Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Elfriede Brüning - ... damit du weiterlebst (1949)
http://nemesis.marxists.org

FÜR HANS COPPI

I.

Das Kind saß am Tisch, den Kopf in beide Hände gestützt. Die große Telleruhr über dem Küchenbrett tickte laut. Nach jeder vollen Minute rückte der Zeiger - zak - einen Schritt vor, langsam, schwerfällig, als risse er sich immer nur mit Überwindung los. Das Kind zählte die Zaks, ohne hinzusehen: zehn, fünfzehn... Jetzt war es halb. Um diese Zeit machte sich die Mutter sonst für den Nachtdienst fertig. Seit Jahren ging sie Abend für Abend Punkt sieben Uhr fort und kam erst am anderen Morgen zurück. Dazwischen lag die lange einsame Nacht. Die erste Zeit war alles noch gut gegangen. Eva schlief ein, wenn die Mutter fortging, und wachte erst auf, wenn die Mutter schon wieder neben ihr lag, bleich und erschöpft von der eintönigen Fabrikarbeit. Dann aber kamen die schweren Träume. Eva fuhr mitten in der Nacht aus dem Schlaf empor, angstvoll, schweißbedeckt. Der verschwimmende Schatten des schmalen Fensters lag wie ein großes böses Auge auf ihr. Es war ein qualliges Auge, das nackt zwischen spärlichen Wimpern stand. Es gehörte dem Mann, den sie kürzlich bei Rita Meyer getroffen hatte. Sie war gerade noch zurechtgekommen, um zu sehen, wie er Rita mit Fußtritten vor sich her
ins Auto drängte. Dann kam er zu ihr zurück: „Und du?" Sein Auge sah aus, als ob es überliefe. Eva dachte nur an die Mutter. Sie presste den Zettel für Rita fest in die Handfläche. „Ich spiele hier mit Ruth", sagte sie harmlos. - „Spielen? Hier hat es sich ausgespielt!" -Er drehte Evas Kopf herum. Jetzt erst sah sie, dass auch Ruth in dem Auto saß. Das Auto fuhr ab, aber der Mann ließ ihren Kopf erst los, als er die Hand brauchte, um ihre Finger auseinander zubiegen: „Nun zeig mal her, was du da hast." - Auf dem. Zettel stand die Adresse für Rita. - „Das ist unser Kindergarten", sagte Eva rasch, wie es ihr die Mutter eingeschärft hatte. Das Auge deckte sich eine Minute lang zu. Es schien zu frieren, genau wie Eva. Sie zitterte vor Kälte trotz der Sommerwärme. Unverwandt starrte sie auf das warm gebettete Auge. Doch als das wieder bloßlag, sah es aus wie Eis. Eva fühlte sich derb an der Schulter gepackt: „Diesen Kindergarten zeigst du mir mal!" - Die Mutter hatte auch diese Möglichkeit eingerechnet. „Wenn sie mitkommen wollen, geh ruhig hin, da ist sowieso immer ein Haufen Kinder. Und du kennst niemanden, verstanden? Auch mich nicht. Wir haben uns nie im Leben gesehen..." Eva nickte. Sie wusste längst, dass man oftmals lügen musste. Die Mutter war wirklich in der Wohnung. Eva ging an ihr vorbei, ohne zu zucken, hinein zu den Kindern, die sie niemals gesehen hatte. Sie fing gleich an, mit ihnen zu kreiseln. - „Das Kind ist großartig", sagten nachher die Bekannten, als der Mann unverrichtetersache hatte abziehen müssen. Aber Eva vergaß nicht seinen bösen Blick. „Dich kriege ich noch - du Kröte!" hatte er im Hinausgehen gezischt. Sein Auge schien jetzt völlig entblößt, kalt und nackt und erbarmungslos; die hellen Wimpern wie abgesengt.
Dieses böse Auge verfolgte Eva, ob sie schlief oder wachte. Es stand über ihr, es warnte immer drohender: Ich kriege dich doch! Eva konnte nicht länger allein bleiben. Tagsüber war die Mutter bei ihr. Wenn sie auch die meiste Zeit schlief - aber ihr Atem umhüllte Eva wie dichter Nebel, den das böse Auge nicht durchdringen konnte. Nachts brachte die Mutter sie jetzt zu Bekannten. Ein paar Mal nahm die Nachbarin sie mit zum Dienst, sie war Nachtschwester im Jüdischen Krankenhaus. Dort wurde immer Platz, selbst wenn alles besetzt war. Die Schwerkranken starben so rasch. Eva durfte dann mitten in der Nacht von ihrem behelfsmäßigen Lager auf der Bahre ins frei gewordene Bett hinüberwechseln. Einmal schlief sie in einem Raum mit einer jungen Frau, die kein Wort sprach, sondern die ganze Zeit nur trübsinnig gegen die Decke starrte. Am nächsten Morgen hing sie am Fensterkreuz. Eva wurde um diese Zeit immer blasser, ihre Bewegungen waren fahrig, immer häufiger fiel ihr ohne Grund irgendwas aus der Hand. Die Nachbarin sprach selbst mit der Mutter: „Die seelische Belastung ist bei uns zu groß." Die Mutter war ratlos. Schließlich nahm der Portier des Krankenhauses sie mit zu sich nach Hause. Er hatte selber vier Kinder, und Eva
schlief mit zweien zusammen in einem Bett. Dann war auch das zu Ende. Der Portier musste noch zwei Juden in seiner Stube aufnehmen. Eva kam für zwei Wochen ins Waisenhaus. Als es polizeilich aufgelöst wurde, wollte ein altes Ehepaar Eva bei sich unterbringen.
Die Mutter wusch, plättete und stopfte zwei Tage lang, dann packte sie alles in einen kleinen Koffer und brachte Eva zur Bahn. Die alten Leute wohnten im Vorort, in einem kleinen Haus mit Garten, der von einer dichten Hecke eingefasst war. Hier konnte kein böses Auge herüberdrohen. Eva spielte sorglos mit Puppen, nannte das alte Ehepaar Opa und Oma, schlief in einem schneeweißen Himmelbett und vergaß für eine Weile, dass es Menschen gab, die andere quälten und zum Selbstmord trieben.
Einmal kam einer von ihnen durch die Hecke herein. Als er weg war, hatte er die alten Leute verwandelt. Zitternd vor Angst suchten sie Evas Sachen zusammen, legten alles wieder in den Koffer zurück und brachten sie zur Bahn. Die alte Frau wischte beim Abschied über Evas Stirn, vermied es aber, dem Kind in die Augen zu sehen. Dann stand Eva allein.
Die Mutter kam erst nach Stunden nach Hause. In ihrem Blick, mit dem sie das Bild des Kindes umfasste, das zusammengekauert auf seiner Habe vor der Wohnungstür saß, spiegelte sich Schreck, Erstaunen, schließlich Verzweiflung.
Diese Rückkehr aus dem Paradies - das war gestern gewesen.
Gegen Abend war die Mutter wie immer zur Arbeit gegangen, nachdem Eva versichert hatte, diese eine Nacht wollte sie ruhig allein sein. Wirklich hatte der Schatten des Fensters sie beim Aufwachen kaum noch gestört. Beängstigender war es, dass sie auch tagsüber sich selbst überlassen blieb. Die Mutter war immer noch nicht von der Fabrik nach Hause gekommen.
Eva Sarah Burkhardt stand endlich auf. Die große Telleruhr an der Wand zeigte ein Viertel vor fünf. Es war die Zeit, in der sie einkaufen durfte. Sie griff nach der Kartentasche, legte sie aber wieder an ihren Platz zurück. Sie glaubte nicht mehr daran, dass die Mutter zurückkam. Und ohne die Mutter konnte sie nicht leben. Keine Seele auf der Welt würde sich um sie kümmern. Nicht einmal der Vater, den es irgendwo gab. Er kam nur zur Mutter, wenn er Geld haben wollte. Die Bekannten der Mutter sagten, er sei ein Schuft, denn als Nichtjude hätte er wohl das Los der Mutter etwas erleichtern können. Er hatte es jedoch vorgezogen, sich beizeiten von ihr zu trennen. Eva verachtete den Vater, und zwar nicht nur, weil er die Mutter unglücklich machte, sondern einfach deshalb, weil er auf der Seite derjenigen stand, vor denen man auf der Hut sein musste. Der Mann mit dem bösen Auge gehörte dazu, der Rita Meyer weggeschleppt hatte, der SA-Sturm im Hause gegenüber, die Kinder auf dem Hof. Wenn Eva auf die Straße ging, was selten geschah - früher, als die Schulen noch erlaubt waren, auf dem Wege dorthin, und jetzt nur, wenn sie einkaufen musste -, fühlte sie den Hohn, die Beleidigungen und Beschimpfungen, die ihr aus vielen Gesichtern offen entgegenschlugen, wie eine unüberwindliche Mauer um sich. Diese Mauer konnte man nur durchbrechen, wenn man grenzenlos hasste. Evas Hass auf die „anderen" war so stark, dass sie manchmal davon körperliche Schmerzen bekam. Ihre Augen brannten, als seien sie in Feuer getaucht; der Kopf dröhnte, die Glieder schmerzten. An solchen Tagen konnte nur die Mutter helfen, die Mutter, die sie schweigend in die Arme nahm. Langsam beruhigten sich dann die zuckenden Glieder, die drohende Außenwelt trat zurück. Nur bei der Mutter konnte sie sich warm und geborgen fühlen.
Das Kind seufzte. Es war stickig heiß in der kleinen Küche, und draußen hatte ein rascher Regen alles frisch gesprengt. Eva trat ans Fenster und öffnete es einen Spalt. Dabei hatte sie nicht an die Kinder gedacht, die im Hof johlten. Den ganzen Nachmittag hindurch spielten sie schon „Fliegeralarm". Aber als sie jetzt Eva am Fenster erblickten, ließen sie davon ab, liefen unter ihrem Küchenfenster zusammen und gossen die Flut ihrer Schmähungen wie schmutziges Spülwasser über sie aus. Eva warf zitternd das Fenster wieder zu. Sie fühlte sich wirklich wie besudelt. Plötzlich wusste sie, dass sie dem allem nicht standhalten würde. Sterben müssen war nicht mehr schlimm, schlimm war es dagegen zu leben, in einer Welt von Feinden allein zu sein, jeden Tag, jede Nacht neu bewältigen zu müssen. Schon diese Nacht, die jetzt kam, war voller Gefahren. Das „böse Auge", das sich in dem Häuschen nicht hervorgewagt hatte, nistete hier plötzlich wieder in jedem Winkel, starrte von der Decke herab und kauerte in der Ecke am Boden. Schadenfroh blickte es sie an: Heute habe ich die Mutter geholt, morgen hole ich dich - du Kröte! Eva schrie gellend auf. Außer sich vor Angst, verbarrikadierte sie die Küchentür, ließ die Verdunkelung herunter und verstopfte die Ritzen. Dann drehte sie beide Gashähne auf. Wie nach einer Anstrengung fiel sie erschöpft in den Stuhl. Die Uhr über ihr tickte gleichmäßig weiter. Dann war das Geräusch plötzlich weg, man hörte nur noch das Rauschen. Eva wusste, dass ihr das „böse Auge" nichts mehr anhaben konnte. Sie lächelte, zum ersten Male an diesem Tag. Ganz ruhig breitete sie die Arme lang über den Tisch, bettete den Kopf darauf und wartete auf den Tod. Die große Telleruhr an der Wand zeigte kurz nach acht. Es war der 23. August 1942. Das Kind war gerade zehn Jahre alt.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur