gekrümmt. Er wusste, er war wohl nie ein großer Held gewesen - aber auch kein Verräter und erst recht kein Dummkopf. Aber Schläge hatte er schon als Kind nicht vertragen können...
Die beiden Beamten stiegen gutgelaunt die Treppe zu ihren Diensträumen hinauf. Möller berichtete. „Er ließ sich ausquetschen wie eine Zitrone - Tröpfchen um Tröpfchen. Zuletzt wussten wir alles."
Sie traten in sein Zimmer; Scharnke wollte für seine nächtlichen Vernehmungen gleich noch die letzten Protokolle mitnehmen. Auf dem Schreibtisch lag eine kurze Notiz: „Fahndung Lotte Burkhardt in Storkow ergebnislos." - „Nanu?" sagte Möller und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. „Hat uns der Bursche doch zum besten gehalten?"
„Oder die Jüd'sche war zu klug, um ihn einzuweihen", sagte Scharnke. „Der Fall fängt langsam an, mir Spaß zu machen." Er angelte über den Schreibtisch hinweg nach dem Zettel, drehte ihn jedoch, ohne ihn noch einmal gelesen zu haben, um und begann dann,
auf der Rückseite Fischchen zu malen. Möller sah ihm eine Weile interessiert dabei zu. Dann fragte er vorsichtig: „Und was werden Sie weiter veranlassen?"
Scharnke sah auf. Er faltete das Papier mit der angefangenen Zeichnung zusammen und steckte es in die Tasche. Dann warf er einen Blick auf den Abreißkalender. „Heute ist der Fünfundzwanzigste. Wetten, Möller, spätestens am 1. September sitzt die Jüd'sche hier bei uns im süßen tête-à-tête, und der Sender steht hier -" Er klatschte mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Wetten, dass...?" Möller lachte. „Wenn es Sie anspornt, Untersturmführer... Voraussetzung ist aber, dass wir die Jüdin schnappen..."
Scharnke antwortete nicht mehr. Er hatte die Protokolle ergriffen, blätterte darin und las sich plötzlich fest. Nach einer Weile sah er auf. „Dieser Weichling da unten hat ein Kind?"
Möller nickte. „Produkt von ihm und der Jüdin. Er hat es angeblich von der Mutter wegholen wollen."
„Na schön", sagte Scharnke. „Wo das Kind ist, wird auch die Mutter hinkommen. Wir werden uns das Gör mal näher beschnuppern."
Er klappte die Protokolle zusammen, klemmte alles unter den Arm und ging zur Tür. Möller kam ihm nach. „Also, was gilt die Wette?" fragte er.
Scharnke drehte sich gar nicht mehr um. „Wie immer", sagte er über die Schulter. „Eine Flasche Armagnac!"

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