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Elfriede Brüning - ... damit du weiterlebst (1949)
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II.

Um dieselbe Zeit, als Eva sich zu Hause zum Sterben bereit machte, stand Lotte Sarah Burkhardt, ihre Mutter, im Friedrichshain am Märchenbrunnen und wartete auf ihren geschiedenen Mann. Er war unpünktlich wie immer. Lotte ging unruhig auf und ab, fünf Schritte hin und wieder zurück, weil sie sich auf keinen Fall weit von dem Treffpunkt entfernen wollte. Rudolf bekam es fertig, gleich wieder umzukehren. Er hatte sich nur schwer zu der Zusammenkunft bewegen lassen. Wahrscheinlich hatte er gerade mal die Taschen voll Geld, dann war er immer sehr ablehnend ihr gegen­über. Lotte lachte bitter. Als ob sie nicht selbst die größten Bedenken gehabt hätte, ihn anzurufen. Aber es musste sein. Die Unterredung mit Rudolf gehörte genauso zu ihrer neuen Aufgabe wie die Fahrkarte, die sie am Alex gelöst hatte, wie der ein für allemal abgetrennte Judenstern und wie der Pass auf den Namen irgendeiner Erna Färber, den sie seit zwei Stunden bei sich trug. Sie sah sich vorsichtig um. Gut, dass die Tage schon wieder so kurz waren. Trotz der frühen Stunde war es stockfinster, der Himmel bedeckt, also wohl keine Fliegergefahr. Von den umliegenden Bänken her kicherte es - Urlauber mit ihren Gelegenheitsbräuten. Spaziergänger, auf der Brust die Leuchtplakette, schlenderten vorüber. Unter ihren Füßen raschelte der Kies wie welkes Laub. Dann war es wieder ganz still - der scheinbare Friede eines Sommerabends.
Lotte Burkhardt strich sich das Haar aus der Stirn -eine Bewegung, die sie immer machte, wenn sie müde war. Sie spürte erst jetzt ihre Erschöpfung. Seit vierundzwanzig Stunden fühlte sie sich zum ersten Mal unbeobachtet. Dabei wusste sie, dass die Sicherheit, die ihr jetzt die Dunkelheit bot und die sie kostete wie etwas Verbotenes, nur scheinbar und trügerisch war. Denn die Finsternis barg genauso gut auch den Feind. Schon der nächste Spaziergänger, der vorbeikam, konnte unversehens stehen bleiben und eine Taschenlampe zücken, die entlarvende Blendlaterne der Gestapo. Lotte ging immer noch auf und ab, hin und her. Der breite Sims das Brunnens lockte zum Ausruhen. Aber nur jetzt nicht der Müdigkeit nachgeben! Sie fühlte, dass es dann mit ihrer Fassung vorbei sein würde. Der ganze Tag hatte eine Anspannung aller Nerven erfordert, die kaum erträglich war. Und sie war noch längst nicht außer Gefahr. Wenn nur Rudolf bald käme! Sie würde ruhiger sein, wenn sie erst mit ihm gesprochen hatte.
Herbert Busch war verhaftet! Zum soundsovielten Male zergrübelte sie sich den Kopf, wie das hatte geschehen können. Herbert, der so klug und vorsichtig war, so ordentlich, dass es fast pedantisch wirkte. Un-
denkbar, dass er sich zu einer Unbesonnenheit hatte hinreißen lassen. Lotte hatte ihn zuletzt vor drei Tagen gesehen, als sie das Material für Hans von ihm übernommen hatte. Seit mehr als einem Jahr stellte sie zwischen beiden die Verbindung her. Alles war glatt gegangen wie immer. Hans hatte die Nachrichten sofort in seiner nächsten Sendung verwandt, unter einem neuen Codeschlüssel, den niemand kannte. Hatten sie sich schon zu sicher gefühlt, der Gestapo durch irgendeinen Fehler, den sie übersehen hatten, einen Hinweis geboten?
Bis jetzt wusste sie nicht, ob Hans Steffen verhaftet war. Er verbrachte die Sonntage auf seinem Boot, zusammen mit Hilde, die eng mit ihm zusammenarbeitete. Beide kamen vermutlich erst heute Abend nach Hause. Aber alle anderen Mitglieder der Gruppe liefen frei herum, waren zumindest gestern noch vollzählig zur Nachtschicht erschienen. Nur Herbert Busch hatte gefehlt.
Das war der Punkt, wo Lotte mit ihren Überlegungen nicht weiterkam. Weshalb hatten sie nur Herbert verhaftet? Sie prüfte im Geist jeden Genossen. War ein Spitzel darunter, so hätte er auch alle anderen preisgegeben. Aber die Gestapo kannte offenbar die übrigen Namen gar nicht. Heute früh hatten sie Herbert am Fabriktor aufgestellt, am Ausgang zum Bahnhof Siemensstadt-Fürstenbrunn, den sie alle passieren mussten. Salo und Martin liefen als erste blind auf ihn zu. Lotte hatte sofort gesehen, dass etwas nicht stimmte.
Sie bemerkte Herberts starren Gesichtsausdruck, sein verzweifeltes Bemühen, die beiden durch seine hochmütige Miene von sich fernzuhalten. Aber es war schon zu spät. Erst als Herbert nur hilflos die Schultern hob, sahen sie, dass seine Arme unter dem übergehängten Mantel gefesselt waren. „Hunde!" heulte Martin. Er war noch nicht zwanzig und in der illegalen Arbeit nicht sehr erfahren. Er taumelte mit Salo weiter. Vielleicht hofften sie, dass es irgendwo noch für sie einen Ausweg gab, dass die Falle noch nicht endgültig zugeschnappt war. Kurz vor dem Bahnhof wurden sie diskret in eine Limousine gesetzt. Noch vier andere ereilte das gleiche Schicksal. Dann war es für Lotte selbst höchste Zeit. Bevor sie ging, gelang es ihr, Herberts Blick zu erhaschen, einen Blick, den sie sich nicht deuten mochte. Als ob jemand endgültig Abschied nahm. -
Der Kies raschelte. Lotte blieb stehen, spannte den Körper wie zum Sprung. Dann erkannte sie erleichtert, dass es Rudolf war. Er schlenderte gemächlich auf sie zu, den Hut in der Hand, die Jacke über dem knalligen Hemd weit geöffnet.
„Tag, Mädchen. - Na, wo brennt's denn mal wieder?" Kein Wort der Entschuldigung, dass er sie eine halbe Stunde hatte warten lassen. Sein Atem roch nach Schnaps. Lotte fühlte plötzlich eine tiefe Niedergeschlagenheit. War es richtig, Rudolf ins Vertrauen zu ziehen? Sie vergaß manchmal, dass es nicht mehr der Rudolf von früher war. Wenn er getrunken hatte, war er kaum zurechnungsfähig. Aber schließlich - ihr blieb keine andere Wahl.
Sie zog ihn tiefer in den Park. „Es handelt sich um Eva", sagte sie. „Ich muss dich bitten, sie eine Zeitlang zu dir zu nehmen." Sie stockte, sah gespannt zu ihm auf. Aber ihre Mitteilung schien auf ihn keinen großen Eindruck zu machen. „Mach keine Witze", sagte er nur. Lotte ließ die Schritte, die ihnen seit geraumer Zeit folgten, näher kommen und endlich vorbeiziehen: den Gleichschritt eines BDM-Mädchens mit seinem Soldaten. Trotz aller nervösen Spannung musste sie lächeln. Die beiden spazierten bestimmt nicht im Dienst der Gestapo. Sie blieb stehen, fasste, ohne es zu wissen, nach Rudolfs Hand.
„Ich muss weg aus Berlin, Rudolf. Heute noch. Ich kann nicht mehr zu Siemens zurück. Auch nicht in die Wohnung - zu Eva. Du musst dich um sie kümmern. Sie ist so allein." Rudolf schien jetzt erst zu begreifen. „Du wirst illegal?" fragte er überrascht.
Lotte nickte. „Es kann nur ein Versehen sein, dass ich überhaupt noch frei bin." Sie wartete eine Minute, aber Rudolf blieb stumm. Er zog einen Grashalm durch die Zähne, versuchte mit großer Hingabe, wie ein Kind darauf zu blasen. Lotte sagte endlich: „Du wirst keinerlei Schwierigkeiten haben. Schließlich ist Eva genauso gut deine Tochter. Das Arisierungsverfahren läuft." Da Rudolf noch immer beharrlich schwieg, wiederholte sie: „Wie gesagt, es ist ganz ungefährlich für dich."
„Ungefährlich!" sagte Rudolf verächtlich. Er setzte mürrisch hinzu: „Schließlich will sie leben."
Lotte sah ihn entgeistert an. War es möglich, dass es ihm darum ging? Dass er Geld von ihr verlangte für eine Sache, die einfach Menschenpflicht war? Von seinen Vaterpflichten gar nicht zu reden... Sie war immer wieder entsetzt über die Verwandlung, die er durchgemacht hatte. Vor mehr als zehn Jahren hatten sie sich kennen gelernt, als Genossen im selben Unterbezirk. Damals hatte er saubere politische Arbeit geleistet, was um so erstaunlicher war, als er sich erst nach schweren inneren Kämpfen von seinem bürgerlichen Vaterhaus losgesagt und der Sache des Proletariats zugewandt hatte. Bis Ende 1933 hatte er durchgehalten, dann war er verhaftet worden, drei Monate nach Evas Geburt. Man steckte ihn für zwei Jahre nach Brandenburg. Aber die „Hochschule für Politik", wie die Politischen die Zuchthäuser nannten, machte ihn nicht härter. Jetzt erst zeigte es sich, auf wie schwachen Füßen seine politische Überzeugung stand. „Ich habe genug gelitten - jetzt will ich leben", war seine Parole, als er wieder draußen war. Er ließ sich sofort von Lotte scheiden, übernahm einen kleinen Bücherwagen und handelte mit Naziliteratur. Aber der Bestand seiner Bücher wurde immer kleiner statt größer, weil er alles vertrank. Seine Mutter, die ihn nach dem Tode des Vaters wieder aufgenommen hatte, bestärkte ihn noch in seiner Schwäche; sie bezahlte alle seine Schulden. Auch Lotte hatte ihm schon verschiedene Male
mit Geld ausgeholfen. Sie konnte ihm nie wirklich böse sein. Für sie war er immer noch ein bisschen der frühere Rudolf. Und dann: was er geworden war, hatten die Nazis aus ihm gemacht.
Sie gab ihm vierhundert Mark, ihre letzte Barschaft. Sie würde sich schon irgendwie durchschlagen. Dann gab sie ihm die Wohnungsschlüssel. „Aber geh gleich hin", beschwor sie ihn. „Das Kind wird sich ängstigen. Es hat ja gar keine Nachricht von mir..."
Rudolf brummte etwas. Nachts noch umziehen mit Sack und Pack... Lotte sah ihn verwundert an: „Willst du denn zu Eva ziehen?" fragte sie.
„Natürlich! Solche Wohnung ist doch Kapital heutzutage. Oder ist es dir sympathischer, wenn sich dein Blockwart 'reinsetzt?"
Sie hatte noch gar nicht darüber nachgedacht. Vielleicht hatte er recht. Der Mietvertrag lief sowieso noch auf seinen Namen. Dieser Tatsache verdankte sie es wohl auch, dass sie die Wohnung überhaupt noch behalten hatte. Volljuden waren längst in Judenhäusern zusammengepfercht. Aber wenn die Gestapo sie suchte und Rudolf fand, konnte das für ihn unangenehm werden.
Rudolf zerstreute ihre Bedenken. Er würde sich schon aus der Affäre ziehen. Überhaupt, wenn er rechtlicher Eigentümer der Wohnung war, konnte ihm niemand an den Wagen fahren... Lotte war nur halb überzeugt. Sie kannte die Gestapo - andererseits war der Gedanke bestechend, dass Eva in der gewohnten Umgebung bleiben sollte. Bei der Großmutter würde sie neuen feindlichen Eindrücken ausgesetzt sein. Die alte Frau Burkhardt war Antisemitin. Sie hatte Lotte immer gehasst und würde wahrscheinlich ihren Hass auch auf das Kind übertragen. Bei Rudolf dagegen würde es Eva gut haben - vorausgesetzt, dass er vernünftig blieb und nicht allzu sehr über die Stränge schlug Vielleicht konnte er sogar Evas Arisierung durchdrücken - womit sie selbst allerdings jedes Anrecht auf das Kind verlieren würde. Aber daran wollte sie jetzt noch nicht denken. Im Augenblick war nur wichtig, dass sie untertauchte und dass jemand für Eva sorgte. Sie wollte also Rudolfs Absichten nicht im Wege stehen...
„Nun - was ist?" fragte Rudolf jetzt. „Hast du noch irgendwas auf dem Herzen?"
Lotte konnte nur nicken. Sie hatte nicht gewusst, dass ihr die Trennung von Eva so schwer werden würde. Sie rang mit einem Entschluss. Wieder fühlte sie im Innersten, dass es leichtsinnig war, Rudolf einen Hinweis zu geben, sie musste im Gegenteil wie vom Erdboden verschluckt sein. Aber dann war sie auch für Eva ausgelöscht. Das glaubte sie nicht ertragen zu können. Sie sagte plötzlich: „Du kannst mir nach Storkow schreiben. Postlagernd Erna Färber. Ich werde von Zeit zu Zeit nachfragen. - Und grüß' Eva vielmals!"
Rudolf ging völlig unbeschwert. Er dachte an Lottes Möbel, die ihm jetzt zusammen mit ihrer Wohnung in den Schoß fallen würden. Er wollte sie schnellstens verkaufen. Möglichst noch vor dem nächsten Großangriff, denn man konnte nie wissen. Die Aussicht auf das leicht zu verdienende Geld stimmte ihn beinahe übermütig. Am liebsten wäre er in die nächste Kneipe gegangen und hätte sich auf Vorschuss einen angetrunken. Aber er besann sich noch rechtzeitig. Wenigstens heute musste er wohl gleich nach Hause, zu Eva...
Lotte sah ihm nach, als er jetzt im Dunkeln verschwand. Er hatte den wiegenden Schritt eines Menschen, der um so ängstlicher auf den äußeren Eindruck bedacht ist, je mehr er sich innerlich fallen lässt. Sie kannte ihn so durch und durch, mit allen Schwächen. Trotzdem musste sie ihm jetzt ihr Kind überlassen.
Sie seufzte. Menschen wie sie sollten immer allein sein. Jeder Angehörige, an den sie sich hängte, war eine Gefahr. Und sie war gefährdet genug - auch ohne ihre Liebe zu Eva.
Endlich machte sie kehrt und ging durch den menschenleeren Hain zurück. Die nächste Telefonzelle stand am Königstor. Sie trat ein und wählte die Nummer von Hans Steffen.

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