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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XXXVII

Der Schiedsspruch, die fristlosen Entlassungen, die den Kumpels in die Häuser geschickt wurden, der mörderische Kleinkrieg, der sich Tag um Tag überall abspielte, zermürbte die Kräfte einzelner Belegschaften. Eine Zeche nach der anderen fiel ab. Erbittert nahmen die Kumpels ihre Brocken und gingen zur Zeche, um einzufahren. Der Betriebsrat von Zeche »Hoffnung« hatte den ganzen Streik hindurch gearbeitet. Die Kumpels jedoch hielten zähe aus.
Sechs Prozent Lohnabzug! Zurück in die schreckliche Kohlenhölle, ohne Recht auf Beschwerde, den rücksichtslosen Treibern preisgegeben - das war noch mehr als Mord!
Sie warteten auf den Beschluss der RGO. In der Stadt tagte eine Konferenz.
Drängers Wohnung war voller Kumpels. Sie warteten auf Scheck, der Bericht bringen sollte.
Worbas saß ungeduldig am Fenster und passte auf. »Er kommt!« rief er plötzlich. Schecks Miene versprach keine gute Nachricht. Die Kumpels sahen ihm unruhig entgegen, als er in die Stube hereintrat. »Was gibt's denn?«
»Wir streiken weiter!« erklärte Scheck. Er sah sehr müde und abgespannt aus. Es verging keine Nacht, in der er nicht zu arbeiten hatte, und die letzten Nächte mussten sie mehr zusammenbleiben, weil sich die Überfälle auf einzelne Funktionäre mehrten. Sie mussten auch wachen, um die übermüdeten Kumpels morgens zu wecken, damit das Streikpostenstehen nicht vernachlässigt wurde.
»Es ist doch schon ein Teil der Belegschaften wieder eingefahren«, meldete sich einer der Kumpels verdrossen, »ich meine, wir schaffen nichts mehr!«
Scheck wandte ihm sein Gesicht zu und sagte hart: »Die werden wieder rausgeholt. Der Streik geht weiter. Jetzt nach dem Schiedsspruch erst recht!«
Fiedler saß in einer Ecke. Es fraß in ihm. Er hatte immer noch gehofft, dass die Gewerkschaften mit dem Lohnabbau nicht einverstanden seien. Nun war es mit der Hoffnung aus. Seine Führer halfen noch, dass sich die Kumpels noch mehr schinden mussten. Er stand auf, zog sein Verbandsbuch aus der Tasche seines Rockes, verzog in aufsteigender Wut das stopplige Gesicht und zerriss das Buch mit einem Fluch in Stücke.
»Da!« Er warf die Reste in den Kohlenkasten. »Es tut mir nur leid, dass ich mein sauer verdientes Geld unnütz fortgeworfen habe!«
Abends fand die Belegschaftsversammlung statt. Scheck berichtete und gab bekannt, dass Delegierte gewählt werden sollten für die Gründungsversammlung des »Einheitsverbandes der Bergarbeiter Deutschlands«.
Tobender Beifall unterbrach ihn.
Fiedler, Worbas und noch einige zwanzig Kumpels wurden als Delegierte gewählt.
Ein Sonntag. Schönes, frostiges Wetter. Vom Bahnhof in Duisburg kamen ganze Scharen Kumpels mit freudigen, fast feierlichen Mienen. Mit Autobussen und Straßenbahnen, aus den nächstliegenden Orten zu Fuß. Alle strebten zu dem großen Saal hin, der mit Inschriften auf rotem Tuch und mächtigem Fahnenschmuck die Ankommenden grüßte. Beiderseits des gewaltigen Saales, in den Nebenräumen, lagen Abteilungen der Polizei in Bereitschaft. Im Saal, mitten unter den Kumpels, die aus allen Orten des Ruhrgebiets erschienen waren, saßen mit ängstlichen Gesichtern Kriminalbeamte. Sie wurden bald als fremde Vögel erkannt, und die Kumpels rückten aus Protest von deren Stühlen ab.
Dränger war mit Scheck und anderen Kumpels erschienen. Sie nahmen als Gäste teil. Die Delegation von Zeche »Hoffnung« war noch nicht da. Die sollte mit Lotte fahren.
Dränger wendete ungeduldig den Kopf nach der Tür, aus Angst, der Kongress könnte beginnen und die Kumpels von Zeche »Hoffnung« zur Eröffnung zu spät kommen.
Die Tür ging nicht zu. Immer neue Delegationen schoben sich unter Gesang und fröhlichem Lärm in den Saal, in dem schon alle Plätze besetzt waren.
»Ho! Ho! Hierher, Lotte! Worbas!« schrie Dränger plötzlich und winkte mit der großen Hand über seinem Kopf.
»Hallo, da sind sie!« rief Lotte, lachte und drängte zu ihnen hin. Ihr nach der ganze Trupp der Delegierten von Zeche »Hoffnung«. Darunter auch Worbas, der sich den sonst in den Mund hängenden Borstenbart frisch aufgedreht und beschnitten hatte. Hinter Worbas stieß sich Fiedler nach vorn. Fiedler machte große Augen und schnaubte vor Freude. »Gottverdammich, dat is wirklich wat feinet! Hier mot eck aber ock tau Wort kommen!« Er drückte und schüttelte Dränger und den anderen mit aller Kraft die Hände. »Eck hew schon wat geholt, Kumpels«, erzählte er mit leuchtenden Augen. »Eck hew feste for de RGO opgeschriewen. Neunundzwanzig hew eck all schon!«
»Was, neue Mitglieder?« Dränger machte ein ungläubiges Gesicht.
»Na, war denn?« lachte Fiedler. »Dat is doch nich voll! Eck hal noch eene Portion!«
Scheck erzählte den staunenden Kumpels, dass in der letzten Woche allein auf Zeche »Hoffnung« über einhundert neue Mitglieder gewonnen worden waren.
Ein kleiner Kumpel eröffnete den Kongress. Auf einen Wink erhoben sich die Kumpels im Saal von ihren Plätzen.
»Ich frage euch, Bergarbeiter des Ruhrgebiets, seid ihr gewillt, heute den >Roten Einheitsverband der Bergarbeiter Deutschlands< zu gründen?« fragte der Leiter.
»Ja«, kam es aus zweitausend Mündern.
»Kameraden, im Namen der Revolutionären Gewerkschaftsopposition entbiete ich euch die heißesten Grüße! Der Rote Einheitsverband ist im Feuer des Ruhrkampfes geschmiedet worden!« sprach der Führer der RGO. Er sprach über die bisherige Politik der Gewerkschaftsführer, über den Terror gegen revolutionäre Arbeiter auf der Straße, in den Fabriken und Schächten. Kritisierte die Arbeit der reformistischen und christlichen Betriebsräte und schloss mit einem stürmischen »Hoch« auf den jungen Verband, der schon seine Pioniere vorausgeschickt hatte, bevor der Streik begann.
Das Präsidium wurde von Kumpels aus den verschiedenen Verbänden besetzt. Darunter waren auch Fiedler und Worbas.
Die Kumpels sprachen. Ihre Reden waren kurz, aber ein einziger Vorwurf gegen ihre Führer. Auch Fiedler kam zu Wort. Als er vor sich in Tausende Augen sah, die auf ihn gerichtet waren, begannen ihm plötzlich die Knie zu zittern. Er wollte nur kurz etwas sagen, denn er war nicht auf lange Reden zu Recht gehauen. Nun hatte er das Empfinden, seine Worte wären ihm wie eine Schar Vögel aus dem Munde geflogen. Ein Sturm raste durch den Saal. Hände winkten und klatschten. Er sprach noch immer. Er hörte seine Stimme im Saal aufprallen. Ja doch, er sprach. Alle seine Empörung brach durch, unter jahrzehntealten Schlacken, die sich im Gehorsam zu seinen ehemaligen Führern in seinem Inneren verkrustet hatten. Hier durfte er doch einmal sein Herz öffnen. »Wir haben geschuftet, Kumpels, und gewartet, bis man uns einen Schiedsspruch heraus gehandelt hat. Sechs Prozent Lohnabbau! Wie Maschinen haben wir vor Kohle gejagt und hatten oft nichts mehr in den Mund zu tun. Unsere Führer haben es nicht nötig, ihre Brotgeber mit einem Streik zu beunruhigen, ihre Bäuche sind voll! Ich habe meine Beiträge fast zwanzig Jahre fortgeworfen, und ich bin ärmer und ärmer geworden! Aber heute weiß ich, dass ich durch die Politik der christlichen Gewerkschaftsführer auf den rechten Weg geführt worden bin. Ich gehöre mit meinem ganzen Herzen zu euch! Es lebe der Rote Bergarbeiterverband, der uns die wirtschaftliche Befreiung bringen wird!« Fiedlers Herz glühte, als er in dem darauffolgenden Sturm seine Faust erhob.
Nach der Rede des Vertreters der Kommunistischen Partei erhoben sich wieder alle Kumpels im Saal. Sie standen mit entblößten Köpfen und glänzenden Augen und sangen trotzig die Internationale.

Der Zug, der die Kumpels zurückbrachte, fuhr an Stahlwerken vorüber. Die Höllen der Ruhr. Lohende Glut schoss aus den Hochöfen. Rauch verdunkelte die Umgebung. Die Stahlwerke entschwanden. Schächte tauchten auf. Kohle. Überall Kohle. Stinkender Qualm jagte in die Wagenabteile. Kohlenstaub spritzte in die Augen. Flimmernder Stahlstaub und Kohle tanzte in der Luft.
Der Zug fuhr an grauverstaubten und verrußten Häusern entlang.
Worbas saß mit blinzelnden Augen am Fenster, sah hinaus und hörte dem rebellischen Gesang zu, der aus anderen Wagen zu hören war. Fiedler saß neben ihm und paffte seine Pfeife. In seinen Augen lag ein Freudenschimmer. »Kumpels«, sagte er auf einmal, »ich hab heut den schönsten Tag miterlebt!« Er stieß Worbas mit dem Ellenbogen an. »Wat meinst du, Worbas?«
Worbas nickte und wandte sich um. »Wisst ihr, mehr als die Schinderei im Pütt drückte das Bewusstsein, mich nicht auf dem richtigen Wege zu befinden!«
»Und jetzt?« fragte Dränger. »Bist du jetzt drauf?«
»Ja!« Worbas nickte fest und wandte sich wieder zum Fenster.

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