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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XXX

Frau Krämer hatte ihren Kindern für das letzte Geld Kuchen und Fleisch eingekauft. »Fresst euch wenigstens einmal vernünftig satt, dann mag kommen, was will«, sagte sie.
Auch die andern Frauen erstickten die Sorge an die kommenden brotlosen Tage und versuchten, sich gewaltsam einzureden, dass es nur einmal im Jahr Weihnachten gäbe, an denen auch sie das Recht hätten, sich satt zu essen.
Bei Mihalleks fand am Nachmittag des ersten Feiertages, zum ersten mal nach Willis Tod, wieder eine Zusammenkunft statt, in der Schnaps gereicht und getanzt wurde.
Die Jungen und Mädel aus der Nachbarschaft hatten sich wie damals, bei Willis Verlobung, eingefunden.
Bontzeck musste mit dem Bandonion kommen.
Frau Mihallek hockte am Herd und sah mit trüben Augen in den Trubel, der die Jungen begeisterte, bis sie auf einmal zu heulen begann und hinausschlich. »Ich kann den Jungen nicht vergessen«, sagte sie zu ihrem Mann. »Der fehlt mir auf Schritt und Tritt!«
In allen Häusern, in denen man sich zusammengefunden hatte, kam die Erinnerung an das Unglück mit doppelter Wucht. Es konnte keine Freude aufkommen.
Die Männer spielten Karten oder tranken. Die Frauen saßen beieinander, erzählten dies und das, bis sie ungewollt auf das Unglück kamen. Mihallek besoff sich, um die Selbstvorwürfe zu vergessen, lag auf der Bank und schlief seinen Rausch aus.
Frau Mihallek hatte die Jungen unter sich gelassen und war zu der Ragnitzki hinübergegangen. Dort traf sie auch die Krämersche an. Sie sprachen von den Toten.
Die Glocken der Kirche hatten zur Andacht gerufen.
Frau Jaschinski hatte aufgehorcht. Das Kind in ihrem Schoß wand sich, sie gab ihm die Brust. Ihr Gesicht war verkümmert. Ach, wie fern waren ihre einstigen Wünsche. Ihre Blicke glitten über die leeren Wände. Ein hässliches Insekt kroch schwerfällig daher. Das Insekt war wie ihr Leben, so hässlich und suchend. Es ekelte sie, aber sie besaß nicht die Kraft, das Insekt zu erschlagen. Sie fühlte sich mit dem erbärmlichen Wurm eins, sie war ja nicht mehr als ein Wurm, nach dem man fortwährend geschlagen hatte, um ihn zu vernichten.
Frau Jaschinskis Leben war nach der Hetze der Jahre, die sie mit ihrem Mann zusammen verlebt hatte, nach der Zerstörung ihrer bescheidenen Träume, nach Jaschinskis Tod zur Hölle geworden.
Die Glocken hatten alle Macht über sie verloren. Als man Jaschinski ins Grab senkte, stürzte auch ihr Glaube hinein. Sie betete nicht mehr.
»Mama, warum bist du so still?« fragte das älteste Mädel und schmiegte sich besorgt in ihren Schoß.
»Weißt du denn nicht«, sagte der vierjährige Junge, »der Papa liegt ja im tiefen Loch!« Auch er presste sich in Frau Jaschinskis Schoß und wandte sein dürftiges Gesicht zu ihr hinauf. »Wart, Mama, wenn ich groß bin, dann kauf ich dich eine Küche, eine so große!« Er machte mit den mageren Ärmchen eine umfassende Gebärde.
»Mama, so doße!« plapperte auch das dritte und streckte die Händchen aus.
»Mama, warum ist der Papa tot?« fragte das Mädel. Frau Jaschinski ging ein Stich durchs Herz, sie erzitterte und rang mit sich.
»Er musste schwer arbeiten!« erwiderte sie gepresst. »Warum, Mama?« fragte das Mädel. »Warum musste er soviel arbeiten, Mama?«
»Weil wir sonst kein Brot hatten!« »Dann hat ihn die Arbeit totgemacht?« »Ja!«
Das Kind sann nach. »Dann müssen auch die anderen, die noch auf der Zeche arbeiten, totgehen?« nahm das Mädel wieder das Gespräch auf.
»Ja!« nickte Frau Jaschinski gedankenverloren.
»Oh«, sagte das Mädel nachdenklich, »so 'n großen Friedhoft gibt's ja gar nicht! Wo Papa liegt, is schon alles voll!«
Nach einer Weile Nachdenkens sah das Mädel wieder auf. »Sag, Mama, muss man auch sterben, wenn man kein Brot mehr hat?«
Frau Jaschinski biss sich auf die Lippen. »Ja, Mama?« fragte das Mädel eindringlich. Frau Jaschinski stöhnte. »Sei still, quäl mich nicht«, und sie drückte dem Kind mit der Hand den Mund zu, denn sie konnte die furchtbaren Fragen nicht mehr ertragen.
In der Beamtenkolonie, die links von ihrer Wohnung lag, wurde gesungen. Dort waren die Fenster strahlend erleuchtet. Auch bei Betriebsführer Böß brannten die Lichter am Baum, auf einem Klavier wurden fromme Weisen gespielt.
Frau Jaschinski hörte frohen Gesang. Dort sang einer, der ihren Mann zu Tode gejagt und sie selbst so erbärmlich gemacht hatte. Der war froh, und seine Angehörigen beglückwünschten und beschenkten einander, während sie sich den Kopf zerbrach, wie sie für ihre Kinder in den nächsten Tagen Brot beschaffen sollte. Warum das Unrecht? Warum musste ihr Mann sterben und sie in der bittersten Not zurücklassen? Gerechtigkeit? Gott...?
Ihr Gesicht wurde hart. »Warum dann dies Unrecht?« Die Dunkelheit quälte sie. Sie nahm das Kind von der Brust, das wieder zu schreien begann, legte es hin und suchte mit den Händen nach dem Lichtschalter. Sie atmete erleichtert auf, trank wie eine Verdurstende das Licht in sich, denn die Dunkelheit hatte sie entsetzt.
Sie nahm wieder das Kind auf, nachdem sie die andern gebettet hatte, und saß lange..., lange...
Bis tief in die Nacht spielte Bontzeck auf dem Bandonion. Bei Jarzacks weinte die Frau. Sie hatten sich geschlagen. Bei Ragnitzkis hockte eine Gruppe Frauen; sie tranken Kaffee und unterhielten sich noch immer von ihren Toten.
Am nächsten Tage. In den Straßen der Kolonie gellte das Horn. Eine Gruppe junger Leute kam, stellte sich mitten in der Straße auf und rief gemeinsam: »Arbeiter, Frauen, wir halten eine öffentliche Versammlung ab!«
Die Einwohner erschienen mit erstaunten Gesichtern an den Fenstern.
Scheck sprang auf eine Treppe und sprach über die Massenkündigungen, über die Unfälle im Pütt und die Lohnabzüge. »Bereitet den Streik vor!« rief er. »Wenn ihr nicht alle elend zugrunde gehen wollt, ist der Kampf der einzige Ausweg!«
Darauf wieder das gellende Horn, wie bei einem Feueralarm. Der Schrei der Trompete drang bis in die letzten Räume der Kolonie, riss die Zaghaften heraus, neue Hoffnung leuchtete in ihren Augen.
Scheck sprach von Straße zu Straße. Eine ganze Schar, Jugend, Kinder und Erwachsene, folgte ihm, hörte immer wieder zu.
Die Glocken begannen zu läuten. Der Mann, der Scheck begleitete, setzte seine Trompete an den Mund. Blies hinein: die Internationale!
Die Gruppe, die die Versammlung bekanntgab, sang mit. Und einer um den anderen der Kumpels und Frauen, die der Schar folgten, sangen mit.
Die Kolonie wurde lebendig. In den Häusern sprang Licht auf. Alle Sorgen, enttäuschte Hoffnungen, Schmerz und Hass brandeten hoch.
Weit entfernt erklang das Horn. Scheck sprach in einer anderen Kolonie.
»Mama, hast du die Männer gesehen?« fragte Jaschinskis Mädel.
Frau Jaschinski hatte die Männer gehört. Wenn alle so wären! hatte sie gedacht. Das war es: wenig Lohn, Treiberei, bis die Menschen umfielen oder bis sie unterm Bruch begraben wurden! So war es!
Die Feiertage waren vorüber. Die Kumpels fuhren wieder ein. Böß forderte von den Hauern der neunten und zwölften Rutsche die vereinbarte Kohle. Die Kumpels jagten drauflos, waren jedoch nicht imstande, es zu leisten.
Bein ging nicht aus den Rutschen, lag hinter den Hauern und trieb an. So hatten sie den Bein noch nicht kennengelernt. Er war wie ein Jagdhund hinter gehetztem Wild, brüllte, wie einmal der Schacke gebrüllt hatte, und strafte für den geringsten Widerstand.
Böß wartete jeden Mittag auf Bericht. Es war ihm immer zu wenig.
»Verflucht! Ich mach den Dreh nicht mehr mit!« heulte Pielka eines Tages. Er warf die Schippe in die Kohle.
»Warum unterschrieben Sie denn?« fragte Bein.
Pielka sah ihn drohend an: »Ich bin kein Jaschinski!«
»Sie werden noch aus der Hand fressen, verlassen Sie sich drauf«, sagte Bein höhnisch, nachdem er sich vorsichtshalber einige Meter weit höher zurückgezogen hatte.
Auch Warneck wütete. Er kroch zu Dränger hin. »Verdammt, es ist für ein Tier zu viel. Peter, wir sind hier wie in einem Tollhaus!«
Bein traf sie beieinander. »Warum fördern Sie keine Kohle?«
»Holen Sie Pferde her, ich bin's satt!« schrie Warneck.
»Wer nicht fördert, der kann auf der Stelle ausfahren!« drohte Bein.
Die Hauer mussten wieder an die Kohle.
Böß fuhr selbst ein. Er machte den Hauern bekannt, wenn sie der Vereinbarung nicht nachkämen, müsste er ihnen zum ersten Januar kündigen. »Unrentable Kohlenrutschen können wir unmöglich weiter in Gang halten!« sagte er und kroch fort, ohne sich an den empörten Einwänden der Hauer zu stören.
Raschewski zerschlug sich in der dritten Schicht nach den Feiertagen die Knochen. Das Hangende war schlecht ausgebaut und brach durch. Es hatte ihm die Rippen eingedrückt. An Raschewskis Stelle kam kein anderer Hauer, sein Kohlenstück wurde unter die anderen Hauer aufgeteilt.
»Eher fress ich Stroh, als dass ich mich hier für nichts tot schinde!« sagte der Pielka, fuhr aus und holte sich einen Krankenschein.
Er wusste, dass das seine Entlassung war.

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