»Spitzbuben«  / Das Kübelsystem / Aufgaben für die »Liga für Menschenrechte«
  Eines Nachmittags hörte ich in meiner Zelle lautes, durchdringendes  Rufen, das aus einer anderen, höher gelegenen Zelle zu kommen schien  und das wie »Spitzbuben«, »Spitzbuben« klang. Ich sprang auf den Tisch  und, auf die Zehenspitzen gestellt, versuchte ich einen Blick aus dem  Fenster zu werfen. Dabei sah ich folgendes: Aus seiner Zelle rief  tatsächlich ein Gefangener, so laut er konnte, in einem fort das Wort:  »Spitzbuben«, »Spitzbuben«. Ich konnte es mir nicht erklären, warum er  diesen Ruf ausstieß. Da sah ich, dass außerhalb der großen  Zuchthausmauer zwei Sipobeamte mit ihren Seitengewehren das reife Obst  von den Bäumen herunterschlugen. Die Situation war komisch genug. Ein  Gefangener, der wegen Diebstahls verurteilt war, schimpft die Hüter der  Ordnung, die das Privateigentum schützen sollen, »Spitzbuben«. Durch  das laute Rufen waren bald viele andere Gefangene an den Fenstern, und  aus Hunderten von 
    Kehlen scholl jetzt minutenlang das Won:  »Spitzbuben«, »Spitzbuben«. Die Sipobeamten waren starr und liefen mit  rotem Kopf davon. 
    Die Verpflegung in Groß-Strehlitz war nicht nur viel zu knapp, sondern  auch so schlecht, dass viele Gefangene oft aus Protest dagegen die  Arbeit verweigerten. Einmal fand ich in dem Essen eine halbe  Schuhbürste, ein anderes Mal ein Stück einer Socke. Die Kost war  geschmacklos. Die Erbsen wie die Bohnen, die Bohnen wie die Linsen, die  Linsen wie die Nudeln - alles schmeckte gleich. Der Speisezettel war  auf viele Jahre im voraus festgesetzt. Es gab einen Tag Bohnen, einen  anderen Linsen, dann Erbsen, dann Graupen und dann an einem anderen  Tage ein Gemisch von Erbsen, Bohnen und Graupen, dann am sechsten Tage  ein Dörr- oder Büchsengemüse und am siebenten Tage Nudeln oder so  genannte Salzkartoffeln, die furchtbar stanken und nicht zu genießen  waren, dazu an Feiertagen ein winziges Stückchen Fleisch. Da das Essen  für sechs- bis siebenhundert Gefangene in einem einzigen Kessel nicht  mit Wasser, sondern mit Dampf gekocht wurde, haftete an allem der  widerliche, ewig gleiche Kesselgeruch. Selbst wenn man sehr starken  Hunger hatte, konnte man oft nichts essen. Schon bei dem Geruch wendete  sich der Magen um, und man musste sich erbrechen. Daher habe ich oft  tage- und wochenlang nur von trockenem Brot gelebt. Selbst in der  Gemüsezeit, in der nach den Verpflegungsvorschriften den Gefangenen  möglichst viel Frischgemüse gegeben werden soll, gab es in 
    Groß-Strehlitz meist nur Dörrgemüse aus den Jahren 1914/1918 und  Konservenbohnen, die entsetzlich versalzen und nicht zu genießen waren.  Draußen auf den Feldern und im Garten der Anstalt verfaulte indessen  das Gemüse. 
    Ich sandte an den Rechtsausschuss des Preußischen Landtags eine  detaillierte und genau begründete Beschwerde über die in der Anstalt  herrschenden unhaltbaren Verpflegungszustände. Ich schilderte und gab  Zeugen dafür an, dass die in dem Anstaltsgarten angebauten Gemüsearten,  wie Kohlrabi, gelbe Rüben und anderes, so lange stehen blieben, bis  alles verfaulte. Wenn aber ein Gefangener während der Hofstunde, um  seinen Hunger zu stillen, verstohlen einen Kohlrabi oder eine Rübe an  sich nahm, dann wurde er mit vierzehn Tagen Arrest bestraft. Wenn ich  mich über das Essen bei dem Wirtschaftsinspektor, der die Verpflegung  unter sich hatte, beschwerte, dann bekam ich immer nur höhnische  Antworten. Als es endlich einmal Frischgemüse gab, war das davon  gemachte Essen so dünn und so wenig, dass die Gefangenen schon nach  einer halben Stunde wieder Hunger hatten. Ich sagte dem  Wirtschaftsinspektor, das Essen sei sehr dünn, davon könne kein Mensch  satt werden. Darauf erhielt ich zur Antwort, dann wolle er gleich  veranlassen, dass noch ein bisschen Wasser darunter geschüttet werde.  Der Direktor hielt mir immer entgegen, ich sei der einzige, der sich  über das Essen beschwerte. Alle übrigen Gefangenen lobten es immer  sehr. In Wahrheit aber beschwerten sich täglich Dutzende von Gefangenen  über das unmögliche Essen, und ich hielt dem Direktor vor, dass ja  sogar der Medizinalrat - der bestimmt kein Freund der Gefangenen war -  sich bei dem Wirtschaftsinspektor beschwert habe, nachdem er in den  Monaten August/September eine auffallend starke Gewichtsabnahme bei  allen Gefangenen feststellte. 
    In Groß-Strehlitz herrschte dasselbe Kübelsystem wie in Münster und  Breslau, nur mit dem Unterschied, dass es in Groß-Strehlitz in einer  besonders skandalösen und die ganze Anstalt verpestenden Weise  durchgeführt wurde. Vor dem Eingang zu jedem der drei Zellenflügel  stand vor der Tür auf einem Wagen eine Jauchentonne. In diese Tonne  wurden täglich dreimal vierundachtzig Kübel entleert. Die zirka vierzig  Kübel von jeder Station - es gab insgesamt zwölf Stationen - wurden in  einen am Ende des langen Korridors stehenden großen offenen Kübel  geschüttet. Die offen stehenden Kübel verbreiteten natürlich - ganz  besonders in den heißen Sommermonaten - einen unausstehlichen Gestank.  Sie standen dreimal täglich, jedes Mal über eine Stunde lang, auf dem  Korridor, bis alle Kübel entleert waren. Dann trugen zwei Kalfaktoren  die offenen, stinkenden Kübel die Treppe hinunter, wobei es ohne  Verschütten nicht abging, und gossen den Inhalt in die vor den Türen  stehenden Tonnen. Diese Tonnen wurden dann aber nicht etwa weggefahren,  sondern sie blieben tage- und wochenlang stehen, und da die Tonnen  nicht verschlossen waren, lief der Inhalt langsam wieder heraus, und um  jede Tonne herum bildeten sich oft kleine Seen von Jauche und Kot.  Waren die Tonnen voll, so dass nichts mehr hineinging, und konnten sie  aus irgendeinem Grund nicht sofort abtransportiert werden, dann gossen  die Kalfaktoren den Inhalt der Kübel einfach in die Mitte des Hofes auf  ein umgegrabenes Stückchen Land. Während der Freistunde mussten die  Gefangenen den Pestgeruch einatmen, den der mit den Exkrementen dicht  überschüttete Erdboden ausdünstete; auch die Beamten litten sehr unter  diesen Verhältnissen. Besonders ekelhaft ging es sonntags früh zu, weil  alles sehr fix gehen musste, damit die Gefangenen rechtzeitig zur  Kirche kamen; die Entleerung der Kübel und die Verteilung des Kaffees  wurden fast zur gleichen Zeit vorgenommen. Ähnlich war es an den  Werktagen während der Mittagszeit. Bis 1 1/2 Uhr wurde Essen  ausgeteilt, und während die Gefangenen noch bei der Essschüssel saßen,  mussten sie mit denselben Händen schon den Kübel zur Entleerung vor die  Türe stellen. Diese Einteilung entsprach nicht den Vorschriften, aber  sie geschah, weil das den Beamten bequemer war. Der Direktor kümmerte  sich nicht darum. 
    Einen besonderen Hass hatte der Direktor in Groß-Strehlitz auf die  »Liga für Menschenrechte«. Sobald er nur den Namen hörte, wurde er  fuchsteufelswild. Die an mich gesandte Zeitschrift der »Liga« bekam ich  über ein Jahr lang nicht ausgehändigt, und erst nach monatelangen  Kämpfen setzte ich durch, dass ich an die »Liga« schreiben durfte. Die  meisten Gefangenen durften überhaupt nicht an die »Liga« schreiben. Die  Gefangenen waren überzeugt, dass der Direktor befürchtete, die »Liga«  könnte zuviel Material über die Zustände im Groß-Strehlitzer Zuchthaus  erhalten. Gefangenen, die den Antrag stellten, einen Brief an die  »Liga« zu schreiben, hielt der Direktor einen längeren Vortrag über die  Zwecklosigkeit der »Liga«. Die Gefangenen wussten wenig von der »Liga  für Menschenrechte«, aber die fühlten instinktiv aus den knappen  Pressenotizen heraus, dass die »Liga« einen zähen Kampf gegen  Fehlurteile und Justizmorde führte und dass sie die Öffentlichkeit  gegen den menschenunwürdigen Strafvollzug aufrief. 
    Die »Liga« müsste in bestimmten Zeitabständen junge Anwälte, die noch  keine allzu große Praxis besitzen und deshalb über etwas mehr Zeit  verfügen, in die Strafanstalten schicken, um mit Strafgefangenen, die  bei ihrer Verurteilung einen Offizialverteidiger hatten oder deren Fall  sonst nicht ganz klar liegt, persönlich Fühlung und Rücksprache zu  nehmen. Nur dadurch könnten manche Justizirrtümer und Fehlurteile,  deren es mehr gibt, als die Öffentlichkeit es sich träumen lässt,  korrigiert werden. Von den vielen, ganz offensichtlichen Fehlurteilen,  die mir während meiner fast achtjährigen Haft bekannt wurden, will ich  hier nur einen Fall schildern. 
    In Groß-Strehlitz ging eine Zeitlang in der Freistunde mit mir der  kriminelle Gefangene August Warnat; er war wegen versuchter  Transportgefährdung zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt worden. 
    Ich lernte ihn kennen, als er bereits sieben Jahre verbüßt hatte.  Warnat war ungelernter Arbeiter und stammte aus einem ostpreußischen  Dorf. Seine Eltern hatte er nie kennen gelernt. Durch sein tägliches  Beisammensein mit mir fasste Warnat Vertrauen und schilderte mir sein  ganzes Leben. Der Mann log bestimmt nicht - ich habe auf jede mögliche  Art seine Wahrheitsliebe geprüft -, er war von einer herzerfrischenden  Offenheit. 
    Durch längere Arbeitslosigkeit in Not geraten, hatte er den Plan  gefasst, in einem Dorf bei einem Bauern Hühner zu stehlen. Am Tage  besah er sich den Hof, um während der Nachtstunden den Diebstahl  auszuführen. Während er das Gehöft umstrich, wurde er von einer  Gendarmeriepatrouille angehalten und gefragt, was er hier zu suchen  habe, woher er komme und wohin er wolle. Er wollte natürlich nicht  zugeben, dass er die Absicht hatte, in dieser Nacht einen  Hühnerdiebstahl auszuführen, und erfand eine ungeschickte Ausrede,  durch die die Gendarmerie erst recht Verdacht schöpfte. Kurz vorher war  in der Nähe ein geplantes Eisenbahnattentat rechtzeitig bemerkt worden.  Die Gendarmen suchten den Täter und glaubten, ihn in Warnat gefunden zu  haben. 
    Er wurde verhaftet und ohne jegliche Voruntersuchung wegen versuchter  Transportgefährdung angeklagt. Er nahm die Sache nicht tragisch, weil  er überzeugt war, in der Gerichtsverhandlung werde sich seine Unschuld  herausstellen. 
    Seinen Offizialverteidiger sah er zum ersten Mal in der  Gerichtsverhandlung. Warnat war schüchtern, errötete sehr leicht und  stotterte etwas. Sein Benehmen legten die Richter als Schuldbewusstsein  aus, und ehe der arme Teufel überhaupt recht zur Besinnung kam, war er  zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. 
    Kein Hahn krähte nach ihm. Für den Offizialverteidiger war die  Angelegenheit erledigt. Die Richter hatten ihre Pflicht erfüllt, ein  Urteil gesprochen, wen scherte es, ob es ein Fehlurteil war. Angehörige  hatte er keine. 
    Warnat ging ins Zuchthaus, arbeitete dort fleißig und führte sich gut.  Dabei litt er furchtbar unter der Einsperrung. Jahrelange Einzelhaft  hatte seine Gesundheit ruiniert. Ein Gnadengesuch machte er nicht, er  war ja unschuldig. 
    Überglücklich war er, als die Frau meines Verteidigers Dr. Apfel ihm  einen Stieglitz und ein Kanarienweibchen sandte, die er mit Liebe und  Sorgfalt pflegte. Als sie Junge bekamen, war sein Glück vollkommen, er  hatte eine kleine Familie, konnte seine aufgespeicherte Zärtlichkeit an  die Tierchen verschwenden und lebte wieder auf. 
    Warnat  wurde am 6. Mai 1928 aus dem Zuchthaus Groß-Strehlitz nach acht Jahren  unschuldig verbüßter Zuchthaushaft entlassen. 
    In Groß-Strehlitz befand sich auch Erich Strauß, der Bruder des  bekannten Ein- und Ausbrecherkönigs Emil Strauß. Ich hatte ein paar Mal  Gelegenheit, mit ihm zu sprechen, und lernte in ihm einen aufrechten,  charaktervollen Menschen kennen, den auch die Gefangenen und Beamten  achteten. Er hatte viele Konflikte mit der Verwaltung, vor allern mit  dem Direktor Adamietz. Durch die vielen Arreststrafen, die der Direktor  über ihn verhängt hatte, war seine Gesundheit schwer erschüttert.  | 
  
    
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