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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Erste Kriegsmonate beim Generalkommando des 27. Reservearmeekorps

Den Kriegsausbruch erlebte ich in Falkenstein. Ich war nicht kriegsbegeistert, sondern hatte - aus christlichen Motiven - gegen den Krieg einen starken inneren Widerwillen, der noch verstärkt wurde durch das, was ich gleich in den ersten Augusttagen sah.
Am 6. August befand sich die Stadt in heller Aufregung. Ein guter Patriot hatte gemeldet, dass ein Auto die Stadt passieren wolle, in dem bewaffnete Spione säßen, die im Begriffe seien, die Talsperre bei Falkenstein zu sprengen, damit die ungeheuren Wassermengen die ganze Umgebung überfluteten. Im Nu war alles auf den Beinen, und die Straßen wurden mit Ketten abgesperrt. Die Spießer rannten in glühender Ekstase und wütender Empörung wie besessen auf den Straßen hin und her, allen voran mit einer Jagdflinte der Eisenwarenhändler Kießling. Die anderen Patrioten hatten sich mit Stöcken oder sonstigen Prügelinstrumenten bewaffnet.
Das avisierte Auto traf wirklich ein, die schweren eisernen Ketten versperrten den Weg, und mit Indianergeheul stürzte sich die halb irrsinnig gewordene Bürgermeute auf das Auto. Tatsächlich befand sich in dem Wagen außer sechs Personen noch eine Anzahl Gewehre: also waren es Spione. Ohne auf die Erklärungen und Beteuerungen der Autoinsassen zu hören, warfen sich die hundertprozentigen Vaterlandsverteidiger auf die angeblichen Spione, zogen einen von ihnen durch die Windschutzscheibe, dass die Glassplitter ihm die Schädelhaut zerschnitten, und verprügelten ihn, weil er ein etwas ausländisches Aussehen hatte, in so unmenschlicher Weise, dass er blutüberströmt zusammenbrach.
Die Helden schleiften die »Gefangenen« nach dem Rathaus. Dort stellte sich heraus, dass der am übelsten zugerichtete Mann leitender Ingenieur des elektrischen Kraftwerks in Bergen bei Falkenstein war - ausgerechnet von diesem Kraftwerk bezog Falkenstein Kraft und Licht! Er hatte mit anderen Angestellten vom Generalkommando in Plauen Gewehre geholt, um das Elektrizitätswerk gegen feindliche Angriffe zu verteidigen; denn auch er litt an Spionenfurcht.
Da ich Ersatzreservist war, erkundigte ich mich im Bezirkskommando, wann ich zum Militär eingezogen werde. Man sagte mir: am neunten Mobilmachungstage. Auf meine Frage, ob ich mir dann den Truppenteil wählen könne, erhielt ich eine verneinende Antwort. Ich überlegte: wenn ich sowieso am neunten Mobilmachungstag zum Militär muss, mir aber den Truppenteil nicht wählen darf, melde ich mich lieber einige Tage vorher freiwillig, damit ich mir den Truppenteil aussuchen kann. Ich fuhr also gleich in die Garnison Großenhain in der Nähe meines Heimatortes und meldete mich bei dem dortigen 18. Königshusarenregiment als Kriegsfreiwilliger. Meine Einstellung erfolgte am 10. August.
In den ersten Oktobertagen, nach kurzer Ausbildung, rückte ich mit dem 27. Reservearmeekorps ins Feld. Dieses Korps war ganz neu zusammengestellt und stand unter der Führung des sächsischen Kriegsministers General von Carlowitz. Ich wurde mit elf anderen Husaren dem General als Kavalleriestabswache zu seiner persönlichen Begleitung zugeteilt.
Im Oktober 1914 hatten wir vor Ypern unser erstes Treffen mit den Engländern. Nun konnte ich die schwungvollen Reden in der Heimat mit der Praxis im Felde vergleichen.
Beim Vormarsch sahen wir auf der Straße des kleinen Ortes Ledeghem zwölf erschossene Einwohner, darunter zwei Mädchen im Alter von etwa zehn und zwölf Jahren. Diese Menschen waren nicht im Gefecht gefallen, sondern von deutschen Soldaten einfach niedergeknallt worden. Auf unsere Frage, warum sie erschossen wurden, antwortete ein Offizier, das seien Franktireurs; ein deutscher Leutnant, Führer einer Jägerpatrouille, sei von einem der erschossenen Mädchen nach der Zeit gefragt worden, und dabei habe ihn das Kind niedergeschossen.
Wir bezogen in Ledeghem Quartier und wurden mit den Einwohnern bekannt. Es stellte sich heraus, dass die Beschuldigungen gegen die Erschossenen heller Unsinn waren. Die deutschen Jäger hatten in der Stadt, aus der sie kamen, alle Wein- und Bierfässer geplündert und in ihrer Betrunkenheit die merkwürdigen Schornsteine mit ihren helmartigen Rauchmützen für Franktireure gehalten.
In dem Ort befand sich ein Haus, an dessen Tür mit Kreide geschrieben stand: »Hier sind die Kinder der Erschossenen.« Diese fünfzehn bis zwanzig verwaisten Kinder waren für mich ein erschütternder Anblick.
Solange der Vormarsch gegen Ypern andauerte, kam auch der kommandierende General samt seinem Stab des Öfteren ins Gewehr- und Granatfeuer. Als aber der Stellungskrieg anfing, bezog das Generalkommando sichere Quartiere hinter der Front, und nun begann ein Leben, das mich anwiderte. Weniger v. Carlowitz selbst, auch nicht sein
Nachfolger, der General v. Schubert, als vielmehr die zahlreichen Offiziere und anderen Schmarotzer im Generalstab soffen, hurten, prassten, dass der gemeine Soldat und auch die Einwohner der feindlichen Ortschaften ihre Achtung vor deutschen Offizieren verloren. Leute, die niemals den Feind gesehen hatten, brüsteten sich mit dem damals noch seltenen Eisernen Kreuz. Ein Feldgendarm, von dem wir sagten, dass drei Männer nicht seinen Bauch umspannen könnten, hatte das Eiserne Kreuz für seine Spitzeldienste erhalten, während er uns vorschwindelte, dass eine schwere Granate fünf Meter vor ihm eingeschlagen und krepiert sei, ohne ihn zu verletzen.
Ich sah, wie Verwundete, die schmutzig, hungrig und durstig von der Front kamen, nicht verpflegt, sondern von Offizieren beschimpft wurden, sie hätten nicht tapfer genug gekämpft. Tiefe Scham erfüllte mich, wenn ich in meiner neuen Husarenuniform mit den Kameraden hinter dem General auf der Landstraße galoppierte und endlose Reihen Verwundeter, die oft Gefahr liefen, unter die Hufe unserer Pferde zu geraten, uns mit erbitterten Mienen nachschauten.
Ich bekam damals viele Pakete aus der Heimat von meinen Angehörigen und Freunden und gab des Öfteren den an unserm Stabsquartier vorbeiziehenden Verwundeten Schokolade oder Erfrischungen. Dafür wurde ich mehr als einmal von den Offizieren des Stabes zurechtgewiesen. Es sollte verhindert werden, dass wir vom Stab überhaupt mit gemeinen Soldaten sprachen.
Einem Franzosen, der einen Bajonettstich in den Mund sowie mehrere Schussverletzungen davongetragen hatte und der nun bleich wie ein Toter an mir vorüberwankte, gab ich aus meiner Feldflasche zu trinken. Das trug mir wieder Anschnauzer von Offizieren und Rippenstöße von einem Feldgendarm ein.
Bei der Erstürmung von Zonnebeke hatten die Deutschen viele Gefangene gemacht. Sie wurden in größeren Trupps am Generalstab vorübergeführt, der mit seinen Pferden und Automobilen an der Straße hielt. Die Ulanen hatten die Aufgabe, die gefangenen Engländer in die Etappenstationen abzutransportieren. Sie machten sich ein besonderes Vergnügen daraus, ihnen mit den Lanzen in die Waden und in den Hintern zu stechen. Als ich einmal Zeuge war, wie einer der Ulanen einem sehr kleinen Engländer, der am Ende des Gefangenentrupps marschierte, von hinten mit voller Wucht den rechten Fuß ins Rückgrat stieß, so dass der Gefangene zusammenbrach, bemühte ich mich um den Gestürzten und sprach ein paar Worte in seiner Muttersprache zu ihm. Dies wurde sofort von den Ulanen dem im Auto mitfahrenden Divisionsgeneral gemeldet. Der kanzelte mich vor aller Mannschaft furchtbar ab, und ich galt von Stunde an als ein unsicherer Kantonist, der es mit dem Feinde hielt.
Im Sommer 1915, im Verlauf einer größeren Offensive, stießen die deutschen Truppen weit über die feindlichen Linien vor, in ein Gebiet, das früher Franzosen und Engländer gehalten hatten. Dabei marschierten wir über ein Leichenfeld. Dort lagen zu Hunderten gefallene Franzosen, Engländer, Zuaven und Deutsche. Die Toten waren sechs Monate unbeerdigt geblieben, sie hatten in den Drahtverhauen zwischen den beiden feindlichen Linien gelegen. Die Leichen waren schwarz und aufgeschwollen, aus den Augenhöhlen quoll eine dicke gelbe Masse. Sie stanken furchtbar. Man konnte kaum einige Minuten verweilen, ohne das Taschentuch vor Nase und Mund zu pressen. Trotzdem habe ich stundenlang - wie gebannt, voll Grauen und Wut - vor diesen verwesten Leichen gestanden und mich immer wieder gefragt: Was würden die Angehörigen tun, wenn sie ihre Männer, Brüder, Söhne in diesem Zustand sähen? Würden sie nicht alle Hebel in Bewegung setzen, um dem wahnsinnigen Morden ein Ende zu machen?
Ich war von dem Erlebten so erschüttert, so aufgewühlt, dass ich nachzudenken begann, welchen Zweck und Sinn dieses Gemetzel habe. Unter den Eindrücken der Kämpfe an der Somme und vor Ypern quälte mich immer stärker die Frage nach dem Warum. Ich fühlte, dass hier etwas nicht stimmte. Meine Erlebnisse an der Front ließen mich allmählich erkennen, dass der Kampf, den wir führten, kein Kampf für das Recht war. Ich sah, wie Menschen, die sich nie gekannt und sich nie vorher Leid zugefügt hatten, nun einander abschlachteten.
Mit meinen Kameraden konnte ich mich nicht aussprechen. Sie hatten für mein Bedrücktsein und meine Zweifel kein Verständnis. Ich hatte unter ihnen von Anfang an einen sehr schweren Stand, da ich mich weder an ihren Kartenspielen beteiligte noch an ihren zotigen Unterhaltungen. Mein zurückhaltendes Wesen und meine Beschäftigung mit dem Neuen Testament gaben ihnen reichlichen Anlass zu Spötteleien. Besonders zwei ältere Reservisten misshandelten mich oft; einmal schlug mir der eine die schwere Pferdekandare in die Zähne. In meiner Ratlosigkeit und Verzweiflung war ich nahe daran, mir eine Kugel durch den Kopf zu schießen. All die Jahre vorher hatte ich die mir zugeteilten Prügel und Misshandlungen hingenommen als etwas, gegen das ein religiöser Mensch nicht ankämpfen dürfe; es lag auch nicht in meinem Wesen, wiederzuprügeln. Bis plötzlich eine Wandlung in mir vorging. Eines Nachts wurde ich wieder von ein paar älteren Kavalleristen gepiesackt. Trotz meiner Müdigkeit ließ man mich nicht zur Ruhe kommen; da sprang ich in fürchterlicher Erregung auf, packte den einen an der Gurgel, würgte ihn und brüllte ihm ein Dutzend Mal ins Gesicht, dass ich ihn umbringe, wenn er mit den Quälereien nicht aufhöre. Die »Kameraden« waren von der mit mir vorgegangenen Veränderung so überrascht, dass sie mich von da ab weniger belästigten.
Meine durch die aufwühlenden und erschütternden Erlebnisse wachgewordenen Zweifel an der Wahrheit der christlichen Heilslehre und der göttlichen Weltordnung hatten zugleich auch bewirkt, dass ich dazu überging, mich gegen jede schlechte
Behandlung und gegen Angriffe kräftigst zu wehren, und wer mir eine Ohrfeige gab, bekam bestimmt zwei wieder.
Als Soldat versuchte ich stets, meine so genannte Pflicht zu tun, aber es kamen mir doch immer stärkere Zweifel, ob alles das, was von mir verlangt wurde, mit den Grundsätzen wahrer Menschlichkeit vereinbar sei.
Beim Anblick gefangener oder gefallener Engländer musste ich daran denken, dass mir in England viele Menschen Gutes getan hatten. Es fiel mir unendlich schwer, mich aus dem Labyrinth meiner Gedanken herauszufinden. Nachdem die Zweifel meine religiösen Vorstellungen erschüttert hatten, musste ich alle Fragen noch einmal durchdenken. Man hatte mich gelehrt, dass es Reiche und Arme geben müsse und dass den Armen für ihr elendes Leben in dieser Welt nach dem Tode das Himmelreich sicher sei. Ich aber sah im Felde, dass es nur Unterdrücker und Unterdrückte gab.
Das Leben beim Generalkommando ekelte mich von Tag zu Tag mehr an. Ich bat um meine Versetzung zu einem Infanterieregiment an die Front. Das Gesuch wurde abgelehnt mit der Begründung, es sei nicht angängig, von der Kavallerie zur Infanterie überzuwechseln. Ich wiederholte mehrmals mein Versetzungsgesuch; endlich wurde ich als Meldereiter zur 106. Reserve-Infanterie-Brigade kommandiert.

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