XVIII 
  Frau Ragnitzki schien es, sie befände sich in einem  großen Grab, in dem sie langsam erstickte. Von ihrem Mund, dessen Unterlippe  tief herunterhing, floss der Speichel. Ihre Augen waren leergebrannt und  unverwandt nach dem Schacht gerichtet. Sie wartete auf die Ihren. Man hatte  ihren Mann und Erich herausgebracht. Ein Hauer teilte es ihr mit. Sie nickte  mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck. »Tot?« 
    »Nein, der Alte hat einen Arm und die Beine gebrochen.  Erich hat Schwaden abgekriegt!« 
    Ihr starrer Körper bekam Leben. »Ich will sie sehen, lasst  mich durch!« Sie brach sich Bahn durch die Menge. Ein Polizist versperrte ihr  den weiteren Weg. »Ich will meinen Mann und meinen Jungen sehen!« schrie sie  und schüttelte die Fäuste vor dem Gesicht des Polizisten. 
    »Es darf niemand auf den Zechenplatz!« Sie wurde zurückgedrängt. 
    Frau Ragnitzki begann zu jammern. Ihr Jammer übertrug  sich auf die anderen. Und wieder vergingen Stunden. 
    Ein Wagen nach dem andern verließ verdeckt den Zechenplatz  mit Verletzten, die nach den Krankenhäusern gebracht wurden. Hinter einem  Wagen ging mit schweren Schritten Heinrich Renteleit. 
    Der Förderkorb brachte neue Ladung. Tot. Die Rettungsmannschaften  lösten sich ab. Balasz war nicht darunter. Auch Dränger nicht. Sie waren noch  in der Grube. 
    Der Nachmittag ging seinem Ende zu. Die Kolonie lag  wie ausgestorben. Aus den offenen Fenstern drang der Gestank von verbranntem  Essen. 
    In einer Wohnung jammerte eine Frau und sah stier auf  die Leiche ihres verbrühten Kindes. Frau Jung. Er hockte am Fenster in der  Küche und starrte unentwegt zum Schacht. Eine Frau, die ununterbrochen  wimmerte, wurde von zwei anderen Frauen vorbeigeschleppt. Es war Frau  Ragnitzki. 
    Jung sah es. Teilnahmslos. Seine Frau schluchzte, über  ihr Kind gebeugt: »Du - du - warum musste das geschehen?« Das war nicht mehr  die Stimme seiner kindlichen Frau. Eine fremde, müde Stimme voller  Verzweiflung. 
    »Ach!« Jung heulte auf. »Wofür bin ich der Hölle entkommen?« 
    »Sei still, ich weine ja nicht mehr!« bettelte die  müde Stimme. »Ich bin ja schon ruhig. Es ist nur so furchtbar, so unfassbar,  ich will ja nicht mehr weinen!« 
    Im Nachbarhause kreischte ein Weib, auch in einem anderen  Hause. Aus vielen Häusern kamen Schreie wie von Wahnsinnigen. Die Straße  entlang schreit und stöhnt es. Kinder weinen, an die Röcke der Mütter gehängt.  Kinder an Brüsten brechen in klägliches Weinen aus. Hin zur Zeche. Zurück von  der Zeche. Hin und her, her und hin, bis die Nacht hereinbricht. In die Nacht  hinein stöhnt und weint es aus den Häusern. Die Straße weint. 
    Mitternacht. Vor den Häusern hocken zusammengesunkene  Gestalten. Mütter mit ihren Kindern. Ohne Schlaf. Leichenblasse Gesichter  erheben sich aus der Starre, wenn jemand vom Schacht kommt. 
    »Wie weit sind sie?« 
    »Kann mehrere Tage dauern.« 
    »Wie viel sind raus?« 
    »Einhundert und einige mehr - alles Tote!« 
    Nach Mitternacht kam ein Förderkorb mit neuer Fracht  herauf. Neben einem Toten hockte der lange Dränger. Der stille Kumpel, der auf  der Bahre lag, war Balasz. 
    Balasz war bis zur dritten Rutsche vorgedrungen und  hatte dort jemand um Hilfe rufen hören. Dränger und die anderen warnten. Balasz  kroch in das zusammengebrochene Loch hinein. Die Rutsche hatte von den Schwaden  weniger abbekommen. Der größte Teil der Kumpels drinnen war durch den Luftdruck  und das stürzende Gestein getötet worden. 
    Er wühlte sich bis zu dem Verletzten hindurch und  zerrte ihn unter dem Gestein fort. Es war ein schwerer Transport, denn der  Hauer hatte Knochenbrüche und konnte sich selbst nicht helfen. Bis zum Umfallen  erschöpft, kam Balasz mit ihm hervor. Es war nicht der letzte. In dem Loch  ächzte noch jemand. Es musste höher sein. 
    Dränger versuchte, um Balasz zu schonen, hineinzukriechen.  Sein Leib war zu stark, und er musste umkehren. 
    Balasz kroch noch einmal hinein. Sein schmaler Körper  erlaubte es, dass er tiefer hineinkriechen konnte. Das Ächzen erscholl höher,  je weiter er in den Bruch hineinkroch. Dränger warnte. Balasz hörte nicht auf  die Warnung, vor ihm bettelte ein Schwerverletzter um Hilfe. Er schob sich vorwärts. 
    Über ihm knackte der Stein. Dreck rieselte herunter.  Balasz wäre gern umgekehrt, der Verletzte vor ihm begann angesichts der  nahenden Lampe zu jammern: »Hier, Kumpel, hierher.« 
    Dränger hörte es. Er hörte aber auch das Brechen des  Gesteins. »Komm zurück!« schrie er in das Loch hinein. 
    Balasz hörte den sich lösenden Stein und begann  zurückzukriechen. Einige Meter vor den Kumpels, die ihn voll Angst erwarteten,  brach der Stein durch und begrub ihn. 
    Es war die bitterste Arbeit, die Dränger beim Bergen  seines Freundes verrichten musste. 
    Nun hockte er auf dem Förderkorb und brachte den toten  Kumpel hinaus. 
    Balasz wurde neben die vielen andern Toten in der großen  Waschkaue gebettet. Dort herrschte Grabesstille. Ein großer Teil der Toten lag  bis übers Gesicht vermummt; das waren die Verbrannten. Es roch entsetzlich. 
    Lange weiße Bündel lagen zwischen denen, die noch ihre  Grubenkleidung anhatten; das waren die Zusammengeflickten. 
    Um zwei Uhr nachts lagen einhundertneununddreißig  Leichen nebeneinandergereiht; zwei Drittel davon verbrannt. 
    Nur Berufene hatten Zutritt. Betriebsführer Böß wurde  kreideweiß, sobald er in den Raum musste. Und er musste es oft; denn es kamen  hohen Besuche und wollten die Leichen sehen. Er war froh, wenn er aus der  Waschkaue war. 
    »Denen könn Sie kein Gedinge mehr kürzen!« hatte ihm  jemand zugerufen, als er einmal aus der Waschkaue kam. Er tat so, als ob er es  nicht gehört hätte. 
   
    Das Knappschaftskrankenhaus lag mitten in der Stadt.  Im Zentrum von mehr als zwanzig Schachtanlagen, die dorthin ihre Kranken und  die im Pütt Verunglückten brachten. 
    Jaschinski hatte seine Lungenentzündung überstanden  und durfte, noch sehr erschöpft, jeden Tag einige Stunden aufstehen. Auf seinem  Zimmer lag ein Hauer von einer Nachbarzeche namens Brauneisen, der wegen  Steinstaublunge feierte. 
    Brauneisen führte Jaschinski auf seinen Spaziergängen  im Krankenhaus umher und zeigte ihm die verschiedenen Säle und Stuben, die voll  gazebepackter Menschen lagen. 
    In einem Zimmer fand Jaschinski einen Kumpel aus seiner  Rutsche, den Gartmann. Gartmann hatte Jaschinski zuerst erkannt und angerufen,  als dieser seinen Kopf zur Tür hineinsteckte. 
    »Fritz, komm näher. Was machst du denn hier?« rief  Gartmann mit gepresster Stimme und winkte ihn heran. Jaschinski erschrak vor  dem mageren Gesicht, das weiß war wie der Verband, mit dem der Kopf umwickelt  war. 
    »Mensch, Gartmann, wie kommst du denn hierher?« fragte  er bestürzt. 
    »Du siehst es«, ächzte Gartmann und verzog sein  Gesicht im Schmerz, »einen Bruch hat's gegeben. Beide Beine haben sie mir  abgesägt!« 
    »Beide Beine, das ist schrecklich!« entsetzte sich Jaschinski. 
    »Nicht wahr?« Gartmann richtete sich auf den Ellenbogen  empor und sah Jaschinski mit fiebrigen Augen an. »Du sagst es richtig, das ist  schrecklich, Kumpel, ich bin erst dreißig; beide Beine ab, das ist nicht nur  schrecklich, es ist Wahnsinn!« 
    Gartmann steigerte seine Stimme und schrie: »Das ist  der Irrsinn, den man mit uns vor Kohle treibt. Ich bin ja nur noch ein halber  Mensch, Jaschinski, ein erbärmlicher Krüppel!« 
    Jaschinskis Kehle quoll zu. Es ging ihm kalt und siedeheiß  durch den Leib. 
    »Siehste«, fuhr Gartmann fort, »so geht es, immer lag  einer hinterm Rücken, hat getrieben und getrieben. Kohle raus. Ausbauen - kein  Gedanke, bis du drunter liegst. Der Tod wäre mir lieber. Was tu ich nun mit den  Stumpen, die mir geblieben sind? Hätte mich der Stein erschlagen, wäre ich  besser dran. Wie ein Säugling, so hilflos bin ich jetzt.« 
    Gartmann erschütterte ein Schluchzen. Jaschinski stand  vor dem Bett, noch ratloser als Gartmann. 
    Aus einem Nachbarbett erhob sich ein Knabengesicht,  das so klein war, dass es Jaschinski mit einer Hand zudecken konnte. »Und mir  haben sie hier den Arm abgesägt, schau her, Kumpel!« Der Knabe hielt Jaschinski  einen bewickelten Armstumpen entgegen. »Ich hab ihn mir zwischen Wagen  viermal gebrochen. Nun soll ich noch mal dran, denn die Wunde heilt nicht und  eitert!« 
    »Sei doch froh, dass du nicht so dran bist wie ich!«  quäkte ein schwarzstoppliges Gesicht aus einem dritten Bett. Zwei glühende  Augen wandten sich Jaschinski zu. »Ich hab Wirbelsäulenbruch«, erzählte der  Mann mit schwacher Stimme, »bleibe gelähmt, sagt der Arzt. Ich soll mich damit  abfinden« - ein kurzes verzweifeltes Lachen -, »abfinden, mit achtundzwanzig  Jahren, wenn man nicht leben noch krepieren kann! Alles geht unter mich, ich  lieg im eigenen Dreck und kann's vor Gestank nicht aushalten! Betteln muss ich,  dass man mich reinigt!« 
    Jaschinski schluckte und fand keine Worte. Er hätte so  gern etwas Tröstendes gesagt. Es erschien ihm lächerlich, denn aus einem  vierten Bett kam ein Stoßhusten und ein grässlicher Fluch. »Was erzählt ihr ihm  denn alles?« schrie ein wutverzerrtes Gesicht, das nur Haut und Knochen war.  »Jedem erzählt ihr immer dasselbe. Es kotzt mich schon an!« 
    Jaschinski entwand seine Hand der des Gartmann. »Ich  komm ein andermal«, sagte er und lief wie gejagt hinaus. Er roch noch immer den  faulen Kotgeruch des Zimmers, das er 
    verlassen hatte. 
    Brauneisen kam die Treppe herunter und schnaufte ohne  Atem: »Komm schnell raus, auf Zeche »Hoffnung« sind schlagende Wetter  ausgebrochen. Man bringt Verbrannte.« 
    Er zerrte Jaschinski ins Freie. Ein Sanitätswagen war  vorgefahren. Tragbahren wurden von dem Wagen abgeladen. Ein paar völlig  verhüllte Körper wanden sich darauf. Wieder das furchtbare Ächzen, das  Jaschinski bei Gartmann so erschüttert hatte. Der Wagen war noch nicht  abgeladen, ein zweiter rollte vor das Krankenhaus. Tragbahren mit Kumpels,  wieder verhüllt. Es roch nach verbranntem Fleisch. 
    Einer der Kumpels hatte sich während des Transportes  losgewickelt. Das Gesicht war nur rohes Fleisch, in dem die Augen wie ein paar  Glaskügelchen zitterten. 
    Die Verbrannten wurden sofort in das Operationszimmer  getragen. Ärzte und Krankenschwestern alarmiert. Der Aufzug, der die  Stockwerke miteinander verband, ging ununterbrochen wie der Förderkorb im  Schacht. 
    Zimmer sechzehn, in dem Jaschinski lag, bekam vier frische  Betten, die mit Kumpels von Zeche »Hoffnung« belegt wurden. Ihre Köpfe und  Gesichter waren bis an die Nasenspitze in Verbänden eingepackt. 
    Unten vor dem Portal fuhren immer wieder Wagen vor. 
    Brauneisen, der zusah, wandte sich an Jaschinski.  »Das, was wir bisher erlebt haben, das war wüst; aber was da herauskommt, das  ist wie nach einer Schlacht!« 
    Im Operationszimmer ging es zu wie auf einem Verbandplatz  während einer Offensive im Kriege. Es wurde geschnitten und genäht, verbunden  und geschleppt. Tragbahre um Tragbahre, immerzu, immerzu, bis die Nacht kam.  Aber die Nacht minderte die Qualen nicht. Gellendes Schreien und Jammern  erscholl in allen Räumen. 
    Jaschinski lag, sein Gesicht in die Kissen vergraben, und hielt sich die  Ohren zu. Er fieberte vor Aufregung. Schlief ermüdet ein. Schreckliche Träume  rissen ihn aus dem Schlaf. Dann hörte er wieder das Winseln der Kumpels. 
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