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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XVI

Die Frauen in der Kolonie hatten das Mittagessen aufgestellt. Es roch aus den Fenstern nach Kohl, Kartoffeln und Hülsenfrüchten. Frau Ragnitzki fütterte gerade ihre Ferkel; da brüllte die Sirene vom Schacht in lang anhaltenden Zügen. Sie hob den Kopf, sah zum Stall hinaus und rief der Jarzack zu: »Hört mal hin, wat haben die, dat dat Ding mit dem Brummen nich ophört!«
Frau Jarzack konnte es nicht erklären. »So brummen die Dinger, wenn's irgendwo Feuer gibt!« sagte sie.
Da erscholl aus der Franzstraße Geschrei: »Ein Unglück auf der Zeche!«
»Was?« rief Frau Ragnitzki; ihre Beine versagten. Auf der Straße rannten Frauen und schrien durcheinander.
Frau Ragnitzki schleppte sich bis zur Gartentür. »Mein Gott, nu sagt doch, was ist passiert?« Der Gedanke an ihren Mann und ihre drei Jungen, die Morgenschicht hatten, lähmte sie.
»Ein Unglück auf der Zeche, schnell, kommt mit!« schrie ihr eine Frau im Vorbeihasten zu.
Die Sirene brüllte ununterbrochen. Die Straßen waren eine laut jammernde und schreiende Menge, die sich über diejenigen, die hinstürzten, rücksichtslos hinweg wälzte.
Frau Jung hatte soeben die kochende Wäsche vom Herd herunter gestellt und schüttete sie mit der kochenden Lauge in das Waschfass. Ihr Kind kroch in der Küche unter dem Tisch herum und spielte. Eine Faust schlug gegen ihr Fenster, und jemand schrie: »Frau Jung, mein Gott, hören Sie denn nichts? Ein Unglück auf der Zeche!«
Frau Jung war es, als schlüge ihr eine Eisenfaust ins Gesicht! Die zitternde Krämern ergriff sie am Arm. »Los, unsere Männer sind in der Grube!«
Frau Jung ließ sich, halbbetäubt, zur Zeche schleppen. Vor dem Tor stauten sich Frauen, Männer und Kinder. Grauenhaft wirkte das Gewimmer der Betroffenen, deren Männer in der Grube waren.
»Lasst mich durch, ich will zu meinem Mann!« kreischte Frau Jung, als sie die Menge erblickte. Sie bohrte sich hindurch, ihre Kräfte waren unbändig gewachsen. Sie stieß einen Polizisten zurück, der ihr den Weg verstellen wollte. »Geh, ich muss zu meinem Mann!«
Autohupen lärmten. Wagen mit Sanitätern sausten heran. Tragen wurden von den Wagen heruntergehoben. Stärker wurde das Jammern der Menschen um das Tor herum. Feuerwehr, Polizei, Sanitäter, Wagen um Wagen...
Erich Ragnitzki war gerade am Schacht gewesen, als er den Donner hörte. Im Moment zitterten die schweren Eisenträger im Füllort und einige brachen durch. Staub schoss aus dem Querschlag und hüllte alles in Dunkelheit. Der Anschläger ergriff im letzten Augenblick mit beiden Händen die Eisenpforte, sonst hätte ihn der Luftstoß in den Schacht hinein gefegt.
»Das sind schlagende Wetter!« schrie Erich Ragnitzki und bebte, denn er dachte sogleich an seine Kohlenrutsche, wo seit Tagen die Gefahr bestanden hatte.
Die in der Nähe des Füllortes arbeitenden Leute stürzten sich auf den Förderkorb. Sie zerrten einander herunter, schlugen sich, um nur den Korb zu bekommen.
»Verflucht. Seid ihr verrückt geworden!« brüllte der Anschläger; denn es war unmöglich, den Förderkorb in Fahrt zu bringen, weil sich die letzten mit beiden Fäusten daran klammerten und nicht losließen. Der Anschläger schlug mit Gewalt auf die Hände, um den Förderkorb frei zu bekommen.
Erich Ragnitzki dachte plötzlich an den Vater und seine Brüder. Er wandte sich um und stürmte zurück. Der Schmerz der Kopfwunde war vergessen. Er rannte zurück in das verlassene Revier; prallte mit den aus den übrigen Revieren flüchtenden Hauern und Schleppern zusammen, stürzte hin. Die Stiefel der Flüchtenden zertraten ihm Hände und Gesicht. Er sprang von neuem auf und bahnte sich mit den Fäusten einen Weg durch die stauenden und schreienden Leute; stieß jeden zurück, der ihn aufhalten wollte, bis er wieder in der Hauptförderung war. Dort waren Leute und schrien um Hilfe. - Hauer, die sich verletzt aus ihren Örtern gerettet hatten und in der Strecke zusammengebrochen waren. Sie griffen in Todesangst nach ihm. Er trat mit Stiefeln auf die Hände, die seine Beine umklammerten.
Unten am Bremsberg wimmerte einer. Erich sprang über ihn hinweg. Den Bremsberg hinauf. Nach einigen fünfzig Metern schlug ihm verbrannte Luft entgegen. Er musste zurück, wickelte das Hemdstück vom Kopf, machte es an einer Wasserleitung nass, wickelte es um seinen Mund und drang so nach vorn. Nun fand er die Strecke, wo er seinen Vater wusste, und schrie dessen Namen.
Der nasse Lappen schützte ihn vor dem Ersticken. Er leuchtete die zusammengebrochene Strecke ab. Es war gefährlich, einige Schritt weiter zu gehen. Seine Augen erblickten einen Körper. »Vater!« Er kroch vorwärts. Es war nicht der Vater. Der alte Schröder war es. Tot.
Erich konnte es nicht länger aushalten. Schon sauste sein Kopf. Ein Taumel erfasste ihn. Er musste zurück.
Im Bremsberg versagten ihm die Beine den Dienst. Er hatte zu viel Schwaden geschluckt. Nur nicht liegen bleiben!
Erich kroch auf allen vieren Meter um Meter hinunter, bis zu der Stelle, wo der Mann wimmerte, den er zuletzt zurückgestoßen hatte.
»Kumpel«, stöhnte der, »komm hierher, hier ist mehr Luft!« Die Stimme klang fremd. Doch Erich erkannte sie jetzt, da er bald alles aufgegeben hatte »Vater!« - »Erich!«
Die beiden umklammerten sich. Doch sie waren nicht imstande weiterzukriechen.
Erich wurde ohnmächtig. Der Vater nahm seinen Kopf in den Schoß: Einen hatte er... Seine groben, abgearbeiteten Hände strichen zart und behutsam über das schmale Gesicht des Jungen, wie damals, als er noch in der alten Wiege lag, klein und hilflos.
Ein Förderkorb nach dem andern fuhr zutage. Jubel erscholl, wenn Angehörige ihre Männer und Söhne unversehrt wiedererhielten. Von neuem brach das wahnsinnige Geschrei aus, wenn Mütter und Frauen umsonst gehofft hatten.
Frau Jung, die sich nach vorn hindurch gewühlt hatte, sah mit brennenden Augen zum Schacht hin. Ihr Mund stieß nur noch heisere Laute aus. Und wieder kam ein Korb heraus. Die Geretteten erschienen auf dem Zechenplatz. Frau Jung stürzte vor. »Da ist er ja, seht, da ist mein Mann!«
Jung durfte nicht mehr in die Waschkaue hin. So schwarz, wie er herausfuhr, so riss ihn seine Frau mit sich.
Aus der Kolonie kam eine Frau. »Frau Jung! Sucht die Frau Jung« schrie sie. Frau Jung hörte es nicht.
Sie hielt mit beiden Händen ihren Mann umklammert, ließ ihre Augen nicht von ihm ab.
»Frau Jung!« Eine Faust riss sie herum. »Schnell, nach Hause, euer Kind ist verbrüht!«
Frau Jung begriff nicht.
Jung hatte es begriffen. »Du hast das Kind allein gelassen!«
»Es ist ins Waschfass gefallen; hat sich totgebrüht!« schrie die Frau, die die Nachricht brachte.
Frau Jung wurde fahl. Sie knickte in sich zusammen.

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