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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XXXVI

Bisher standen achtundvierzig Zechen im Streik. So wuchtig der Angriff der Kumpels erfolgt war, so schnell mobilisierten die Zechenbesitzer und die Gewerkschaftsführer den Gegenstoß. Der Streik verlor seinen wirtschaftlichen Kampfcharakter, und vor den Zechen, wie überall in Orten und Städten, sah es nach einer Mobilmachung aus. Uniformen, Wagen mit Polizei und bewaffnete Abteilungen von Zivilisten, die vom Reichsbanner den Streikbrechern zum Schutz bereitgestellt waren. An den Zechentoren schwerbewaffnete Wächter und Maschinengewehre. Alle Belegschaftsversammlungen unter Kontrolle der Polizei. Verhaftungen von streikenden Kumpels, die Flugblätter verteilen wollten, und jeden Tag Sprengung von Demonstrationen. Tag und Nacht Krieg in den Straßen und Kolonien, mit Schusswaffen, Knüppeln, Steinen und Hackenstielen.
Der Schiedsspruch wurde am siebenten Januar gefällt. Lohnabbau von sechs Prozent.
Panik unter den Kumpels. Empörung. Die sozialdemokratischen und christlichen Betriebsräte bremsten, rieten abzuwarten. Die Verwaltungen drohten mit fristloser Entlassung aller Kumpels, die für einen Streik stimmten.
»Der wilde Streik, der von den Kommunisten organisiert war, ist abgebrochen!« schrieben die Zeitungen.
In der Stadt Essen wälzte sich eine große Menschenmenge durch die Straßen.
Polizei vorn, zu beiden Seiten und hinter dem Zuge. Die Spitze des Zuges stieß überall auf blaue Sperren. Wut bemächtigte sich der Kumpels, wenn man in eine Nebenstraße abgedrängt wurde.
»Durch, zum Deuwel!« brüllten die Kumpels.
An einer Stelle versuchte die Polizei, den Zug in eine andere Straße abzulenken. Die Kumpels drängten vor. Vorn entstand Lärm. Pfiffe. Von allen Seiten drangen die Polizisten im Laufschritt in den Zug und sprengten ihn an einigen Stellen.
Ein erbitterter Kampf tobte um die Fahnen, die den Trägern entrissen wurden. Immer wieder stürmten Kumpels drauf zu und holten die Fahnen aus den Händen der Polizei. Es' war ein Sturm auf die Fahnen, und wo eine hochstieg, entspann sich Handgemenge.
Die Bürger flohen erschreckt in die Eingänge der Kaufhäuser und sahen mit zitternden Gliedern der entfesselten Wut zu, die sich auf der Straße austobte.
In einer Straße befand sich unter einer Menge Neugieriger auch Frau Jaschinski. Sie trug das Kleinste in ein Tuch gewickelt auf dem Arm, das, durch den Lärm, der auf der Straße tobte, wach geworden, zu schreien begann.
»Gehen Sie doch mit dem Kind fort!« sagte eine besser gekleidete Frau. »Wenn's hier losgeht, dann werden Sie mit dem Kind zerdrückt.«
Frau Jaschinski blieb trotz der Ermahnung stehen und presste nur das schreiende Kind fester an sich.
»Wann kommen die Menschen endlich zur Vernunft!« sagte jemand neben ihr. Frau Jaschinski sah sich den Mann an: gut beleibt, ein volles Gesicht mit Hängebacken und Doppelkinn.
Sie erwiderte ihm: »Wenn die Leute es nicht nötig hätten, dann würden sie es nicht tun!«
Der Mann rückte von ihr ab.
Der Lärm auf der Straße verstärkte sich.
Frau Jaschinski presste sich weiter nach vorn, durch die zurückdrängenden Leute hindurch.
Ein heftiger Streit tobte um ein Transparent. Polizisten schlugen mit ihren Knüppeln auf die Köpfe der Männer, die das Transparent nicht hergeben wollten.
Frau Jaschinski drückte in ihrer Aufregung das Kind in ihren Armen und schrie auf: »Verdammte Kanaillen, warum schlagt ihr die Menschen so?«
Die Empörung riss sie vorwärts. Sie befand sich plötzlich mitten im Strudel. Ein dumpfer Hieb traf ihren Kopf. Sie griff nach einem Halt. Das Kind entfiel dabei ihren Händen und schlug auf das Straßenpflaster.
Um sie herum wirbelte es von geduckten Köpfen und erhobenen Händen. Tschakos und blanke Knöpfe sprangen vor ihren Augen. Man brüllte sie an. Sie besann sich noch im letzten Augenblick und warf sich über das schreiende Kind, das vor ihren Füßen lag und jeden Moment von den schweren Stiefeln der rasenden Menschen zertreten werden konnte.
Über Frau Jaschinski hinweg raste die Jagd. Männer, jammernde Frauen, Polizei, flüchtende Bürger, die mit in den Strudel hinein gewirbelt wurden.
Frau Jaschinski richtete sich auf, hob mit zitternden Händen das Kind von den Steinen, stand verwirrt da und sah auf die Schrammen in dem kleinen, faltigen Gesichtchen, denen Blut entquoll. Sic drückte es an sich und küsste es ab.
Die Straße war wie leergefegt. Ein Polizist kam auf sie zu und schrie sie an: »Los, verschwinden Sie jetzt!«
Frau Jaschinski warf ihm einen Blick voll Hass zu. »Jetzt erst recht nicht!« sagte sie.
Einige Straßen weiter hörte sie Gesang. Sie ging der Richtung nach, wo der Gesang herkam. Musste durch ein Sperrkommando. Die Polizisten wollten sie zurückhalten, wichen ihr jedoch scheu aus, als sie ihr verschmutztes, blutiges Gesicht bemerkten. Auch ihre Hände waren blutig, von Stiefeln zertreten.
Der Zug kam. Er brüllte wie ein Strom; so breit wie die Straße wälzte er sich vorwärts.
Eine Polizeikette stellte sich quer über die Straße auf. Sie wurde wie dürres Laub fortgespült.
Der Strom ergriff auch Frau Jaschinski und trug sie mit wie auf großen grauen Wogen. Vor ihren heißen Augen schwebten wie Flügel riesiger Vögel rote Fahnen. Um sie herum nur harte Gesichter. Blicke voll ungebrochenen Mutes und Trotz. Jeden Augenblick reckten sich zahllose Fäuste vor ihr. So weit sie sehen konnte, Faust an Faust.
Frau Jaschinskis Gesicht brannte. Sie fühlte sich von dem mächtigen, brüllenden Menschenstrom vorwärtsgetragen, nicht mehr allein. Sie sah empor: Sonne! oder war es das Rot der wallenden Tücher vor ihr? Grau war der Horizont, schneeschwer, aber in den Augen der sie umbrandenden Menschen, in ihrem Schreien, lag es, das Feuer des Hasses ihr Hass!

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