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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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»Spitzbuben« / Das Kübelsystem / Aufgaben für die »Liga für Menschenrechte«

Eines Nachmittags hörte ich in meiner Zelle lautes, durchdringendes Rufen, das aus einer anderen, höher gelegenen Zelle zu kommen schien und das wie »Spitzbuben«, »Spitzbuben« klang. Ich sprang auf den Tisch und, auf die Zehenspitzen gestellt, versuchte ich einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Dabei sah ich folgendes: Aus seiner Zelle rief tatsächlich ein Gefangener, so laut er konnte, in einem fort das Wort: »Spitzbuben«, »Spitzbuben«. Ich konnte es mir nicht erklären, warum er diesen Ruf ausstieß. Da sah ich, dass außerhalb der großen Zuchthausmauer zwei Sipobeamte mit ihren Seitengewehren das reife Obst von den Bäumen herunterschlugen. Die Situation war komisch genug. Ein Gefangener, der wegen Diebstahls verurteilt war, schimpft die Hüter der Ordnung, die das Privateigentum schützen sollen, »Spitzbuben«. Durch das laute Rufen waren bald viele andere Gefangene an den Fenstern, und aus Hunderten von
Kehlen scholl jetzt minutenlang das Won: »Spitzbuben«, »Spitzbuben«. Die Sipobeamten waren starr und liefen mit rotem Kopf davon.
Die Verpflegung in Groß-Strehlitz war nicht nur viel zu knapp, sondern auch so schlecht, dass viele Gefangene oft aus Protest dagegen die Arbeit verweigerten. Einmal fand ich in dem Essen eine halbe Schuhbürste, ein anderes Mal ein Stück einer Socke. Die Kost war geschmacklos. Die Erbsen wie die Bohnen, die Bohnen wie die Linsen, die Linsen wie die Nudeln - alles schmeckte gleich. Der Speisezettel war auf viele Jahre im voraus festgesetzt. Es gab einen Tag Bohnen, einen anderen Linsen, dann Erbsen, dann Graupen und dann an einem anderen Tage ein Gemisch von Erbsen, Bohnen und Graupen, dann am sechsten Tage ein Dörr- oder Büchsengemüse und am siebenten Tage Nudeln oder so genannte Salzkartoffeln, die furchtbar stanken und nicht zu genießen waren, dazu an Feiertagen ein winziges Stückchen Fleisch. Da das Essen für sechs- bis siebenhundert Gefangene in einem einzigen Kessel nicht mit Wasser, sondern mit Dampf gekocht wurde, haftete an allem der widerliche, ewig gleiche Kesselgeruch. Selbst wenn man sehr starken Hunger hatte, konnte man oft nichts essen. Schon bei dem Geruch wendete sich der Magen um, und man musste sich erbrechen. Daher habe ich oft tage- und wochenlang nur von trockenem Brot gelebt. Selbst in der Gemüsezeit, in der nach den Verpflegungsvorschriften den Gefangenen möglichst viel Frischgemüse gegeben werden soll, gab es in
Groß-Strehlitz meist nur Dörrgemüse aus den Jahren 1914/1918 und Konservenbohnen, die entsetzlich versalzen und nicht zu genießen waren. Drau­ßen auf den Feldern und im Garten der Anstalt verfaulte indessen das Gemüse.
Ich sandte an den Rechtsausschuss des Preußischen Landtags eine detaillierte und genau begründete Beschwerde über die in der Anstalt herrschenden unhaltbaren Verpflegungszustände. Ich schilderte und gab Zeugen dafür an, dass die in dem Anstaltsgarten angebauten Gemüsearten, wie Kohlrabi, gelbe Rüben und anderes, so lange stehen blieben, bis alles verfaulte. Wenn aber ein Gefangener während der Hofstunde, um seinen Hunger zu stillen, verstohlen einen Kohlrabi oder eine Rübe an sich nahm, dann wurde er mit vierzehn Tagen Arrest bestraft. Wenn ich mich über das Essen bei dem Wirtschaftsinspektor, der die Verpflegung unter sich hatte, beschwerte, dann bekam ich immer nur höhnische Antworten. Als es endlich einmal Frischgemüse gab, war das davon gemachte Essen so dünn und so wenig, dass die Gefangenen schon nach einer halben Stunde wieder Hunger hatten. Ich sagte dem Wirtschaftsinspektor, das Essen sei sehr dünn, davon könne kein Mensch satt werden. Darauf erhielt ich zur Antwort, dann wolle er gleich veranlassen, dass noch ein bisschen Wasser darunter geschüttet werde. Der Direktor hielt mir immer entgegen, ich sei der einzige, der sich über das Essen beschwerte. Alle übrigen Gefangenen lobten es immer sehr. In Wahrheit aber beschwerten sich täglich Dutzende von Gefangenen über das unmögliche Essen, und ich hielt dem Direktor vor, dass ja sogar der Medizinalrat - der bestimmt kein Freund der Gefangenen war - sich bei dem Wirtschaftsinspektor beschwert habe, nachdem er in den Monaten August/September eine auffallend starke Gewichtsabnahme bei allen Gefangenen feststellte.
In Groß-Strehlitz herrschte dasselbe Kübelsystem wie in Münster und Breslau, nur mit dem Unterschied, dass es in Groß-Strehlitz in einer besonders skandalösen und die ganze Anstalt verpestenden Weise durchgeführt wurde. Vor dem Eingang zu jedem der drei Zellenflügel stand vor der Tür auf einem Wagen eine Jauchentonne. In diese Tonne wurden täglich dreimal vierundachtzig Kübel entleert. Die zirka vierzig Kübel von jeder Station - es gab insgesamt zwölf Stationen - wurden in einen am Ende des langen Korridors stehenden großen offenen Kübel geschüttet. Die offen stehenden Kübel verbreiteten natürlich - ganz besonders in den heißen Sommermonaten - einen unausstehlichen Gestank. Sie standen dreimal täglich, jedes Mal über eine Stunde lang, auf dem Korridor, bis alle Kübel entleert waren. Dann trugen zwei Kalfaktoren die offenen, stinkenden Kübel die Treppe hinunter, wobei es ohne Verschütten nicht abging, und gossen den Inhalt in die vor den Türen stehenden Tonnen. Diese Tonnen wurden dann aber nicht etwa weggefahren, sondern sie blieben tage- und wochenlang stehen, und da die Tonnen nicht verschlossen waren, lief der Inhalt langsam wieder heraus, und um jede Tonne herum bildeten sich oft kleine Seen von Jauche und Kot. Waren die Tonnen voll, so dass nichts mehr hineinging, und konnten sie aus irgendeinem Grund nicht sofort abtransportiert werden, dann gossen die Kalfaktoren den Inhalt der Kübel einfach in die Mitte des Hofes auf ein umgegrabenes Stückchen Land. Während der Freistunde mussten die Gefangenen den Pestgeruch einatmen, den der mit den Exkrementen dicht überschüttete Erdboden ausdünstete; auch die Beamten litten sehr unter diesen Verhältnissen. Besonders ekelhaft ging es sonntags früh zu, weil alles sehr fix gehen musste, damit die Gefangenen rechtzeitig zur Kirche kamen; die Entleerung der Kübel und die Verteilung des Kaffees wurden fast zur gleichen Zeit vorgenommen. Ähnlich war es an den Werktagen während der Mittagszeit. Bis 1 1/2 Uhr wurde Essen ausgeteilt, und während die Gefangenen noch bei der Essschüssel saßen, mussten sie mit denselben Händen schon den Kübel zur Entleerung vor die Türe stellen. Diese Einteilung entsprach nicht den Vorschriften, aber sie geschah, weil das den Beamten bequemer war. Der Direktor kümmerte sich nicht darum.
Einen besonderen Hass hatte der Direktor in Groß-Strehlitz auf die »Liga für Menschenrechte«. Sobald er nur den Namen hörte, wurde er fuchsteufelswild. Die an mich gesandte Zeitschrift der »Liga« bekam ich über ein Jahr lang nicht ausgehändigt, und erst nach monatelangen Kämpfen setzte ich durch, dass ich an die »Liga« schreiben durfte. Die meisten Gefangenen durften überhaupt nicht an die »Liga« schreiben. Die Gefangenen waren überzeugt, dass der Direktor befürchtete, die »Liga« könnte zuviel Material über die Zustände im Groß-Strehlitzer Zuchthaus erhalten. Gefangenen, die den Antrag stellten, einen Brief an die »Liga« zu schreiben, hielt der Direktor einen längeren Vortrag über die Zwecklosigkeit der »Liga«. Die Gefangenen wussten wenig von der »Liga für Menschenrechte«, aber die fühlten instinktiv aus den knappen Pressenotizen heraus, dass die »Liga« einen zähen Kampf gegen Fehlurteile und Justizmorde führte und dass sie die Öffentlichkeit gegen den menschenunwürdigen Strafvollzug aufrief.
Die »Liga« müsste in bestimmten Zeitabständen junge Anwälte, die noch keine allzu große Praxis besitzen und deshalb über etwas mehr Zeit verfügen, in die Strafanstalten schicken, um mit Strafgefangenen, die bei ihrer Verurteilung einen Offizialverteidiger hatten oder deren Fall sonst nicht ganz klar liegt, persönlich Fühlung und Rücksprache zu nehmen. Nur dadurch könnten manche Justizirrtümer und Fehlurteile, deren es mehr gibt, als die Öffentlichkeit es sich träumen lässt, korrigiert werden. Von den vielen, ganz offensichtlichen Fehlurteilen, die mir während meiner fast achtjährigen Haft bekannt wurden, will ich hier nur einen Fall schildern.
In Groß-Strehlitz ging eine Zeitlang in der Freistunde mit mir der kriminelle Gefangene August Warnat; er war wegen versuchter Transportgefährdung zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden.
Ich lernte ihn kennen, als er bereits sieben Jahre verbüßt hatte. Warnat war ungelernter Arbeiter und stammte aus einem ostpreußischen Dorf. Seine Eltern hatte er nie kennen gelernt. Durch sein tägliches Beisammensein mit mir fasste Warnat Vertrauen und schilderte mir sein ganzes Leben. Der Mann log bestimmt nicht - ich habe auf jede mögliche Art seine Wahrheitsliebe geprüft -, er war von einer herzerfrischenden Offenheit.
Durch längere Arbeitslosigkeit in Not geraten, hatte er den Plan gefasst, in einem Dorf bei einem Bauern Hühner zu stehlen. Am Tage besah er sich den Hof, um während der Nachtstunden den Diebstahl auszuführen. Während er das Gehöft umstrich, wurde er von einer Gendarmeriepatrouille angehalten und gefragt, was er hier zu suchen habe, woher er komme und wohin er wolle. Er wollte natürlich nicht zugeben, dass er die Absicht hatte, in dieser Nacht einen Hühnerdiebstahl auszuführen, und erfand eine ungeschickte Ausrede, durch die die Gendarmerie erst recht Verdacht schöpfte. Kurz vorher war in der Nähe ein geplantes Eisenbahnattentat rechtzeitig bemerkt worden. Die Gendarmen suchten den Täter und glaubten, ihn in Warnat gefunden zu haben.
Er wurde verhaftet und ohne jegliche Voruntersuchung wegen versuchter Transportgefährdung angeklagt. Er nahm die Sache nicht tragisch, weil er überzeugt war, in der Gerichtsverhandlung werde sich seine Unschuld herausstellen.
Seinen Offizialverteidiger sah er zum ersten Mal in der Gerichtsverhandlung. Warnat war schüchtern, errötete sehr leicht und stotterte etwas. Sein Benehmen legten die Richter als Schuldbewusstsein aus, und ehe der arme Teufel überhaupt recht zur Besinnung kam, war er zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt.
Kein Hahn krähte nach ihm. Für den Offizialverteidiger war die Angelegenheit erledigt. Die Richter hatten ihre Pflicht erfüllt, ein Urteil gesprochen, wen scherte es, ob es ein Fehlurteil war. Angehörige hatte er keine.
Warnat ging ins Zuchthaus, arbeitete dort fleißig und führte sich gut. Dabei litt er furchtbar unter der Einsperrung. Jahrelange Einzelhaft hatte seine Gesundheit ruiniert. Ein Gnadengesuch machte er nicht, er war ja unschuldig.
Überglücklich war er, als die Frau meines Verteidigers Dr. Apfel ihm einen Stieglitz und ein Kanarienweibchen sandte, die er mit Liebe und Sorgfalt pflegte. Als sie Junge bekamen, war sein Glück vollkommen, er hatte eine kleine Familie, konnte seine aufgespeicherte Zärtlichkeit an die Tierchen verschwenden und lebte wieder auf.
Warnat wurde am 6. Mai 1928 aus dem Zuchthaus Groß-Strehlitz nach acht Jahren unschuldig verbüßter Zuchthaushaft entlassen.
In Groß-Strehlitz befand sich auch Erich Strauß, der Bruder des bekannten Ein- und Ausbrecherkönigs Emil Strauß. Ich hatte ein paar Mal Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, und lernte in ihm einen aufrechten, charaktervollen Menschen kennen, den auch die Gefangenen und Beamten achteten. Er hatte viele Konflikte mit der Verwaltung, vor allern mit dem Direktor Adamietz. Durch die vielen Arreststrafen, die der Direktor über ihn verhängt hatte, war seine Gesundheit schwer erschüttert.

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