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Elfriede Brüning - ... damit du weiterlebst (1949)
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XII.

Der Raum war kahl und sehr groß. In der Mitte stand der Stuhl, auf dem Lotte saß. Die großen Scheinwerfer waren jetzt ausgeschaltet. Hinter den Milchglasscheiben dämmerte der neue Tag - eine breiige, trübe Wolke von Licht. Die quälende Stimme, die aus der Ecke kam, wo der Schreibtisch stand, war endlich verstummt. Lotte spürte, wie sich ihre Sinne verwirrten. Nach einer zähen Nacht voller endloser Fragereien stülpte sich der Schlaf über sie wie ein Netz, das sie gefangen nahm und mit in die Tiefe riss. Sie versuchte gar nicht erst, sich dagegen zu wehren. Sie fühlte, wie ihre Glieder sich lösten, dann spülte sie davon, hilflos, widerstandslos, wie ein im Wasser treibendes Schiff aus Papier, das sich langsam auflöst und auseinander fällt...
Die Stimme riss sie wieder an die Oberfläche. Als tauche sie wirklich aus dem Wasser empor, fühlte Lotte kalte Feuchtigkeit auf der Stirn. Als sie hinfasste, merkte sie, dass ihr der Schweiß in Strömen das Gesicht hinunterlief. Vor ihr stand Herbert Busch.
„Kennst du die Frau?" fragte wieder die Stimme aus der Ecke. Die Stimme war kalt, metallisch, sie durchschnitt den Raum wie ein Säbelhieb. Lotte
duckte sich unwillkürlich. „Das ist Lotte Burkhardt", sagte Herbert Busch, „aus der Kontrollabteilung."
„Aha", sagte die Stimme im Hintergrund anscheinend zufrieden. „Na, erzähl mal ein bisschen, Bursche. Was hast du denn mit Lottchen getrieben? - Oder soll ich dir dein Maul auseinander reißen?" Das letzte klang drohend.
Jetzt erst wurde Lotte vollkommen wach. Sie starrte Herbert ins Gesicht. Es war schwer, hinter der Maske von stumpfem Gleichmut, die er aufgesetzt hatte, seine wahren Züge zu erkennen. Seine Haut war aschgrau, ebenso sein Haar, der ganze Kopf war gleichsam wie mit Müll überstäubt. Seine Augen waren ausdruckslos ins Leere gerichtet. „Lotte Burkhardt war Vorarbeiterin in ihrer Abteilung", sagte er jetzt monoton, als leiere er etwas unzählige Male Gesagtes noch einmal ab. „Sie musste mir die fertigen Stücke zur Abzeichnung herüberbringen..."
„Sie allein - oder auch noch andere?" fragte Scharnke dazwischen.
„Nur Lotte. Sie war ja verantwortlich für ihre Abteilung..."
„Sie stand also als einzige mit dir in Verbindung?
Herbert zögerte. Vielleicht merkte er erst jetzt, dass er in eine Falle gegangen war. Aber es gab kein Zurück. Noch bevor er sich eine Antwort zurechtlegen konnte, brüllte Scharnke: „Abführen!" Und die zwei Wachtmänner, die an der Tür gestanden hatten, sprangen herbei und schleppten ihn hinaus.
Scharnke trat dicht vor Lotte hin. „Na siehst du, Puppe. Da haben wir den Beweis. Du hast von dem Kerl die Nachrichten übernommen und hast sie abends gesendet. Du bist die einzige, die dafür in Frage kommt. Oder weißt du es besser?"
Er sah sie fordernd an. Lotte presste die Nägel in ihre Handflächen und schloss die Augen. Sie war völlig erschöpft. Die ganze Nacht hindurch hatte sie standgehalten. Vorhin hatte ihr Scharnke Herberts Bild hingeschoben, das übliche Photo der Gestapo für ihr „Verbrecheralbum". Herberts klargeschnittenes Gesicht im Profil. Sie hatte es gleichgültig wieder zurückgereicht. Sie hatte auch geschwiegen, als er ihr, eins nach dem anderen, die übrigen zeigte. Bei jedem bekannten Gesicht hatte es ihr im Innern einen Stich gegeben - den haben sie auch, und den, und den... Ein einziges Mal hatte sie fast die Fassung verloren - als sie Rudolf erblickte. Aber gleich hatte sie sich wieder in der Gewalt gehabt. Sie hatte weiter geschwiegen, nachdem man ihr später die Wadenschrauben anlegte, als man sie danach zwang, stundenlang reglos auf dem zugigen Flur zu stehen, mit dem Gesicht zur Wand - obgleich sie sich vor Schmerzen kaum noch aufrecht hielt. Auch bei dem Kreuzverhör dreier Gestapobeamter hatte sie verbissen geschwiegen. Jetzt hatte man sie mit Scharnke, ihrem „Flieger", wieder allein gelassen. Aber seine besondere Art, sie
quälen, berührte sie kaum noch. Sie fühlte sich leergebrannt, ausgelaugt wie nach einem großen Brand, der alles, was an Empfindungen in ihr gewesen war und sie mit Leben gefüllt hatte, bis auf den Grund vernichtet hatte. In ihren Augen stand als einziges der feste Entschluss, weiter zu schweigen. Auf keinen Fall der Gestapo auch nur den kleinsten Hinweis zu geben.
Scharnkes Augen verengten sich. Er zog die Lippen nach innen. Als er sie wieder losließ, waren sie weiß, als hätte er alles Blut mit den Zähnen herausgepresst. Sein Blick war von der kalten Entschlossenheit eines Metzgers, der eben dabei ist, seinem Opfer den entscheidenden Hieb zu versetzen.
„Wir haben übrigens deine Göre eingesperrt", sagte er gleichmütig. In der kurzen Pause, die er einschaltete, um die Wirkung seiner Worte zu registrieren, sah er ihr neugierig ins Gesicht.
Als Junge hatte er einmal eine Katze ersäuft. Immer, wenn sie halb hinüber war, hatte er sie wieder aus der Tonne herausgefischt, hatte sie zu Atem kommen lassen und dann von neuem untergetaucht. Auf diese Weise hatte er zwei Stunden mit ihr zugebracht. An diese Episode musste er plötzlich denken. Er sah von der Jüdin weg und beguckte sich seine blankpolierten Fingernägel. „Es wäre besser fürs Kind, wenn du dich endlich zum Reden entschließen würdest..."
Er sah mit Genugtuung, dass Lotte fahl wurde. Die Schatten unter ihren Augen vertieften sich, ihr Kopf sank nach vorn - von einer Minute zur anderen schien sie zu altern. „Wo ist Eva jetzt?" fragte sie nach einet
Weile. Auch ihre Stimme klang brüchig, wie von einer alten Frau.
Scharnke antwortete mit robustem Lachen. „Keine Sorge, Puppe - die ist gut aufgehoben. Wir haben bloß dafür gesorgt, dass sie keinen Schaden anrichten kann..."
Er wollte sich noch weiter über das Thema verbreiten, aber in diesem Augenblick wurde er durch Möller gestört, der mit ungewohntem Schwung zur Tür hereinkam, sofort auf Scharnke zuging und ihm etwas zuflüsterte.
Scharnke wurde blass. Mit einer Kopfbewegung befahl er den beiden Posten, Lotte in den Keller zurückzubringen. Als sie weg war, wandte er sich zu Möller um. „Menschenskind, wie haben Sie denn das fertig gebracht?" fragte er. Seiner Stimme war der Ärger deutlich anzumerken. Möller hatte ihm soeben die Nachricht gebracht, dass das Sendegerät unten bei ihm auf dem Schreibtisch stünde. Täter war die Schwangere aus der Eisbude und ihr Mann, den Möller von der Kaserne weg sofort verhaftet hatte. Natürlich sonnte sich Möller in seinem Triumph.
„Meine Ahnung, meine Ahnung!" sagte er stolz. „Der Bursche kam mir gleich nicht geheuer vor. So einer wird nie im Leben Soldat - das ist und bleibt ein abgefeimter Verbrecher. Für den ist der Galgen noch zu schade."
„Hat er denn gestanden?" fragte der Untersturmführer. Er nährte immer noch eine stille Hoffnung.
Aber Möller zerschlug sie ihm. Er schob ihm die Protokolle hin. „Die reinen Engel", sagte er ironisch, während Scharnke die Aussagen überflog. „Jeder will den anderen entlasten und nimmt die Schuld auf sich. Natürlich gehören beide einen Kopf kürzer gemacht."
Scharnke schwieg. Er zerrte an seiner Krawatte, die ihm plötzlich wie ein Knäuel am Halse saß. I hm war zumute, als wäre er selbst der Gefangene. Dieser Fall brach ihm das Genick, das wusste er jetzt. Er hatte sich zu stur auf eine einzige Spur konzentriert, hatte noch gestern dem Sturmbannführer gegenüber gewitzelt, dass sich sein „Unbekannter" in „die Unbekannte von der Panke" verwandelt habe, die er ihm allerspätestens morgen zuführen würde. Doch statt dessen würde morgen alles zerplatzen, der ganze Stab würde sich über ihn lustig machen. Das Fatale war, dass die Wahrheit so nahebei gelegen hatte. Die Sarah hatte mit den Steffens konspiriert, hatte ihnen wahrscheinlich das Material für ihre Sendungen aus erster Hand besorgt. Was lag also näher, als diese Steffens aufs Korn zu nehmen... Aber gerade diesen einfachen Weg hatte er übersehen, hatte sich den Coup von seinem Untergebenen aus der Hand schlagen lassen. Diese Niederlage konnte er nicht verwinden.
Er trat zum Telefon und ließ sich mit dem Keller verbinden. Eigentlich hatte er vorgehabt, die Jüd'sche nachher noch zu zwiebeln, aber jetzt war ihm der Spaß daran gründlich verdorben. Er gab Weisung, die Burkhardt ins Polizeigefängnis zu bringen.
„Zur Entlassung?" fragte der am anderen Ende der Leitung.
„Döskopp!" erwiderte Scharnke missmutig. „Sie bleibt natürlich zur Verfügung der Dienststelle..."
Zehn Minuten später wurde Lotte mit noch vier anderen in die „Grüne Minna" verladen. Zwischen je zwei Häftlingen saß ein Posten, das Gewehr zwischen den Knien. Die beiden Männer, die Lotte gegen­übersaßen, hatten dick verschwollene Gesichter, als hätten sie eben einen Faustschlag bekommen. Beide hatten den Kopf tief zwischen ihre Schultern gezogen, beide blickten reglos zu Boden. Die Frau auf Lottes Bank hatte sich bei ihrem Eintritt neugierig vorgebeugt, war aber sofort wieder zurückgewichen, weil ihr der Posten einen kräftigen Stoß in die Rippen gab. Jetzt rührte sich keiner mehr. Der vierte, gleichfalls auf der anderen Seite, saß in die Ecke gedrückt und schien zu schlafen. Er war noch ganz jung, ein schmales Gesicht, durchsichtig wie Glas, von dem man alle Gedanken ablesen konnte. Als er nach einer Weile die Augen aufschlug, erschrak Lotte vor dem Hass, der sich darin gesammelt hatte. Er erinnerte an gewaltsam gebändigte Wassermassen, die den Deich, hinter dem sie aufgestaut sind, jeden Augenblick zu durchbrechen drohen.
Draußen ging das Leben weiter wie sonst. Lotte, die dem Ausgang am nächsten saß, erspähte einen Ausschnitt davon durch die schmale Scheibe der Tür. Vor den Lebensmittelläden die üblichen Schlangen.
Eine Gruppe BDM-Mädchen mit knallroten Sammelbüchsen. Wie eine Fratze darauf das Hakenkreuz. Kurz vorm Alex gab es eine Stockung, der Wagen blieb stehen. Über den Stadtbahnbogen fuhr in diesem Augenblick donnernd ein Güterzug, beladen mit Panzern, Pak-Geschützen, Kanonen - in Richtung Osten. Aus entgegengesetzter Richtung kam ein Zug mit Verwundeten. Auf dem Bahnsteig Schwestern, die beim Ausladen halfen. Die ersten Soldaten, auf Stümpfen. Ihre Gesichter hoben sich wächsern gegen den fahlen Septemberhimmel ab.
Lotte wandte den Kopf. Auf einmal schien ihr der Unterschied zwischen der Welt da draußen und jener anderen, der sie seit gestern angehörte, gar nicht mehr groß. Auf beiden Seiten wurde gestorben, getötet. Auf ihrer Seite vielleicht ein bisschen systematischer, heimlicher. Drüben regelloser, zufälliger - aber ebenso grausam und keineswegs seltener. Schließlich war es gleichgültig, welcher Methode man unterworfen war. Es lief in beiden Fällen auf dasselbe hinaus... Der Wagen ruckte wieder an, nahm die letzte Kurve um den Alex - sie waren da. Die Posten rissen die Tür auf und sprangen hinunter.
Lotte kam mit der anderen in die Frauenabteilung. Beim Eintritt in die „Aufnahme" stockte ihr Herzschlag. In dem Raum, der mit noch drei, vier anderen neu Eingelieferten angefüllt war, entdeckte sie, halb hinter der Tür verborgen, Hilde Steffen. Auch Hilde zuckte zusammen, als sie Lotte sah. Sekundenlang trafen sich ihre Blicke, senkten sich ineinander - der von Hilde ruhig wie immer, klar, beherrscht; er strahlte eine Zuversicht aus, die Lotte verwirrte. Jetzt erst bemerkte sie auch die alte Frau Steffen im Hintergrund. Sie wollte versuchen, sich unbemerkt einer von beiden zu nähern, um einiges über die Verhaftung zu erfahren. Doch in diesem Augenblick griff die Beamtin nach Lottes Karte, las: „Straftat: Landesverrat" und den Vermerk auf der Rückseite „Streng isolieren!", der rot unterstrichen war. Sie sah sich suchend um. Die Wärterin, die Lotte hinausführen sollte, war gerade nicht da. So stand sie selbst auf und brachte Lotte in den Nebenraum. Hier stand in der Mitte ein dichtmaschiges Drahtgestell, der so genannte „Hundezwinger" Sie schloss die Tür auf und schubste Lotte hinein. Lotte lehnte den Kopf gegen das kalte Eisengitter. Der Zwinger stülpte sich über sie wie eine Käseglocke, und sie selbst kam sich darunter hilflos wie ein gefangenes Insekt vor. Sie lachte ironisch. Man hatte sie hier eingesperrt wie einen Schwerverbrecher, dreifach gesichert, um jede Flucht zu verhindern. Und doch hatten sie nicht daran gedacht, dass man sich auch noch auf andere Art und Weise davonmachen konnte. Sie fühlte, wie ihr plötzlich am ganzen Körper der Schweiß ausbrach. Ein Gedanke setzte sich hartnäckig in ihr fest. Ihr Leben war verwirkt, das wusste sie. Über die Konsequenzen ihrer Handlungen waren sich alle Mitglieder der Gruppe stets im klaren gewesen. Aber bei Lotte ging es noch um etwas anderes. Ihr
Kind wurde ihretwegen verfolgt. Weil man sie, Lotte zu Geständnissen zwingen wollte, hatte man ihr Kind eingesperrt, misshandelte es vielleicht sogar. Bei dem Gedanken daran stöhnte sie laut. Sie fing an, in dem Zwinger herumzugehen, immer im Kreise, wie ein gefangenes Tier. Was bedeutete sie Eva noch? fragte sie sich. Bei der Großmutter wurde das Kind gegen sie aufgehetzt. Im KZ oder wo immer man es hingeschleppt hatte, war es neuen schädlichen Einflüssen preisgegeben. Und sie selbst hatte keinerlei Gelegenheit, dem Gift, das sich langsam in der Seele des Kindes ausbreiten musste, entgegenzuwirken.
Sie blieb wieder stehen, presste den Kopf so fest ans Gitter, dass sich auf ihrer Stirn das Muster der Kreuze eindrückte. Von nebenan tönten Hildes knappe, klare Antworten herüber. Sie gab ihre Personalien an. Dann die der Schwiegermutter. Dann die ihrer Mutter. Die ganze Familie hatte also daran glauben müssen. Lotte zweifelte nicht daran, dass Hans gleichfalls verhaftet war. Die Steffens waren ein zweiter Grund für ihren Entschluss. Sie wusste zuviel von ihnen. In der Gruppe hatten sie feierlich beschlossen, sich das Leben zu nehmen, wenn die Gefahr bestand, dass einer am anderen zum Verräter wurde. Für Lotte war dieser Zeitpunkt herangekommen. Nach der letzten Nacht wusste sie, dass der Festigkeit ihrer Nerven Grenzen gesetzt waren. Ein zweites Mal würde sie sich einer „Vernehmung" vielleicht nicht mit der gleichen Standhaftigkeit widersetzen können.
Ihre Knie gaben nach, sie musste sich stützen. Einen Atemzug lang zog sie die Lider weit über die Augen. Sie hatte nicht gewusst, dass ihr der Absprung so schwer fallen würde. Dieser letzte Absprung - zu dem sie fest entschlossen war. Und sie musste rasch handeln. Der Entschluss zum Selbstmord, der so plötzlich in ihr gereift war, duldete keine Minute Aufschub. Jeden Augenblick konnte sie aus dem Zwinger wieder herausgeholt werden. Dann wurde sie wieder bewacht. Und sie wusste, dass man ihr nachher alle Gegenstände des persönlichen Bedarfs, die die Durchführung eines Selbstmordes vielleicht ermöglichen konnten, abnehmen würde. Noch hatte sie ihren Ledergürtel. Sie nestelte ihn los, versuchte, das eine Ende an der Decke des Drahtgitters festzuknoten.
Plötzlich war es ihr, als ob jemand näher kam. Rasch zog sie den Gürtel wieder herunter und stopfte ihn in ihre Tasche. Die Beamtin erschien mit noch einer Frau. Sie schloss die Eisentür auf, schob die andere hinein, sperrte wieder ab. Das Ganze vollzog sich stumm in Sekunden.
Lotte war allein mit der Fremden. Sie war noch jung; aufgedonnert, eine von der Straße vermutlich. Knallrote Lippen, die Schminke in den Ecken verschmiert, gefärbtes Haar, feuerrote Fingernägel mit schwarzen Rändern. Sie ging sogleich in eine Ecke des Zwingers und kauerte sich auf den Boden. Ihre Augen Mickten ausdruckslos vor sich hin.
Lotte sah sich um. Die Beamtin hatte die Tür nach
nebenan weit offengelassen. Jetzt hörte man von drüben jedes Flüstern. Lotte reckte sich, legte den Gürtel behutsam noch einmal zu einer Schlinge zusammen. Als sie sich umdrehte, begegnete sie dem Blick der Fremden, die ihr neugierig zusah. Lotte kniff die Lippen zusammen. Der Zorn über das Dazwischentreten der anderen übermannte sie plötzlich. Einen Augenblick stand sie unschlüssig, zwischen widersprechenden Gefühlen hin und her gerissen. Dann siegte die Vernunft. Bei nüchterner Überlegung musste sie sich sagen, dass die Fremde ihren einmal gefassten Plan nicht zu stören brauchte. Sie musste nur versuchen, sie auf ihre Seite zu ziehen, und erreichen, dass sie sich ruhig verhielt. Einem plötzlichen Impuls folgend, beugte sie sich zu ihr hinunter, bedeutete ihr durch Gebärden, worum es ging. Die Frau nickte teilnahmslos, nur ihre Augen weiteten sich fast unnatürlich. Dann drehte sie schwerfällig ihren ganzen Körper herum, bis sie mit dem Gesicht zum Fenster saß und fing an, den abgeblätterten Lack von ihren Fingernägeln herunterzupellen. Eine Beschäftigung, die sie völlig in Anspruch nahm. Lotte arbeitete jetzt eilig, stumm und entschlossen. Sie befestigte den Gürtel an der Decke, zog ein paar Mal daran, um seine Haltbarkeit auszuprobieren. Er war in Ordnung. Sie zog die Schuhe aus. Kletterte vorsichtig, jedes Geräusch vermeidend, an dem Gitter hoch, reckte den Hals nach vorn. Ihre Finger, die nach der Schlinge griffen, klebten von Schweiß. Ihr Kopf war leer, ausgepumpt, zu
keinem Gedanken fähig. Nichts war darin als eine große Müdigkeit. Diese Müdigkeit begann im Kopf und lief kribbelnd über den ganzen Körper hin, wie kleine flinke Ameisen - Ameisen, die man nicht abschütteln konnte, denn es kamen immer neue Scharen, und zuletzt war man zugedeckt von ihnen wie von einem großen schweren Tuch...
In diesem Augenblick erklang ein gellender Aufschrei. Der Schrei kam nicht von der Fremden, das unterschied Lotte noch - dann fühlte sie sich roh heruntergerissen. Zwei Paar Arme packten sie derb an. Sie sah neben sich das erschrockene Gesicht der Beamtin - „Dieses feige Judengesindel!" - und den brutalen breiten Kopf einer Wärterin. Die Wärterin betastete sie nach eventuellen Verletzungen - ließ erleichtert von ihr ab, als sie sah, dass noch alles heil war. „Dein Glück", zischte sie ihr zu. „Das hätte uns gerade noch gefehlt, deinetwegen Unannehmlichkeiten einzustecken."
Sie stießen Lotte in den Nebenraum, an den Tisch der Beamtin. Als sie über die Schwelle trat, wurde Hilde gerade durch die andere Tür hinausgeführt. Hilde war es also, die geschrieen hatte, die die Beamtinnen auf ihr Vorhaben aufmerksam gemacht hatte. Weshalb hatte sie das getan? Wusste Hilde nicht genauso sicher wie sie selbst, dass sie alle das Todesurteil zu gewärtigen hatten? Eine tiefe Niedergeschlagenheit befiel sie plötzlich. Eine trübe Ahnung - als ob sie und Eva einer Zeit neuer Kränkungen und
Qualen entgegengingen. Von neuem waren sie der Willkür der Gestapo wehrlos preisgegeben.
Lotte kam in Einzelhaft. Als die Wärterin, die sie in die Zelle geführt hatte, gegangen war, setzte sie sich an den Klapptisch und stützte den Kopf in die Hand. Der Kopf war ihr schwer und drohte immer wieder nach vorn zu fallen. Über ihren Rücken liefen frostige Schauer. Sie hatte sicher Fieber, zu Hause hätte sie sich ins Bett gepackt. Aber hier war es laut Gefängnisordnung streng untersagt, sich tagsüber hinzulegen. So streckte sie nur weit die Beine aus, die wie Klumpen an ihrem Körper hingen - schwere, lehmige Klumpen, die sie kaum von der Stelle bewegen konnte. Unbeweglich saß sie so, bis das Mittagbrot in die Zelle geschoben wurde. Aber sie aß nicht, der Geruch der dünnen Kohlsuppe, in Wasser gekocht, verursachte ihr Übelkeit. Sie kippte den Inhalt in den Kübel und wusch die Blechschüssel aus. Dann hockte sie sich wieder auf ihren Schemel.
Ein Geräusch an der Tür ließ sie zusammenfahren. Die Wärterin, dachte sie dann gleichgültig; sie hatte versprochen, ihr eine Karaffe hereinzustellen. Aber die Zelle blieb verschlossen. Das Geräusch hörte jedoch nicht auf - als ob jemand mit dem Besen über die Füllung fegte.
Lotte stand auf und trat näher heran. Als sie vor der Tür stand, hörte sie von draußen eine zischende Stimme: „Nimm doch ab, du Dussel!" Und ein Streifen Papier schob sich durch den Türspalt herein. Lotte bückte sich und entfaltete das Blatt - es war ein Kassiber von Hilde.
Lotte kannte ihre Schrift: strenge, steile Buchstaben, die halb zur Seite kippten, als ob sie sich aneinander festhalten wollten. Hilde schrieb:
„Sei nicht traurig - aber das, was Du tun wolltest, durfte ich nicht zulassen. Unser Weg ist hart, aber wir müssen ihn zu Ende gehen. Schon um unserer Kinder willen, Marianne - wie ich Dich hier aus Vorsicht nennen werde. Rufe Du mich Gertrud. Wir werden uns nachher durchs Fenster sprechen. Ich liege nicht weit von Dir, nur drei Zellen entfernt. Kopf hoch, Marianne! Deine Gertrud."
Lotte las die Zeilen wieder und wieder, ein wunderbarer Trost ging von ihnen aus. Es war auf einmal, als ob Hilde selber in der Zelle stünde. Lotte sah sie ganz deutlich vor sich: ihre sanften dunklen Augen, das stille Gesicht, das ihr plötzlich das einzig Sichere schien - eine Insel in einem unruhigen Meer, das sie zu verschlingen drohte.
Sie lauschte jetzt ungeduldig auf jedes Geräusch von draußen. Aber es war nichts zu hören, als ab und zu der harte Befehl einer Wärterin, das Klirren eines Gefäßes draußen im Gang, das scharfe Klicken, wenn jemand zum Zeichen, dass er ein Anliegen hatte, die Fahne zog. Der Schatten des Fensters, den die Sonne in die Zelle warf, wanderte langsam über die Wand bis zur Tür, glitt die Füllung hinunter und legte sich schräg auf den Boden hin, wie ein müdes Tier, das
sich zum Schlafen ausstreckt. Jetzt schien die Zeit stillzustehen. Aus irgendeiner Zelle erklang nach einer Weile Gesang, eine langgezogene wehleidige Melodie, die plötzlich abbrach, wie abgestorben. Das große Haus lag in dumpfem Schweigen. Noch einmal belebte sich der Flur bei der Ausgabe des Abendessensund fiel dann um so spürbarer in die Stille zurück. Der schwindende Tag sog die Schatten auf. Die Dämmerung senkte sich allmählich herab wie ein langsam fallender Vorhang und hüllte die Zelle in eintöniges Grau. Alles Leben zwischen den Mauern schien erstorben.
Plötzlich entzündete sich der Lärm an allen Enden zugleich. Als hätte man in ein erloschenes Feuer neuen Brennstoff geworfen, und die Flamme züngelte wieder auf - so begann es sich auf einmal in jedem Winkel des toten Hauses zu regen. Auch Lotte sprang auf, zog ihren Schemel ans Fenster und stieg hinauf. Sie sah ein Stück des Himmels, ein einziger Stern leuchtete stark. In regelmäßigem Rhythmus wischte ein Scheinwerfer über den Horizont. Aber das alles nahm sie nur unbewusst wahr; es bildete den Hintergrund für das eigentliche Schauspiel, das sich ihren Ohren bot - und das war ganz neu für sie und nahm sie völlig gefangen. Plötzlich spürte sie, dass sie nicht allein war. Von allen Richtungen her wurden bange Fragen und Klagen in den Hof gesandt, und die Fragen wurden aufgefangen und richtig beantwortet, die Verzagenden wurden aufgerichtet, die Klagenden er-
hielten den nötigen Zuspruch. Der ganze Bau schmolz zu einer großen Gemeinschaft zusammen. Auf einmal hörte Lotte auch die Frage, die für sie bestimmt war. „Hallo, Marianne - bist du da?" Hildes Stimme klang ganz nahe, sie sprach halblaut, ruhig und akzentuiert. Lotte antwortete in derselben Weise. Dabei durchpulste sie die Freude über die Verbindung mit Hilde wie ein starker Strom. Jetzt erst fühlte sie sich in die Gemeinschaft mit aufgenommen. Lotte kannte die Kraft, die aus dem Bewusstsein der Zusammengehörigkeit erwächst, von der Gruppe her. Dieselbe Kraft würde sie jetzt aus dem Zusammensein mit Hilde schöpfen. Der Kontakt war geschlossen. Das war, als ob die unbegreifliche Ruhe und Gelassenheit, die Hilde sogar hier, im Gefängnis, ausstrahlte, jetzt auch auf sie überströmte.
Hilde kam noch einmal auf das Vergangene zurück.
„Es war falsch, Marianne. Durch Flucht gewinnt man nichts. Man lässt meist nur eine heillose Verwirrung zurück."
Lotte spürte es wieder heiß in ihre Kehle steigen. „Sie haben Eva festgesetzt", sagte sie.
„Um so mehr wird sie dich brauchen, wenn sie wieder frei ist. Du musst versuchen durchzukommen, Marianne. Das wird gar nicht so schwer sein. Schiebe alles auf mich. Vielleicht kommst du mit ein paar Jährchen Zett davon..."
„Und du?" würgte Lotte hervor.
„Das weißt du ja selbst", sagte Hilde nur.
In der Pause, die nach ihren Worten entstand, umschwirrten Lotte die Gesprächsfetzen der anderen. Unwillkürlich hörte sie hin: „Wann ist Termin, Doris? Morgen um zehn? Mehr als einen Kopf kann's ja nicht kosten." - „Herta, morgen Vernehmung! Fest bleiben, immer daran denken: die wissen gar nichts." -„Frieda! Habe jetzt die Anklageschrift. Lage nicht ungünstig." - „Hedwig! Staatsanwalt hat heute Todesstrafe beantragt. Für alle fünf. Morgen ist Urteilsverkündung. Denke an uns!" - Lotte hörte nicht länger hin. Zu denken, dass diese Mauern Tag für Tag die gleiche Summe von Leid und Elend in sich bargen, und nur einmal innerhalb von vierundzwanzig Stunden, in der kurzen Spanne zwischen Abendessen und Verdunklung, wenn die Kontrolle vorübergehend etwas gelockert war, brach es aus ihnen hervor und teilte sich der Umwelt mit: die hundertfachen Ängste und Seufzer der Frauen, die alle oft monatelang, den sicheren Tod vor Augen, um ihr Leben rangen. Lotte lehnte den Kopf an den Fenstersims. Wieder fühlte sie in den Gliedern eine lähmende Müdigkeit, wie vorhin in dem Zwinger, als sie ihrem Ziel schon so nahe gewesen war. Alles, was sie hier würde erdulden müssen, wäre ihr erspart geblieben. Als könnte Hilde ihre Gedanken erraten, sagte sie jetzt: „Du hast die größeren Chancen, Marianne. Und denke an Eva! Einer von uns muss ihr später erzählen können, wie alles war. Sie werden uns nachher brauchen - die Jungen..."
„Dein Kind wird dich brauchen, Gertrud."
Auf dem Flur waren Schritte zu hören, das Klappern von Schlüsseln. So jäh, wie es begonnen hatte, hörte das Rufen auf. In die plötzliche Stille hinein sagte Hilde: „Mein Kind wird mich nicht vermissen -es hat ja den Vater. Er ist frei - Marianne!"
Lotte atmete tief. Jetzt endlich verstand sie Hilde - ihre ruhige, fast heitere Gelassenheit. Hilde nahm ihr Schicksal auf sich, weil sie wusste, dass Hans leben würde. Genauso hatte sie um Evas willen gehen wollen. Aber nein, Hilde hatte recht, es war nicht dasselbe. Hans war ein Mensch, der seinen Weg bereits kannte; er würde ihn auch ohne Hilde weitergehen. Eva war ein Kind. Wenn sie jemals aus der Hölle dieser Zeit herauskommen sollte, würde man sie auf den richtigen Weg erst geleiten müssen.
Lotte kam nicht mehr dazu, eine Antwort zu rufen. Sie sprang hastig vom Schemel herunter, ihre Zelle wurde aufgeschlossen. Die Wärterin schob ihr die Karaffe herein. Als sie gegangen war, flackerte irgendwo in der Nähe Geschimpfe auf, kurz und erbittert - dann wurde es still. Von einer Minute zur anderen sank das Haus wieder in sein dumpfes, unheilvolles Schweigen zurück.

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