XV.
Ein fallendes Blatt, leis vom Wind getragen, zeigt uns nur an, dass die Stunde geschlagen wo das Erfüllte sanft von uns scheidet. Das Unerfüllte bleibt noch - und leidet.
Hans lehnte an der Wand, neben dem einzigen Besucherstuhl. Zu seiner Linken war die Tür, durch die er hereingekommen war; sie wurde außen von zwei Posten bewacht. Vor der zweiten Tür am anderen Ende des Raumes stand die Gefängnisbeamtin. Das Zimmer wurde von einem Tisch, der sich von einer Wand bis zur anderen zog, in zwei Hälften geteilt. Jede Hälfte war von einem großen Fenster erhellt, das außen vergittert war. Vor dem Gitter hingen aus Kästen die Überreste einstiger Blumen herab. Die dürren Stengel trugen weiße Tupfer, die vom ersten Schnee noch hängen geblieben waren. Schnee nistete auch noch in den Ecken der Fenster. Der Raum war ungeheizt. Hans fror, aber er wusste nicht, ob es wirklich vor Kälte war. Dieses Gefühl des Frierens kannte er schon aus seiner Kinderzeit, wenn er zu Weihnachten ungeduldig auf das Zeichen zur Bescherung gewartet hatte. Später spürte er es wieder, als er sich zum ersten Mal mit Hilde traf. Auch, als er ihre Antwort auf seinen „Heiratsantrag" erwartete, für die sie sich zwei Tage Bedenkzeit erbeten hatte. Sie hatte sich so schwer entschließen können zu diesem Ja für ihre gemeinsame Zukunft. Aber dann war sie doch gekommen...
Plötzlich sieht er sie wieder vor sich, wie sie an jenem Tag gekommen ist. Es ist ein Sonntag im Mai, und er steht am Fenster. Er hat seiner Mutter, die hinter ihm in der Küche hantiert, die Gießkanne aus der Hand genommen und begießt die Blumen. Aber das Wasser rinnt aufs Fensterbrett, und er bemerkt es gar nicht. Er hat soeben Hilde entdeckt. Gerade ist sie von der Straße durch die Pforte gekommen und betritt das Gelände der Kolonie. Er erkennt sie schon von weitem: an ihrem hellblauen Kleid, das er so sehr an ihr liebt, an ihrem Gang, an der Art, wie sie den Kopf in den Nacken legt. Er verfolgt sie mit seinem Blick von Garten zu Garten - manchmal verliert er sie, wenn ein blühender Baum sie verdeckt, aber sie taucht wieder auf, Meter um Meter kommt sie näher, und sie kommt zu ihm... In diesem Augenblick weiß er plötzlich, dass das alles der Anfang ist, und dies alles gehört dazu: der zarte Frühlingshimmel mit den leicht vor dem Winde segelnden Wolken, das helle Grün ringsum, der duftende Flieder -und Hilde, die vor der Pforte steht. Die darauf wartet, dass er ihr öffnet, und dass er mit ihr ins Haus zurückgeht. Es ist der Anfang von seinem Leben und von ihrem Leben, das spürt er in diesem Augenblick -
und von jetzt an wird alles, was geschieht, immer für beide gemeinsam sein...
Hans schüttelte die Erinnerung ab. Gleich den meisten Gefangenen, die in Einzelhaft saßen, hatte er sich angewöhnt, mit seinen Gedanken in der Vergangenheit unterzutauchen. Ihn aber verlangte jetzt die Gegenwart. Er sah, dass drüben die Tür aufging. Hilde kam herein, ein Bündel im Arm. Hans konnte gerade noch sehen, wie sie mit ihrem raschen leichten Schritt an den Tisch herantrat, dann verschwamm ihre Gestalt. Er schloss die Augen und stemmte sich fest gegen die Mauer. Die Erschütterung des Wiedersehens war zu groß für ihn. Es war ein Bestandteil der niederträchtigen Gestapomethode, den Häftlingen jede Vorfreude zu nehmen und sie unvorbereitet den heftigsten Gemütsbewegungen auszusetzen. Noch gestern hatte Hans nicht gewusst, ob er wirklich seinen Sohn würde sehen dürfen. Heute hatten sie ihn ganz überraschend in die „Grüne Minna" gesteckt. Aber er wusste noch immer nicht, wohin es ging. Erst beim Aussteigen hatte er angesichts einiger weiblicher Häftlinge, die auf dem Hof arbeiteten, die Wahrheit erraten. Er war in der Barnimstraße, bei Frau und Kind. Bei Frau und Kind, wiederholte er für sich, als er zwischen den Posten die Stufen hinaufstieg. Frau und Kind - das war, als spränge man zu Hause die Treppen hinauf, das klang nach Gemütlichkeit und nach froher Erwartung und vor allem nach Sich-niemals-mehr-trennen-Müssen. Als er in den Besuchsraum getreten war, hatte ihn sekundenlang, so wie jetzt, Schwindel erfasst. Sein Leben, das er an jenem frühlingshaften Sonntagmorgen begonnen hatte, näherte sich mit atemberaubender Eile seinem Höhepunkt - und jetzt, da es darauf ankam, diesen Höhepunkt mit allen Sinnen auszukosten, fühlte er seine Kräfte schwinden.
Hildes Stimme riss ihn ins Bewusstsein zurück. Sie sagte etwas - aber er konnte sie nicht verstehen, weil es immer noch in seinen Ohren rauschte. Doch der vertraute Klang ihrer Stimme, den er so lange hatte entbehren müssen, kräftigte ihn wie Medizin. Als träte er vom Meer mit seiner donnernden Brandung zurück in einen schützenden Wald, so wurde es auf einmal ganz still um ihn. Sein Kopf war wieder klar, der Atem ging leicht, ruhig und gleichmäßig schlug sein Herz.
„Ich glaube, du willst ihn gar nicht sehen", scherzte Hilde.
Hans trat endlich näher. Hilde hatte das Bündel behutsam auf den Tisch gelegt und die Decke, die sie um das Kind gewickelt hatte, ein wenig gelockert. Hans beugte sich zu ihm hinunter und starrte es an. Aber es war eigentlich nicht sein Sohn, den er vor sich sah, sondern ein Teil von Hilde, der ihm ganz nahe war. Fast schien es ihm jetzt belanglos, dass Hilde in Wirklichkeit so fern von ihm stand - unerreichbar weit jenseits des Tisches, der sich wie eine trennende Schranke zwischen sie schob. Das Kind bildete eine
lebendige Brücke von ihm zu ihr, es war ein Gefäß das sie beide in sich vereinte. Ein Gefühl fast heiteren Glücks durchrieselte ihn. Von jetzt an gehörten sie noch enger zusammen, keine Macht von außen konnte sie jemals auseinander reißen. Der Keim, den sie beide in ihr Kind gesenkt hatten, würde wachsen und sich entwickeln, eines Tages würde er deutlich ihre Züge tragen. Hans beugte sich noch tiefer hinunter und hauchte einen Kuss auf die kleine geballte Hand. Dabei spürte er den leisen Atem auf seiner Stirn.
„Du darfst ihn ruhig anfassen", sagte Hilde.
Hans hob impulsiv beide Arme, ließ sie jedoch sofort wieder sinken. Er versuchte, sie unter seinen Mantel zu stecken. Aber Hilde hatte bereits gesehen, was er verbergen wollte. Sie stützte ihre Hände schwer auf den Tisch, die Schatten um ihre Augen schienen tiefer zu werden. „Sie haben dich gefesselt?" fragte sie tonlos. Hans lächelte ihr beruhigend zu. „Hat nichts zu bedeuten", sagte er scheinbar sorglos. „Sie machen es mit jedem so, der das Haus verlässt." Er mied ihren Blick. In Wirklichkeit trug er die Fesseln, weil er seit gestern zum Tode verurteilt war. Er hatte Termin gehabt. Nach nur halbstündiger Verhandlung hatten sie das Urteil gesprochen - ein Urteil, wie er es nicht anders erwartet hatte. Auch Hilde war sich über ihr Schicksal immer klar gewesen. Trotzdem hatte er sich vorgenommen, ihr nichts zu sagen. Das Schwere erfuhr sie noch früh genug - aber diese kurzen Minuten sollte kein Schatten trüben. Hilde schien übrigens arg-
los. Nach dem ersten Erschrecken gewann sie rasch ihre frühere Ruhe zurück. Sie beugte sich über das Kind, wickelte die Decke fester um die kleine Gestalt. „Er nimmt schon zu", berichtete sie stolz. „Genau nach Vorschrift. Und er ist so artig..."
Hans sah sie immer nur an. Er hatte gefürchtet, Hilde blass und elend zu sehen, mitgenommen von der schweren Zeit, die hinter ihr lag. Statt dessen erschien sie ihm jünger als je, schlank und frisch und mädchenhaft und von einer ganz neuen Würde, die er noch nicht an ihr kannte. In diesem Augenblick wünschte er nichts so sehnlichst, wie sie in seine Arme zu schließen. Das Verlangen wuchs, je länger er sie ansah. Endlich wandte er den Blick von ihr ab.
„Ich danke dir für alles, Hilde", murmelte er.
Sie schwieg einen Augenblick. Dann sagte sie: „Ich bin genauso glücklich wie jede andere Mutter, Hans." Sprach sie wirklich die Wahrheit? Er hob überrascht den Kopf, sah sie wieder an. Seine Augen forschten in ihrem Gesicht, gruben wie zwei sanfte, behutsame Hände Linie für Linie nach - als könnten sie auf diese Weise Spuren entdecken, die Leid und Trauer in ihren Zügen hinterlassen hatten. Aber Hildes Gesicht strahlte nur Freude aus. Die Freude leuchtete aus ihrem Innern wie ein starkes Licht, das seinen Schimmer durch die Fenster eines Hauses wirft und alles ringsum erhellt. Und Hans war es, als ginge er Schritt für Schritt auf diesen Lichtkreis zu. Alles Schwere und Beklemmende fiel von ihm ab. Jetzt war er nur noch mit Er-
Wartung gefüllt - als käme Hilde ein zweites Mal auf ihn zu, und von ihrem Ja oder Nein hinge es ab, wie sich sein Schicksal gestalten würde. Und wie um ihr ihre Entscheidung noch schwerer zu machen, sagte er jetzt:
„Das Schwerste liegt noch vor uns, Hilde."
„Ich weiß", sagte sie einfach. „Aber alles war richtig so, was wir getan haben. Weil es notwendig war."
Die Beamtin, die an der Tür gestanden hatte, drehte sich um. „Noch fünf Minuten", sagte sie grämlich. „Und politische Gespräche sind nicht erlaubt."
Hilde holte tief Atem. Sie fing an, plötzlich hastig und überstürzt von dem Kind zu erzählen, lauter kleine Einzelheiten, die sie sich in der Einsamkeit ihrer Zelle für ihn aufnotiert hatte. Es war, als fürchte sie sich davor, dass eine Pause entstehen könnte. Aber Hans spürte hinter ihren Worten noch etwas anderes: den Wunsch, ihn mit solchen Erzählungen noch enger an sich zu ketten, ihm und sich selbst zu beweisen, dass sein Schicksal unlösbar mit dem ihren verbunden war. Es kam ihm so vor, als wüsste sie bereits, dass sie sich heute und in diesem Augenblick zum letzten Mal sahen, als kämpfe sie aber noch mit aller Kraft gegen diese Tatsache an.
Sie verstummte erst, als die Beamtin von neuem neben sie trat: „Die Sprechzeit ist um. Ich muss Sie wieder hinaufführen."
Hans beugte sich ein letztes Mal über sein Kind. Als er sich wieder aufrichtete, wurde er sich schmerzlich bewusst, dass seine Hände gefesselt waren. Jetzt hätte er seinen Jungen aufheben und ihn Hilde behutsam in die Arme legen können. Eine unvergessliche Sekunde lang hätten sich ihre Hände berühren dürfen. Statt dessen sah er nur, wie sich ihre Hände bewegten: sie strichen die Decke glatt, sie umschlossen das Bündel, sie bewegten sich langsam von ihm fort... Alles, was er ihr hatte sagen wollen, drängte sich in dieser Sekunde in ihm zusammen. Ihm war, als hätten sie noch kein Wort miteinander gewechselt. Doch die Beamtin drängte. Hilde stand da, ihren Sohn im Arm. Sie nickte ihm zu - wie am Fenster eines Zuges stand sie da, der sie jede Sekunde in die Ferne entführen konnte. Und er blieb zurück... In diesem Augenblick sagte Hilde, und es war wie ein letztes Wort vor dem Abfahrtsignal: „Ich wünsche mir nur eins, Hans: dass wir auch den letzten Teil des Weges zusammen gehen."
Er nickte ihr zu - und nun fährt sie ab. Ihm ist es, als liefe er noch ein Stückchen neben ihr her, und er sieht ihr Gesicht, ihr liebes, stilles, wie verklärtes Gesicht - und dann lässt er sie los. Ihr Blick, scheint es ihm, ist schon ganz auf die Zukunft gerichtet, und so soll es sein, das hat er gewollt. Er weiß, für Hilde läuft ein Gnadengesuch, sie soll am Leben bleiben, bei ihrem Kind. Für ihn aber fährt ein Zug in anderer Richtung...
Ruhig und gestärkt kehrte er in seine Zelle zurück. Am nächsten Tag schrieb er an seine Mutter:
„9. Dezember. Nun habe ich gestern unseren Jun-
gen gesehen und angestaunt. Es war gut, dass ich ihn geküsst habe und dass mein Mund ihn berührt hat - sonst glaubte ich heute, es war nur ein schöner Traum Ganz bin ich noch gar nicht wieder hier, in meiner Zelle, und vieles, was ich gestern sah, kommt mir erst jetzt wieder zum Bewusstsein. Denn ich habe nicht nur das neue kleine Menschlein gesehen, sondern auch seine Mutter. Ja, Mama - Hilde von einer ganz neuen Seite. Ein Teil von all dem Glück, der Liebe und der Sorge um unseren Sohn, die ich bei ihr wahrnahm, habe ich nun mitgenommen - genug, um mich für lange Zeit froh zu machen. Es gibt wohl nichts, Mutter, was Hilde und mich noch enger miteinander verbinden könnte, als dieses neue Leben. Haben wir da nicht allen Grund, das Glück, das uns die Gegenwart beschert, auszukosten...?"
Frieda Steffen erhielt diesen Brief zwei Wochen später in der Prinz-Albrecht-Straße ausgehändigt. Es war ein Tag vor Heiligabend; sie war hergekommen, um Hans zum Fest ein paar gute Dinge zu bringen. Entgegen der sonstigen Gepflogenheit fertigte Möller sie diesmal selber ab. Er war in bester Laune und schien gewillt, den Koffer in Bausch und Bogen passieren zu lassen. Erst Frieda Steffens erstaunter Blick bewog ihn dazu, sich die Lebensmittel einzeln zur Kontrolle vorführen zu lassen. In seinen Sessel zurückgelehnt, in der Linken eine erbeutete Havanna, bezeichnete er mit der Rechten alle Leckerbissen, die er Frieda gestattete, wieder in den Koffer zurückzu-
packen. Es war fast alles. Nur etwas trockenen Pfefferkuchen und ein Stück Kriegsseife wies er zurück, gerade das Minderwertigste. Erstaunt über seine ungewohnte Großmut, beschloss Frieda, noch einen Schritt weiter zu gehen.
„Darf ich ihm nicht die Geschenke selber bringen, Herr Kommissar?"
Möller stierte einen Augenblick verdutzt, lachte dann breit. „Ausgeschlossen, liebe Frau - ganz ausgeschlossen!"
„Aber wo doch Weihnachten is', Herr Kommissar - und ich habe ihn so lange nicht gesehen. Und wer weiß..." Sie schluckte. Wer weiß, wie lange sie ihn überhaupt noch sehen konnte, hatte sie gedacht. Aber jetzt würgte es ihr wieder die Kehle zu. Sie straffte sich; nur denen kein Schauspiel geben. Was Hans' Schicksal betraf, tappte sie leider völlig im Ungewissen. In den spärlichen Briefen, die Hans an sie schreiben durfte, ging er nie auf dieses Thema ein, immer trug er heiteren Optimismus zur Schau, den sie ihm natürlich nicht glaubte. Und auch dieser Möller verriet ihr nichts. Sie konnte nicht einmal erfahren, ob der Termin nahe bevorstand.
„Warten Sie es doch ab!" sagte er schließlich ungehalten, als sie immer weiter mit Fragen in ihn drang. „Vorläufig ist er gut aufgehoben, das kann Ihnen doch genügen..."
Sie stand endlich auf, aber sie zögerte noch. Es kostete sie jedes Mal Überwindung, mit diesem kaltschnäuzigen Kommissar überhaupt zu verhandeln. Aber es musste sein, er war die einzige Verbindung zu Hans. Und vielleicht gab es in diesem Möller doch noch eine versteckte menschliche Seite, die sie anrühren konnte.
„Grüßen Sie meinen Jungen", sagte sie einfach. „Er soll es sich gut schmecken lassen. Ich habe mir alles vom Munde abgespart."
„Hätten Sie's man selber gefressen", sagte Möller brüsk und drehte ihr seinen breiten Rücken zu. „Der verdient das gar nicht..."
Als Frieda ging, patrouillierte auf dem breiten Flur SS auf und ab. Im Fünfmeterabstand voneinander standen Männer und Frauen, das Gesicht zur Wand -Häftlinge, die zur Vernehmung vorgeführt wurden. Friedas Blick glitt die Reihe entlang, nein, ihre Kinder waren nicht darunter. Die breite, teppichbelegte Treppe. Auf jeder Stufe verharrte sie, als ob sie ihren Aufenthalt in diesem Hause noch hinauszögern wollte. Irgendwo da unten war ihr Junge. Sie fühlte sich ihm so nahe, solange sie unter einem Dach mit ihm war. Woran er wohl in diesem Augenblick denken mochte? An seine Frau? An sein Kind? Sie musste lächeln, denn sie malte sich aus, dass er gerade in dieser Minute an ihre berühmten Pfannkuchen dachte, die sie ihm jedes Jahr zu Weihnachten gebacken hatte. Nun würde er auch morgen welche bekommen, als Gruß von ihr... Ein klein wenig getröstet stieg sie die Treppe hinab. Essen hielt nun einmal, wie man zu sagen pflegt, Leib und Seele zusammen, und besonders Hans war für einen guten Bissen empfänglich. Der half ihm vielleicht über dieses schwere Weihnachten hinweg. Nur schade, dass sie Hilde nichts schicken konnte. Aber die Gefängnisverwaltung Barnimstraße wies jede Extrazuwendung strikt zurück.
Sie beeilte sich, nach Hause zu kommen, in einer halben Stunde musste sie die Nachrichten abhören. Nach und nach hatte sie diesen Teil von Hildes Arbeit, die Benachrichtigung der Angehörigen von Gefangenen, stillschweigend fortgeführt. Sie war nicht zur Passivität geschaffen - noch wagte sie es aber nicht, die Verbindung mit den Genossen wieder aufzunehmen. Dies war indes eine Tätigkeit, die sie auch isoliert von den anderen ausüben konnte. Und ohne es sich einzugestehen, hoffte sie, dass das Schicksal auch mit ihr gnädig verfahren werde, wenn sie anderen Müttern zu ihrem Glück verhalf.
Es waren noch zehn Minuten bis zum Beginn der Sendung. Frieda setzte sich neben das Radio in die Ofenecke. Vor ihr standen auf dem kleinen Tisch die Bilder von Hilde und Hans. Hilde im Sommerkleid, mit gelöstem Haar, das im Winde flatterte, die Sonne malte Licht und Schatten auf ihr Gesicht - und Hans in Knickerbockern, im Pullover mit dem hochgeschlagenen Rollkragen, das Gesicht unter dem hellen Haarschopf tief gebräunt... Unzählige Male sind sie so zusammen auf Fahrt gegangen, auf ihre gefährlichen
Fahrten im Boot, neben sich den Koffer mit dem Sendegerät...
Frieda Steffen strich sich über die Stirn, als könnte sie so die Gedanken verscheuchen. Sie will nicht grübeln. Sie greift nach ihrer Handtasche und nestelt die Briefe hervor, die letzten Briefe ihrer Kinder, die sie immer bei sich trägt. Sie legt die Briefe vor sich hin auf den Tisch, glättet sorgfältig die zerknitterten Bogen und beginnt zu lesen - obwohl sie jedes Wort auswendig weiß. Eben auf der Fahrt hierher hat sie sich die Zeilen von Hans fest eingeprägt - und da er glücklich scheint, ist sie es auch; da er trübe Gedanken nicht aufkommen lässt, zwingt sie sich, es ihm gleichzutun. Und wirklich gelingt es ihr. Diese kurze Zeit zwischen Abendbrot und den Auslandsnachrichten ist ihre Feierstunde, in der sie mit ihren Kindern spricht; es ist beinahe, als seien ihre Kinder bei ihr zu Besuch. Sie greift noch einmal nach dem Brief von Hilde, den sie vor zwei Tagen erhalten hat. Hilde schrieb:
„...Von Hans kann ich Dir leider gar nichts mitteilen. Seit er hier war und unseren Sohn gesehen hat, habe ich überhaupt nichts von ihm gehört. Du wirst Dir denken können, dass ich keine schönen Tage hinter mir habe. Ein Glück, dass mein kleines Hänschen noch bei mir ist - solange ich ihn nähren kann, behalte ich ihn. In seinem Interesse muss ich mich sehr zusammennehmen. Aber wie lange wird es dauern, dann habe ich ihn auch nicht mehr... Aber zunächst freuen wir uns mal alle sehr über unseren Sohn, nicht wahr, Mama? Und ich glaube, so wie er mir über schwere Stunden hinweghilft, wird er auch Dir und meiner Mutter den Gedanken an die Zukunft erleichtern. Und darum sollt Ihr auch froh sein - und wenn Ihr Weihnachten feiert, so feiert für den Kleinen mit, macht Euch gute Feiertage. Das Leben gehört Euch draußen, und ich bitte Euch, macht es Euch nicht schwer in Gedanken an uns. - Wir müssen mit unserem Los fertig werden, so oder so. Unser Trost ist dabei unser kleiner Hans - ich weiß, dass mein großer Hans genauso denkt..."
Frieda ließ den Brief sinken. Aus dem Radio klang das wohlbekannte Pausenzeichen. Gleich darauf ertönte die Stimme des Ansagers. Frieda Steffen zückte ihren Bleistift, alles in ihr war gespannte Aufmerksamkeit. Der Vortragende sprach vom Frieden auf Erden, vom Weihnachtsfest, das wieder einmal gekommen war. Aber statt Frieden zu halten, zerfleischten sich die Menschen in tödlichem Hass. „In Hitlerdeutschland", fuhr er fort, „hat Freisler seinem obersten Herrn ein paar blutige Köpfe auf den Gabentisch gelegt. Wieder wurden in den Morgenstunden des heutigen Tages mehrere mutige Männer, unerschrockene Kämpfer für Frieden und Freiheit, in Plötzensee hingerichtet. Ihre Namen sind..." Frieda rückte noch näher an den Apparat heran. „...Kurt Schäfer, Hans-Joachim Dittwald, Hans Steffen..."
Die alte Frau sitzt da, schreckerstarrt, bleich bis in
die Lippen, wie vom Schlag getroffen. Eine Weile trifft noch die gedämpfte Stimme des Sprechers ihr Ohr, ohne dass es ihr gelingt, einen Sinn zu erfassen - dann wird die Stimme leiser und leiser... Sie hat gerade noch die Kraft, den Arm auszustrecken, gewohnheitsmäßig den Schaltknopf herumzudrehen - dann sinkt ihr Kopf zur Seite, ihre Lider schließen sich. Eine gütige Ohnmacht hält ihre Sinne umfangen, zieht für Minuten einen Schleier vor die Wirklichkeit... |
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