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Elfriede Brüning - ... damit du weiterlebst (1949)
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XIV.

Dietrich Scharnke befand sich an diesem Sonntag ganz allein im Büro, das sich die Gestapo in dem Pförtnerhaus des ehemaligen jüdischen Krankenhauses eingerichtet hatte. Eigentlich hatte er dienstfrei, wie an jedem Feiertag. Seine drei Kollegen, mit denen er das Häuschen teilte, waren weggegangen. Nur er war zum Bleiben verurteilt. Er war in der vergangenen Nacht ausgewesen und hatte ein wenig über den Durst getrunken. Nicht erheblich - gerade soviel, dass es ausreichte, um ihn die Misere, in die sein Leben zu versickern drohte, vergessen zu machen. Aber seit kurzem konnte er sich solche Exzesse nicht mehr leisten. Jetzt lag er schon wieder seit fast zwei Stunden auf dem ausgesessenen, verbeulten Diwan und krümmte sich vor Schmerzen, die sich, statt nachzulassen, von Minute zu Minute verschlimmerten. Es war das dritte Mal im Verlauf von wenigen Wochen, dass er solchen Anfall hatte. Der Arzt meinte, es seien die Nieren, und er müsste sich operieren lassen. Aber Scharnke gehörte zu jener Art von Menschen, die alle Ärzte für Wichtigtuer und alle Kranken für Simulanten halten. Krank zu sein war verächtlich - also war er nicht krank. Aber alle seine Anstrengungen,
die Schmerzen zu ignorieren, konnten diese nicht hindern, mehr und mehr von ihm Besitz zu ergreifen. Sie fielen ihn an wie Wölfe und zerrten an ihm, ließen nur für Augenblicke von ihm ab - wie um ihm Zeit zu lassen, von neuem Atem zu holen.
In solchen Minuten lag er völlig erschöpft auf dem Rücken, die Arme unter dem Kopf verschränkt, die Stirn voll Schweiß. Wie trostlos war sein Leben geworden! Alle seine hochfliegenden Pläne, die er nach seiner Versetzung in die Prinz-Albrecht-Straße gehegt hatte, waren zu nichts zerflossen - heute saß er hier auf abgeschobenem Posten, Herr über einen Haufen armseliger Juden; ein Amt, das wahrhaftig nicht dazu angetan war, seinen Ehrgeiz nach irgendeiner Richtung hin anzustacheln, es sei denn, die Juden ihre Ohnmacht und ihre Wehrlosigkeit immer wieder von neuem fühlen zu lassen. Aber selbst seine ausgeklügelten Methoden, die Juden durchs Lager zu jagen, langweilten ihn bis zum Überdruss. Er war übersättigt. Wie ein Vielfraß, der seinen Magen mit derber Kost überladen hat, sehnte er sich nach leichteren, delikateren Speisen. Er litt unter seiner Apathie, die ihn nie mehr verließ, und er sehnte sich - ohne jedoch genau zu wissen, wonach. Manchmal träumte er davon, energisch zu sein, geladen mit Aktivität, begeisterungsfähig, und sei es nur die Begeisterung für die Schürze einer Scheuerfrau. Aber in Wirklichkeit wurde er immer lascher und matter. Er fühlte sich mit seinen fünfunddreißig Jahren rapide alt werden, ohne
jemals jung gewesen zu sein. Er empfand Ekel und Abscheu vor der ganzen Welt, nicht nur vor Juden und Untermenschen. Und das war eine Tatsache, die ihn tief verwirrte. Wirklich brachte er für den Besuch eines Sturmbannführers, der das Lager recherchierte, nicht größere Teilnahme auf als für die Schreie eines halb zu Tode geprügelten Häftlings. Sein ganzes Weltbild war in Gefahr, in die Brüche zu gehen. Und das war der Zeitpunkt, an dem er vor sich selber erschrak. Aber er wusste nicht, wie er sich selber entgehen könnte.
Im Augenblick nahmen ihn seine Schmerzen völlig in Anspruch. Er zog die Knie fast bis ans Kinn und drehte sich ächzend auf die Seite. Dabei zog er wütend an der Klingelschnur über seiner Couch, die er mit der ausgestreckten Hand gerade noch erreichen konnte. Vor einer guten halben Stunde hatte er Ruth Ehmsen, das Hausfaktotum, ins Lager geschickt, mit dem strikten Auftrag, auf irgendeine Weise einen Arzt herbeizuzitieren. Ruth war als dem einzigen Häftling der Zutritt zum Haus der Gestapo erlaubt. Sie war die jüdische Frau eines Spitzels oder, besser gesagt, eines Mannes, der so lange der Gestapo willfährig gewesen war, wie er geglaubt hatte, dadurch seine Frau vor der Verschleppung schützen zu können. Als man sie ins Lager steckte, wurden auch seine Berichte auffallend seltener und einsilbiger. Immerhin genoss seine Frau einige geringe Vorteile, zum Beispiel den, dass sie nicht direkt im Lager wohnte,
sondern im Verwaltungshaus, wo sie allerdings Tag und Nacht den Herren der Gestapo zur Verfügung zu stehen hatte und ständig ihren immer wechselnden Launen ausgesetzt war.
So erschien sie auch jetzt auf Scharnkes Klingeln rasch und lautlos, stand plötzlich vor ihm, wie aus dem Boden gewachsen. Aber in ihrer Stimme zitterte Angst. Sie hatte nichts erreicht. Scharnkes Hausarzt - ein SS-Kamerad - war zu einer Übung über Land, und auf einen fremden Arzt zu hoffen, war völlig absurd. In der jungen, von den Nazis herangebildeten Ärztegeneration war die strenge Auffassung von der Berufspflicht - unter allen Umständen zu helfen, wo immer es Not tat - sehr im Schwinden begriffen. Jeder drückte sich, wo er konnte. Die Jüdin stellte für sich diese Tatsache fest. Laut aber sagte sie: „Es ist eine geprüfte Schwester im Lager. Wenn Herr Untersturmführer nichts dagegen haben..."
„Herkommen!" knurrte Scharnke. Er krümmte sich, schlug die Zähne in die angezogenen Knie, um nicht laut zu brüllen. Dann lag er minutenlang starr und steif, immer in derselben Haltung, reglos, wie verkrampft, die Hände so stark geballt, dass die Knöchel spitz und weiß hervorstachen. Als er wieder zu sich kam und den Kopf drehte, stand Lotte Burkhardt vor ihm. Er sah sie hilfeflehend aus seinen farblosen Augen an.
„Spritze", lallte er. „Geben Sie mir eine Spritze, bitte..."
Lotte rührte sich nicht, sah nur unbeweglich auf ihn hinunter. Sie wusste, dass Scharnke nierenkrank war Schadenfroh hatte man im Lager zur Kenntnis genommen, dass ihn schon mehrmals heftige Koliken heimgesucht hatten. Koliken wie diese - in denen der Mensch, der sie erdulden muss, zu sterben meint. Nie aber hatte Lotte zu hoffen gewagt, dass ihr Scharnke in solchem Zustand in die Hände fiele. Sie stand immer noch reglos. Selbst wenn sie gewollt hätte, würde sie nicht vermocht haben, sich zu rühren. Der große helle Raum, in den sie urplötzlich versetzt worden war, lähmte sie, vom ungewohnten Licht schmerzten die Augen. Seit einigen Wochen hauste sie, auf besondere Anordnung von Scharnke, mit anderen so genannten „schweren Fällen" im Gefängniskeller, in einem Raum neben der Anatomie, in dem früher die Versuchstiere des Labors untergebracht gewesen waren. Ihr „Aufenthaltsraum" war eine frühere Ziegenbox, die ihr nicht einmal erlaubte, sich bis zu ihrer vollen Größe aufzurichten. Den ganzen langen Tag kauerte sie in halb sitzender Stellung - liegen war verboten - auf dem Boden. Von jener Hölle in die relativ auffallende Eleganz dieses Büros versetzt, schloss sie wie geblendet die Augen. Dabei war es ihr klar, dass die nächsten Minuten ihre volle Konzentration verlangten, wenn sie die Situation nützen wollte.
Der Kranke angelte nach ihrer Hand. „Helfen Sie mir!" flehte er noch einmal, kaum verständlich. „Helfen Sie mir doch - ich sterbe..."
Lotte sah ein, dass sie irgend etwas unternehmen musste, wenn auch nur zum Schein. Sie hatte nicht die Absicht, Scharnke wirklich zu helfen. Dieses eine Mal trat ihr Pflichtgefühl hinter persönlichen Rachegefühlen zurück. Sie wollte die Macht, die sie durch Zufall heute über ihn hatte, bis zur Neige auskosten. Sie drehte sich lässig zu Ruth Ehmsen um:
„Gibt es hier ein Heizkissen?"
Ruth nickte und trat zum Schrank, um es herauszuholen. Lotte schaltete ein. Die Wärme würde Scharnkes Schmerzen ein wenig lindern - aber sie würden immer noch groß genug sein, um ihn bis aufs Blut zu peinigen. Dieser Zustand dauerte gewöhnlich zwei bis drei Tage - und Scharnke wusste das. Er umklammerte Lottes Hand, als sie ihm das Heizkissen zurechtrücken wollte. Seine Lippen zitterten, seine Augen irrten unruhig über ihr Gesicht.
„Nicht", sagte er bloß und stieß ihre Hand ein wenig zurück. „Ich will Morphium - nicht diesen Humbug. Morphium will ich, verstanden?"
Seine Stimme hatte an Kraft etwas zugenommen, und sofort verfiel er in seinen gewohnten Gestapoton. Lotte überlegte hastig. Kein Arzt würde ihm die Morphiumspritze vorenthalten. Sie konnte seine Schmerzen also längstens bis zu dem Zeitpunkt ausdehnen, an dem es ihm gelang, einen Arzt zu bekommen. Das war spätestens morgen der Fall, wenn der Lagerarzt kam. Es war also ratsam, scheinbar dienstbeflissen auf Scharnkes Wünsche einzugehen und zu versuchen,
soviel wie möglich für sich selbst dabei herauszuschlagen. Das Wichtigste war, dass sie die Mitteilung aus ihm herauspresste, wohin er Eva verschleppt hatte. Sie beugte sich rasch zu ihm hinunter:
„Ich gehe gleich und hole das Morphium. Aber sagen Sie mir doch, wo Eva ist..."
„Welche Eva?" fragte Scharnke verständnislos.
„Meine Tochter - die kleine Zehnjährige! Sie haben sie doch von ihrer Großmutter weggeholt. Sie haben sie verhaftet. Sie haben mir erzählt, dass Sie sie irgendwohin gebracht haben..."
Scharnke schüttelte den Kopf. „Ich kenne deine Eva nicht", sagte er. „Ich weiß überhaupt nicht, was du eigentlich willst..." Er stöhnte, seine Augen traten aus ihren Höhlen. Auf seiner Stirn sammelte sich blanker Schweiß. „Geh, Morphium holen!" bat er wieder, eigensinnig wie ein Kind vor dem Einschlafen.
Lotte fiel plötzlich neben ihm auf die Knie. „Darf ich mein Kind einmal sehen, Herr Untersturmführer? Bitte, nur ein einziges Mal! Darf es mich besuchen?"
„Meinetwegen!" sagte Scharnke gleichgültig. Er war tatsächlich zu allem bereit. Er versprach sogar, das Kind durch die Polizei holen zu lassen, weil Lotte befürchtete, dass die alte Frau Burkhardt es sonst nicht weglassen würde. Er versprach alles - aber er jammerte unentwegt nach der Morphiumspritze.
Noch einmal wurde Lotte in Versuchung geführt, als sie wenige Minuten später vor dem wohlgefüllten Medikamentenschrank stand. Sauber sortiert stand hier alles vor ihr: von der harmlosesten Tablette bis zum rasch wirkenden Gift. Sie brauchte bloß die Hand auszustrecken - und sie war ihren Peiniger für immer los. Aber sie war klug genug, um das Törichte einer solchen Handlungsweise einzusehen. Scharnke zu vernichten, würde ihr vielleicht gelingen. Aber der Geist der Zerstörung, der in ihm war, lebte in Hunderten anderer Scharnkes fort, die niemals aufhörten, unschuldige Menschen zu quälen. Und am Ende machte sie sich mit einer solchen Tat nur selber unglücklich.
Scharnke hielt übrigens Wort, was Eva betraf. An einem Mittwoch schickte er den Wachtmeister weg, sie zu holen. An diesem Mittwoch war er wieder allein im Büro, seine Mitarbeiter waren auswärts beschäftigt. Um die Stunde, als das Kind zu ihm kommen sollte, stand er am Fenster und blickte über den öden Lagerhof hinweg auf das Eingangstor. Es wurde schon dämmrig, obwohl es noch früh am Nachmittag war. Die spärlichen Bäume auf dem Hof standen schon entlaubt. Die Pflastersteine glänzten vom Regen. Es regnete nicht stark - es war nur ein feiner, dünner Nieselregen, den man nicht sah, den man aber überall, selbst hier im Zimmer, zu spüren meinte. Er durchdrang die Haut und machte frösteln. Grau in Grau hing der Himmel dicht über den Dächern.
Scharnke, der in seinen Stimmungen sonst wie ein altes Weib vom Wetter abhing, fühlte heute trotz des unfreundlichen, nasskalten Novembertages keinen Missmut in sich aufkommen. Im Gegenteil war er von
einer fast heiteren Erwartung erfüllt, über deren Ursprung er sich keine Rechenschaft ablegte. Er freute sich, dass er allein im Büro war, und seltsamerweise fühlte er ein angenehmes Prickeln bei dem Gedanken daran, dass das Kind der Jüdin jeden Augenblick bei ihm eintreten würde.
Wirklich erschien Eva Burkhardt auf die Minute pünktlich am Tor. Scharnke sah sie auf sich zukommen: ein langaufgeschossenes, schmalgliedriges Kind mit hohen, schlaksigen Beinen. Das rötlichschwarze Haar hing ihr in Locken über beide Schultern herab und umrahmte das blasse Gesicht, aus dem zwei große, altkluge Augen blickten. Über der geraden Nase stand wie ein Strich eine steile Falte.
Scharnke gab dem Polizisten, der das Kind hereingeführt hatte, einen Wink, und der entfernte sich nach einem strammen „Heil Hitler!". Eva blieb unschlüssig an der Tür zurück. Scharnke saß am Schreibtisch, scheinbar in seine Papiere vertieft. In Wirklichkeit waren alle seine Sinne gespannt auf das Kind gerichtet. Von Zeit zu Zeit sah er es verstohlen von der Seite an. Eva hatte den Kopf wie aus Langeweile gegen den Pfosten gelehnt und stand abwartend da, keine Spur von Angst in der Haltung. Die Furchtlosigkeit, die sie zur Schau trug, frappierte ihn, obwohl er fest davon überzeugt war, dass sie nur Theater spielte. Bisher hatte noch jeder vor ihm Angst gehabt; vor seiner Uniform, vor seinem Dienstgrad, allein vor dem Gebäude, in dem er amtierte. Sicher zitterte auch
diese Kleine vor Angst; sie war nur geschickt genug, es zu verbergen. Um so mehr reizte es ihn, ihre wahren Gefühle kennen zu lernen.
Er drehte sich plötzlich auf seinem Stuhl herum.
„Weißt du eigentlich, weshalb du hier bist?" fragte er. Das Kind schüttelte stumm den Kopf.
„Na, du musst dir doch irgend etwas dabei gedacht haben. Das hier ist ein KZ, wie du siehst. Mit Stacheldraht und vielen Posten davor. Wenn ich Lust habe, sage ich ein einziges Wort, und du kommst nie mehr hier heraus. Na?" Er stand auf und trat auf sie zu, sah auf sie hinunter mit dem angespannten Blick eines Chirurgen, der sein Opfer unter dem Messer hat und der noch darüber nachdenkt, auf welche Weise er den Schnitt am besten ansetzt.
Eva schüttelte den Kopf. „Sie werden mich nicht einsperren", sagte sie sehr bestimmt. „Dies hier ist ein Judenlager. Und ich bin keine Jüdin."
„Sieh mal einer an!" höhnte Scharnke. „Aber du hast doch eine jüdische Mutter, nicht wahr? Sie ist hier - ein niederträchtiges, dreckiges Frauenzimmer. Sie will dich sehen. Na, was sagst du dazu?"
Er registrierte mit Befriedigung, dass das Kind zu zittern anfing. Eva presste die Lippen hart aufeinander, als fürchte sie, ein unbedachtes Wort auszusprechen. Sie war sehr blass. Die Falte über ihrer Nase vertiefte sich und gab ihrem Gesicht etwas Mürrisches, Abweisendes, Verschlossenes. Aber wieder hatte Scharnke den Eindruck, dass das Kind, so klein es
war, eine Maske aufsetzte. Das wahre Gesicht lag darunter noch für ihn verborgen.
„Du gehst doch gern zu deiner Mutter?" forschte er, in dem Bestreben, tiefer in ihre Gedankenwelt einzudringen. Eva zuckte die Achseln. „Wenn ich soll...", sagte sie unbestimmt.
„Vom Sollen ist keine Rede, mein Kind", erwiderte Scharnke ungewöhnlich geduldig. „Es kommt darauf an, wohin du gehörst. Willst du zu deiner Mutter -gut, ich will dich nicht hindern. Dann kannst du gleich für immer hierbleiben. Etwas anderes ist es..."
Eva unterbrach ihn. „Ich gehe nicht zu ihr!" rief sie heftig. „Großmütter hat es mir sowieso verboten. Ich habe nichts mit ihr zu schaffen. Ich hasse die Juden!"
Scharnke nickte bloß, er hätte in diesem Augenblick nicht sprechen können. Eine seltsame Spannung erfüllte ihn und drückte ihm die Kehle zu. Er war in fiebriger Erwartung wie im Theater, in der letzten aufregenden Minute vor Beginn der Vorstellung, ehe der Vorhang hochgeht. Als er endlich sprach, klang seine Stimme brüchig und heiser, so wenig hatte er sie in der Gewalt. „Dein Vater ist Nichtjude?"
Eva nickte.
Scharnke drehte sich auf dem Absatz um, ging ein paar Mal auf und ab, blieb plötzlich wieder vor Eva stehen.
„Wann ist der Führer geboren?" fragte er jäh. Das Kind sah ihn hilflos an, ohne zu antworten.
Scharnkes Augen flammten: „Wo wohnt der Führer -weißt du wenigstens das?"
„In der Reichskanzlei", sagte Eva rasch. Sie sah zu Scharnke auf, froh und erleichtert, weil sie hatte antworten können - eine Ohrfeige klatschte ihr gleich darauf mitten ins Gesicht.
„Falsch!" sagte Scharnke. „Der Führer wohnt im Herzen seiner Arbeiter! Das solltest du eigentlich wissen, Judenbalg!" Er ging ins Nebenzimmer, kam mit einer dünnen Gerte zurück, die er spielerisch zwischen beiden Händen bog. Er ließ sich aufs Sofa fallen. „Komm mal her!" befahl er. Er wartete, bis Eva zögernd, am ganzen Leibe zitternd, näher kam. Als sie dicht vor ihm stand, versetzte er ihr mit der Gerte einen kräftigen Hieb.
„Bist du ein dreckiger Judenbastard?" Er sah sie lauernd an.
Eva fing an zu weinen, lautlos, ohne sich zu regen. Die Tränen tropften über ihr starres Gesicht, in dem sich kein Muskel regte. Erst bei dem zweiten Hieb schrie sie auf, Scharnke schlug immer weiter. Er war wieder aufgestanden und stand groß vor dem Kind, drohend, furchtgebietend. „Bist du ein Judenbalg?" wiederholte er. „Gibst du endlich zu, dass du ein Judenschwein bist?"
„Ja", sagte das Kind und sank in die Knie.
Scharnke hielt aufatmend inne. Seine Züge erschlafften, er sah plötzlich alt und verwüstet aus. Er riss Eva vom Boden hoch und zog sie dicht zu sich heran,
zwang sie, zu ihm aufzusehen. „Du kommst jetzt zweimal die Woche her", bestimmte er, „und ich unterrichte dich in nationalsozialistischer Weltanschauung. Ich nehme mir vor, einen anständigen Menschen aus dir zu machen - verstanden? Wir können gleich anfangen. Sprich nach: Die Juden sind unser Unglück!"
„Die Juden sind unser Unglück", sagte Eva gehorsam.
„Lauter! Ich will was hören. Meine Mutter ist eine dreckige Jüdin."
„Meine Mutter-" Sie stockte. Doch angesichts
der drohend geschwungenen Gerte setzte sie rasch hinzu: „...ist eine dreckige Jüdin."
„Man soll sie aufhängen."
„Man soll sie aufhängen."
„Meine Liebe gehört dem Führer."
„Meine Liebe gehört..."
So ging es über eine Stunde lang: Satz für Satz, Wort für Wort, die Scharnke mit einer Genauigkeit aneinanderreihte, als handle es sich um mathematische Formeln. Bei jeder Stockung im Nachsprechen sauste der Stock auf Evas Rücken hinunter, und die Sätze folgten einander so rasch, dass sich das Kind nicht nur unter dem zu erduldenden Schlag, sondern schon aus Angst vor dem folgenden duckte. Endlich ließ Scharnke die Gerte sinken. Er fiel aufs Sofa und lehnte sich ins Polster zurück, Arme und Beine weit von sich streckend. „Auf Sonntag denn", sagte er erschöpft. „Dann wiederholen wir das heute Gelernte."
Vollkommen glücklich blieb er sitzen, als Eva an ihm vorbei zum Ausgang schlich. Fast sah es aus, als sei sie schon sein Geschöpf: scheu, gehorsam, untertänig. Aber da war noch ihr Gesicht, das ihn tief erregte. Dieses Gesicht war die Jüdin Lotte, und es war zu einem Teil Eva Burkhardt selbst. Aber es sollte eines Tages etwas ganz anderes sein. Zug um Zug sollte es seinem eigenen gleichen. Es dahin zu bringen, war seine Aufgabe. Eine nicht alltägliche Aufgabe, ihm angemessen. Er würde das kleine Kindergesicht kneten und formen, um es mehr und mehr dem seinen ähnlich zu machen. Vielleicht würde er es sogar zertreten müssen...

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