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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XXI

Frau Jaschinski war in Aufregung. Sie hatte nach der schweren Erkrankung ihres Mannes die Raten für ihre Küche nicht einhalten können und eine Aufforderung bekommen, entweder sofort die fünf rückständigen Raten zu bezahlen, oder das Geschäft lasse ihr binnen achtundvierzig Stunden die Möbel fortholen.
Sie lief zu den Nachbarn, um sich das Geld zusammenzuleihen. Was war aber ihr Missgeschick gegen das Unglück, das die, an die sie sich in ihrer Verzweiflung wandte, betroffen hatte. Wo sie hinkam, traf sie Trauer, rotgeweinte Augen, vergrämte Gesichter.
Sie packte ihres Mannes Sonntagszeug, Bettwäsche, ihre und der Kinder Kleider zu einem Bündel und eilte damit zur Pfandleihe. Sic bekam für alles zwölf Mark. Fünfzig Mark hatte sie aufzubringen. Woher nehmen?
Eine Frau riet ihr, sich an den Pfarrer zu wenden. Neue Hoffnung. Frau Jaschinski eilte zu dem Pfarrer.
»Liebste Frau«, sagte der Pfarrer, »wer hat Ihnen das eingeredet? Ich hab auch nicht eine Mark übrig! Sehn Sie doch zu, ob man Ihnen nicht in der Wohlfahrt was geben kann!«
Frau Jaschinski rannte zur Wohlfahrt.
»Sie müssen einen Antrag stellen!« sagte ihr dort ein Beamter, »es muss erst geprüft werden, ob Bedürftigkeit vorliegt!«
»Man holt mir doch die Küche fort!« erbebte Frau Jaschinski. »Ich muss das Geld sofort haben!«
»Wir können es beim besten Willen nicht, Frau! Ich kann Ihnen wohl einen Lebensmittelschein ausstellen!«
»Es geht um die Küche!« brach Frau Jaschinski in Tränen aus.
»Aber, liebe Frau, erlauben Sie mal«, sagte der Beamte ärgerlich. »Sie können von uns doch unmöglich verlangen, dass wir jedermann die Brocken abzahlen!«
Frau Jaschinski schleppte sich heim. In ihrem Kopf kreiste nur der Gedanke an das Geld, mit dem sie ihre Küche retten konnte. Wohin gehen?
Am nächsten Morgen hatte sie bei Apothekers Wäsche. Übernächtigt stand sie auf, versorgte das älteste Mädel für die Schule, brachte die drei kleineren Kinder zu der alten Schadowski und begab sich zur Apotheke.
»Sie schauen nicht gut aus, Frau Jaschinski«, sagte Frau Bajer, »fühlen Sie sich nicht gesund?«
»Ich hab die Nacht nicht schlafen können!« erwiderte Frau Jaschinski müde.
»Da weiß ich wirklich nichts von«, erzählte Frau Bajer und lachte vergnügt, »ich schlafe immer gut, und wenn Sie mich mit dem Bett heraustragen würden, ich wach nicht auf!«
Das Lachen tat Frau Jaschinski weh. Ach, wie lange hatte sie nicht mehr so fröhlich gelacht. Nur grübeln und grübeln, bis der Kopf schmerzte. Würde Frau Bajer verstehen, warum sie nicht schlafen konnte? Sie verschwieg ihre Sorge und erzählte Frau Bajer nichts davon. Von der hätt sie doch keine Mark bekommen, die sie nicht verdiente, denn Frau Bajer war sehr sparsam, fast geizig und handelte mit ihr um jeden Groschen, wenn sie mit der Arbeit fertig war. Sic quälte sich mit der Wäsche. Ihre Arme wollten diesmal nicht so recht mit, waren steif und ungeschickt, versagten übermüdet. Sie hatte während des Umherrennens am vorigen Tage das Essen vergessen, das spürte sie erst jetzt bei ihrer Arbeit.
Frau Bajer wurde unfreundlich und hielt sich mehr als sonst in der Waschküche auf. Sie machte Einwände wegen der Wäsche und prüfte Stück um Stück. Frau Jaschinski hörte nur halb auf die Nörgeleien hin; es war ihr alles so gleichgültig. Sie dachte nur an das, was man ihr für den nächsten Tag angedroht hatte, dass ihr die Küche fortgeholt werden sollte.
Im Geschäft ging die Schelle. Frau Bajer begab sich dorthin. Sie kam nach einer Weile in die neben der Waschküche liegende Stube und holte eine kleine, hölzerne Lade hervor, der sie Kleingeld entnahm. Die Lade blieb auf dem Tisch stehen.
Frau Jaschinski hörte das Klirren der Geldmünzen und erschrak. Sie sah nach der Geldlade hin. Musste immer wieder hinsehen. Irgendeine Gewalt zwang sie dazu.
Frau Bajer unterhielt sich im Geschäft mit einem Kunden. Frau Jaschinski wünschte, die Geldlade wäre von dem Tisch fort. Wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie hineinblicken. Es zog sie näher heran. Ihr Gesicht brannte, sie musste immer näher an das Geld, und ihre Hände griffen, ohne dass sie sie zurückzureißen vermochte, hinein. Die Hände hielten Münzen und einige geknäulte Geldscheine. Sie erschauerte vor Freude und wieder vor Angst. Werden es fünfzig sein? dachte sie und wagte nicht, auf das Geld zu sehen, das ihre Hände hielten.
Frau Bajer lachte drüben im Geschäft ihr sorgloses Lachen. Frau Jaschinski entsetzte sich und wäre fast zusammengesunken. Sie floh zu ihrem Fass zurück und steckte hastig das Geld in den Unterrock. Lauschte mit stockendem Herzen hinüber, verfärbte sich kreideweiß bei dem Gedanken, man hätte sie beobachtet. Frau Bajer kam aus dem Geschäft und betrat die Stube, in der die Geldlade stand. Frau Jaschinski war vor Schrecken halbtot und hätte bald losgeschrien. Frau Bajer kam. »Wie weit sind Sie?« fragte sie.
Frau Jaschinski brachte kein Wort hervor. Sie wagte nicht aufzuschauen.
»Sie scheinen doch krank zu sein!« sagte Frau Bajer. Sie blieb in der Waschküche, und Frau Jaschinski verlor vor Angst bald den Verstand.
»Kommen Sie Kaffee trinken!« rief Frau Bajer nach einer Weile.
»Ich kann nichts essen!« ächzte Frau Jaschinski und hütete sich, ihr Gesicht zu zeigen. Es schien ihr erfroren zu sein. Sie empfand die Kälte an ihrem Körper.
Erst gegen Mittag, Frau Jaschinski glaubte, es wäre nicht herausgekommen, kam Frau Bajer mit empörtem Gesicht in die Waschküche. »Frau Jaschinski, haben Sic was gesehen? Geld ist mir verschwunden!«
Frau Jaschinski traf es wie eine Axt. Sie fiel neben dem Waschfass hin und begann zu jammern.
»Was ist mit Ihnen?« fragte Frau Bajer bestürzt.
Frau Jaschinski sah sie verzweifelt an.
»Haben Sie's etwa?« fragte Frau Bajer eisig.
Frau Jaschinski zog das Geld mit bebenden Händen aus dem Unterrock.
»Schämen Sic sich!« sagte Frau Bajer im Tone tiefster Verachtung. »Pfui, das hätt ich von Ihnen nicht erwartet!« Sie nahm das Geld mit einem Ruck an sich und sagte noch immer mit einer Miene des Abscheus: »Sie sind sehr undankbar. Ich will Sie nur um Ihrer Kinder willen nicht zur Anzeige bringen, sonst würde man Sie auf der Stelle einsperren! Verlassen Sie aber sofort meine Wohnung!«
Frau Jaschinski hatte nun alle Hoffnung aufgegeben. Sie saß teilnahmslos in ihrer Wohnung, das Kleinste schrie an ihrer Brust.
Das zweite kratzte im Kohlenkasten den Schmutz, das Gesichtchen verweint, den Mund voll ekligem Dreck. Das dritte presste sich an sie, das vierte stand vor ihr. »Mama, Mama, wat haste?«
Die Nacht verging ohne Schlaf.
Der nächste Morgen kam. Frau Jaschinski war eine alte, vergrämte Frau geworden. Und als der Wagen kam, wischte sie mit müden Händen die Möbel, zärtlich, es sollte niemand sagen, dass sie ihre Sachen nachlässig behandelt hätte. Nach einer halben Stunde stand sie in dem leeren Raum. Sogar den Herd hatte man ihr fortgeholt. Nur ein Schränkchen, eine Bank und einen Stuhl hatte man ihr gelassen. Sie schleppte aus der Kammer einige alte Sachen in den Küchenraum, damit es nicht so entsetzlich kahl und leer aussah; blieb den ganzen Tag in der Wohnung, ließ sich draußen nicht sehen, sie schämte sich.
Der Sonntag kam. Sie hatte sich sonst, auch in harten Zeiten, fertig gemacht und war in die Kirche gegangen. Diesmal machte sie sich nicht fertig. In der Kammer hing ein Kruzifix, sie nahm es herunter, sah lange darauf hin und sagte bitter: »Du bringst mir keine Hilfe.« Sie stellte das Kruzifix in den brüchigen Kleiderschrank. »Es hat doch keinen Sinn, dass du an der Wand hängst, du machst mich nur müde und unfähig. Ich bin ja selbst gekreuzigt!«
Ihre kleine Welt war tot.

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