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Hans Marchwitza - Schlacht vor Kohle (1931)
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XI

Jaschinski ging es schlechter. Das Geld von dem Verkauf des Ferkels und der Ziege war verbraucht. Die Kaninchen bis auf wenige kleine Dinger aufgezehrt. Die Küche noch nicht abgezahlt. Die Abschläge immer geringer und im Lohnbuch fast jeden Zahltag ein »Bleibt schuldig«.
Jaschinski wusste nicht ein noch aus. Seine Frau hatte das vierte Kind bekommen. Mutlos ging er zur Zeche hin, zog sich um, fuhr ein und ließ stillschweigend alles Nörgeln und Antreiben des Schacke über sich ergehen. Nur jetzt nicht die Papiere kriegen, dachte er.
In einer Schicht fiel ein Stück Stein auf seine Hand. Er wollte nicht feiern, verband sich die Knochen, so gut er konnte, und ging weiterhin zur Arbeit. Die Hand schwoll an, behinderte ihn am Kohlenhauen. Er fluchte, verbiss den Schmerz und quälte sich so durch, bis er doch einsehen musste, dass es auf die Dauer nicht ging, denn die Hand war mittlerweile voll Eiter.
»Ich nehm mir 'nen Kurschein und geh damit zum Arzt«, sagte er eines Nachmittags zu seiner Frau. Der Schmerz zog sich schon bis zur Achselhöhle hinauf, und der dicke, rote Strich, der sich den ganzen Arm entlang wand, brachte ihn in Angst.
»Jetzt krankfeiern?« Frau Jaschinski erschrak und zählte ihm alles auf, was sie zu zahlen hatten.
»Ich kann keinen Schlag mehr tun!« klagte Jaschinski, wickelte die vereiterte Hand los und zeigte sie ihr.
»Sicher!« Frau Jaschinski sah es ein. »Es ist besser, du gehst damit zum Doktor!« Es war ihr schwer, sich damit abzufinden, aber die Hand brachte sie noch mehr in Schrecken als ihre Schulden.
Jaschinski holte sich einen Kurschein.
»Fangen Sie mir nur nicht an zu bummeln!« knurrte Schacke.
Jaschinski wickelte die Hand los und hielt sie Schacke hin. Der Steiger musste einsehen, dass es nicht anders ging...
Frau Jaschinski sah nach dem Wochenbett aus wie ein Gespenst, so blass und dürr. Sie hatte es sich immer vom Mund abgespart, war in ihrer ganzen Ehe darauf bedacht, sich einen Notpfennig zurückzulegen. Es ging jetzt alles drauf. Wunsch blieb Wunsch. Die Wirklichkeit war härter. Die Wirklichkeit drohte sie aufzufressen.
Vierzehn Tage feierte Jaschinski wegen der Hand. Er bekam zweimal keinen Abschlag, die letzten Pfennige gingen aus. Frau Jaschinski, an der das Kleine herumsog, behielt ihren Kummer für sich, sagte acht Tage lang nichts; die nächsten acht Tage auch noch nichts. Erst in der dritten
Woche, es ging auf den Letzten im Monat zu - drei Raten standen für die Küche aus -, da hielt sie nicht länger an sich, sie heulte laut los.
Jaschinski konnte das Heulen nicht ertragen, er ging in den Stall, hockte dort und döste stundenlang vor sich hin, bekam ganz dumme Gedanken: Häng dich auf - bist allem aus dem Wege. Er floh in den abgerupften Garten, schlich dort herum, stierte die Kohlstümpfe an, ging wieder zurück in den Stall, hockte sich hin und döste von neuem.
Dränger traf ihn einmal im Garten und rief über den Zaun: »Jaschinski, kommst mal mit?«
Jaschinski sah vergrämt auf. »Wohin?«
»Zur Versammlung!«
»Ach, weißt du«, sagte Jaschinski verzweifelt, »es hat für mich keinen Zweck. Ich bin am Feiern, die Alte hat vor Wochen was Kleines gekriegt, ich sitz bis über die Ohren im Dreck. Es hilft mir auch keine Versammlung!«
Dränger versuchte, es ihm auszureden. Jaschinski gab ihm in allem recht, blieb jedoch dabei, dass es für ihn keinen Sinn hätte.
Frau Falzman, die Kolonialwarenhändlerin, riet Frau Jaschinski, sich an das Wohlfahrtsamt zu wenden.
Frau Jaschinski sagte es ihrem Mann und riet ihm, nach dem Wohlfahrtsamt hinzugehen; denn das Krankengeld, das er bekam, ging für die dringendsten Schulden drauf.
Jaschinski ging zum Wohlfahrtsamt, musste sich einem eingehenden Verhör unterziehen. Schließlich sagte ihm einer der Beamten: »Mann, Sie kriegen ja einen Haufen Krankengeld! Nein, bei uns kommen nur Bedürftige in Frage!«
Jaschinski dachte voll Grimm und Ratlosigkeit: Was sind das doch für Idioten, als ob ich nicht bedürftig wäre, und versuchte, es dem Beamten klarzumachen. Der Beamte wurde ärgerlich. »Wir können Ihnen nichts geben, da müssten wir noch alle Beschäftigten mit unterstützen. Sehen Sie's doch ein, Mann!«
Frau Jaschinski rechnete mit bestimmt dreißig Mark. Sie verstieg sich in ihren Hoffnungen bis auf fünfzig Mark, lachte sich aber selbst aus und dachte: Wenn er auch nur zwanzig Mark bringt, ist's auch schon 'ne Hilfe.
Jaschinski kam zurück. Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Na?« Er sagte nichts und ging wieder in den Stall. Frau Jaschinski wurde ganz still. Sic war in die Kammer gegangen, hatte das Kind an die Brust genommen und sagte bitter: »Da, du Wurm, kommst auch zur unrechten Zeit an, trink von dem Gift, und schrei nicht!«
Jaschinski war am Nachmittag zum Arzt gegangen und meldete sich gesund.
Steiger Schacke steckte ihn in die Kohlenrutsche neun. Die Rutsche galt als die Hölle des fünften Reviers. Kusmiers, ein Hauer, der auch vom Krankfeiern kam und in die Rutsche neun versetzt worden war, sagte gleich während der ersten Schicht: »Man hat mir einmal von der Hölle erzählt, ich glaub, ich sitz drin!« Er schleuderte nach ein paar Stunden seine Kohlenschippe fort, fuhr heraus und nahm sich wieder einen Krankenschein. Böß machte kurzen Prozess und kündigte ihm.
An Kusmiers' Stelle kam Jaschinski. Es war ein schreckliches Loch, in das er hinein musste. Das Kohlenfeld war über zweihundert Meter lang, kaum achtzig Zentimeter hoch, backofenheiß und gefährlich, weil der Stein kreuz und quer zerrissen war. Die Kameradschaft, die alle vierzehn Tage wechselte, war in den letzten zwei Monaten von achtundzwanzig Mann auf einundzwanzig verringert worden. Vierzehn Mann waren an der Kohle, während die übrigen sieben Mann auf Mittagsschicht die frei gewordenen Felder mit Steinen zuwarfen und, sobald ein neues Kohlenfeld ausgeraubt war, die Rutschen umlegen mussten. Das Fördersoll war das gleiche geblieben wie bei den achtundzwanzig Mann.
Die Hauer und Gedingeschlepper, die in die Kohlenrutsche neun versetzt worden waren, kamen nur in zwei Fällen wieder heraus: entweder sie arbeiteten ohne Widerspruch unter den Bedingungen, die ihnen die Verwaltung vorsetzte, bis sie nicht mehr konnten und einen Krankenschein nahmen, oder sie standen bei den nächsten Gekündigten auf der Liste an der Markenbude.
Jaschinski traf es sehr schlecht an. Sein Kohlenstück war festgebrannt. Schon in der halben Schicht platzten die Blutblasen an seinen Händen. Er kam nach der Schicht kreuzlahm nach Hause. Seine Frau musste ihm den Rücken mit Öl einreiben und mit Lappen verbinden, weil er des Nachts nicht schlafen konnte. Die Schrammen verkrusteten ein wenig über Nacht.
In der nächsten Förderschicht riss sich Jaschinski die Schrammen noch tiefer auf. Das behinderte ihn bei der Arbeit. Zudem war das Kohlenstück noch härter geworden.
»Lass es doch langsamer gehen, Kumpel!« sagte Dränger, der ihn während der Schicht besuchte. »Geht nicht«, sagte Jaschinski ängstlich, »dann krieg ich die Papiere!«
Auch die Hand schwoll wieder an. Er quälte sich und zitterte vor Angst, wenn Schacke herankam, denn der war sehr ungehalten, weil Jaschinski mit seiner Kohle zurückblieb. Kurz vor Schluss der zweiten Schicht jagte ihn Schacke in Entsetzen. »Ich hab es mit Ihnen gut vorgehabt«, sagte er, »ich merk aber, dass Sie's nicht mehr schaffen!«
»Ich schaff es schon!« erwiderte Jaschinski erschrocken und wühlte drauflos, um Schacke zu überzeugen, dass er es noch zwinge.
»Sie dürfen mir nicht mit der Kohle zurückbleiben, sonst muss ich Sie aus der Rutsche tun!« warnte Schacke und kroch fort. Das bedeutete soviel wie Entlassung.
»Mensch«, sagte Jaschinski nach der Schicht zu Dränger, »hier krepier ich bestimmt!«

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