Der  schönste Tag meines Lebens
  Wegen der Vorgänge im Frühjahr und Sommer 1919 saßen vierundzwanzig  Arbeiter aus Falkenstein seit neun Monaten in Untersuchungshaft im  Plauener Landgericht. Unter dem Schutze der Noskiden sollte ihnen  während der Kapp-Tage der Prozess gemacht werden. Die Falkensteiner  Arbeiter hofften, die Arbeiterschaft in Plauen werde die Genossen  befreien. Tag um Tag verging, aber die Ersehnten kamen nicht. 
    Da  entschloss ich mich, die Genossen durch einen Gewaltstreich aus dem  Kerker zu holen. Mitten in der Nacht rückte ich mit nur fünfzig Mann  und drei Maschinengewehren in das hundertdreißigtausend Einwohner  zählende Plauen ein. Ein größeres Aufgebot wäre zu auffällig gewesen.  Die Befreiung konnte nur gelingen, wenn sie so überraschend vor sich  ging, dass ich dem Militär, der Gendarmerie und der Polizei gar keine  Zeit zum Eingreifen ließ. 
    Da die Tore des Gefängnisses von den Beamten nicht geöffnet wurden,  mussten wir alle Türen zertrümmern und mit Gewalt eindringen. In den  Innenräumen des Gefängnisses versperrte uns eine sehr hohe und breite  Eisentür den Zugang zu den Zellen. Dieser Tür konnten wir mit Äxten  nicht beikommen, höchste Eile war aber geboten, damit Reichswehr und  Gendarmerie nicht alarmiert werden konnten. Wir stellten uns in  Doppelreihen hintereinander auf, so dass Körper an Körper lehnte, und  im Takt auf Kommando wurde hin und her gewippt, bis nach einigen  Sekunden unter fürchterlichem Krachen das riesige Tor zusammenstürzte.  Zum Glück wurde dabei niemand verletzt. 
    Die Gefangenen in den Zellen, die merkten, dass die Freiheitsstunde  nahte, begannen einen ohrenbetäubenden Lärm, riefen, klopften, sangen,  pfiffen, jubilierten, so dass man sein eigenes Wort nicht verstehen  konnte. Jetzt kamen auch, zitternd am ganzen Körper und weiß wie Kalk,  die Nachtaufseher herbei, die sich bisher ganz still verhalten hatten,  weil sie es für unmöglich hielten, dass wir diese riesige Tür  zertrümmern könnten. Sie glaubten, ihr letztes Stündlein sei gekommen,  denn viele von ihnen hatten unsere Genossen sehr schlecht behandelt. 
    Ich verlangte die Liste der politischen Gefangenen und befahl:  »Schließen Sie die Zellen dieser vierundzwanzig Mann sofort auf, wir  nehmen unsere Genossen mit nach Falkenstein.« Ohne Widerspruch wurde  der Befehl ausgeführt. Es war der schönste Tag meines Lebens, als wir  die Genossen, die seit neun Monaten in qualvoller Untersuchungshaft  schmachteten, der Freiheit und ihren Angehörigen wiedergeben konnten. 
    Aber zu langer Wiedersehensfreude blieb keine Zeit. Die  Maschinengewehre wurden auf die Autos geladen und alles zum Abmarsch  bereit gemacht. 
    Und fast hätte ich eine wichtige Angelegenheit zu erledigen vergessen.  Mir war bekannt, dass viele meiner Genossen nur durch Denunziationen  verhaftet worden waren. Es lag mir sehr daran, aus den Akten  herauszufinden, wer die Verräter waren. Ich verlangte von den Beamten  die Untersuchungsakten der vierundzwanzig Genossen, die Beamten  erklärten aber, die politischen Akten habe der Erste Staatsanwalt in  persönlicher Verwahrung. Der Mann, dessen Wohnung am Gefängnis lag,  hatte sicherlich schon den nächtlichen Krach gehört, sich aber nicht  gerührt. Mit einigen Genossen ging ich an seine Haustür und pochte  laut. Nach einer Weile wurde oben zaghaft ein Fenster geöffnet, ein  Kopf mit einer Schlafmütze schaute heraus, und eine ängstliche Stimme  fragte: »Was wünschen Sie?« Ich antwortete: »Sind Sie der Erste  Staatsanwalt?« - »Der bin ich.« - »Na, dann kommen Sie schnell  herunter!« Er sagte, dass das nicht so schnell ginge, er müsse sich  erst anziehen. Ich erwiderte: »Wenn Sie in zwei Minuten nicht unten  sind, sprenge ich die Tür mit einer Handgranate.« Und damit er merkte,  dass ich nicht nur drohte, band ich zwei Stielhandgranaten an die  Türklinke. 
    Nach nicht ganz zwei Minuten kam der Erste Staatsanwalt schlotternd  herunter und erklärte sich sofort bereit, die Akten herauszugeben. 
    Ich ging mit ihm in das Gerichtsgebäude, wo die Akten lagen. Er gab mir  einige Pakete, aber ich merkte bald, dass das längst nicht alle waren  und die wichtigsten Akten fehlten. Ich sagte: »Wir haben keine Zeit,  hier länger zu verweilen, aber ich muss die Akten haben. Sie bürgen mir  mit Ihrem Leben dafür, dass ich sie noch heute bekomme; ich nehme Sie  als Geisel mit nach Falkenstein, und wenn die Akten nicht innerhalb  weniger Stunden dorthin gebracht werden, lasse ich Sie erschießen!« 
    Es blieb ihm nichts übrig, als sich zu fügen. Ich nahm ihn ins Auto,  damit ihm nichts passiere. Zu dieser Maßnahme hatte ich allen Grund: in  dem 
    Augenblick, als ich mit den befreiten Genossen die Zellen verließ, war  ich Zeuge eines Streites zwischen vier befreiten Genossen. Jeder  beanspruchte für sich das Recht, Vergeltung an dem Aufseher zu üben,  der sie besonders gequält hatte. Ich wusste, dass unsere Freunde  furchtbar gelitten hatten, und begriff ihre grenzenlose Erbitterung.  Aber wir hatten keine Zeit, um mit diesen Folterknechten abzurechnen. 
    In der Stadt begann es lebendig zu werden, die Schreckenskunde hatte  sich verbreitet. Aber noch ehe die staatlichen und städtischen  Sicherheitsorgane auf dem Plan erschienen, lag Plauen längst hinter uns. 
    Unter  beispiellosem Jubel zogen wir in Falkenstein ein. 
    Dem Staatsanwalt verschaffte ich ein gutes Frühstück aus dem besten  Hotel; er konnte sich auch sonst über schlechte Behandlung nicht  beklagen. Ich empfahl ihm, sofort Briefe zu schreiben, die durch einen  Motorradfahrer zu seiner Frau gebracht würden. Darin stand: wenn bis  zwölf Uhr mittags die noch fehlenden Akten nicht abgeliefert seien,  werde er erschossen. 
    Noch vor  zwölf Uhr erschien seine Frau mit einem Beamten des Landgerichts und lieferte  alle noch fehlenden Akten an mich ab. 
    Als der Erste Staatsanwalt merkte, dass er so glimpflich davongekommen  war, obwohl er viele unschuldige Arbeiter auf dem Gewissen hatte, wurde  er frech und beanspruchte für sich, seine Frau und den Beamten ein Auto  zur Rückfahrt. Ich dämpfte seinen Übermut und sagte, dass wir ihm  gestatteten, in einem Landauer nach Plauen zurückzukehren, den ein  Fabrikbesitzer aus Falkenstein zur Verfügung stellen müsse. Für dieses  Entgegenkommen habe er tausend Mark an die Kasse der  Kriegshinterbliebenen zu zahlen. 
    Aus den Akten ersah ich dann, dass zwei Leute, die sich als Mitglieder  in die Partei eingeschlichen hatten, Polizeispitzel waren. Sie wurden  sofort festgesetzt. 
    Am Nachmittag des gleichen Tages ging ich mit einem Genossen in das  Falkensteiner Gerichtsgebäude und ließ sämtliche Beamten vom  Oberamtsrichter bis herunter zu den Gerichtsvollziehern und  Justizwachtmeistern zusammenrufen. Ich erklärte ihnen, jetzt habe die  Arbeiterschaft die Macht in den Händen. Sie brauche die bürgerlichen  Gesetze nicht, die nur gemacht seien, um die Arbeiter ihren  Unterdrückern botmäßig zu erhalten. Wir machten uns unsere Gesetze  selbst. 
    Ich hieß die Beamten alle Akten und Bücher aus dem Gericht heraustragen  und auf dem großen Platz zwischen dem Gerichtsgebäude und der Schule  aufstapeln. 
    Der Oberamtsrichter hielt meine Anordnung für einen schlechten Witz.  Als er merkte, dass es mir ernst war, verlegte er sich aufs Bitten und  sagte unter Tränen, sein ganzes Leben hänge doch an dieser Arbeit und  an diesen Papieren. Er sei aufgewachsen in diesen Anschauungen, und ich  solle doch versuchen, mich in seine Lage zu versetzen. Ich erwiderte,  ich könne auf seine Gefühle keine 
    Rücksicht nehmen, hier handle es sich um größere Dinge als persönliche  Empfindungen. Mein Vorgehen sei nur ein winziges Glied in der Kette des  großen Befreiungskampfes der Werktätigen. 
    Es blieb ihm nichts übrig, als die Akten mit hinauszuschaffen.  Stundenlang arbeiteten die Richter und die unteren Beamten an der  Errichtung eines riesigen Akten- und Bücherhaufens, während ich die  Aufsicht führte. Als das letzte Aktenbündel und das letzte Buch - mit  Ausnahme der Mündelakten - die staubigen Regale verlassen hatte, gab  ich den zwei Amtsrichtern und einem Referendar je eine Schachtel  Streichhölzer, eine vierte nahm ich, und auf meinen Befehl wurde der  riesige Aktenberg zu gleicher Zeit an vier Ecken angezündet. Das Feuer  brannte ununterbrochen drei Tage und drei Nächte. 
    Ich war mir bewusst, dass es eine historische Pflicht der Revolution  ist, diese Aufräumungsarbeiten allerorts zu vollbringen. Denn in diesen  Tausenden von Paragraphen und Gesetzen drücken sich ja jene  kapitalistischen Eigentumsverhältnisse aus, die es der kleinen  herrschenden Klasse erlauben, von der Ausbeutung der breiten Massen zu  leben. Die Revolution muss schon bei ihren ersten Schritten die  »Gesetzestafeln« der alten Ordnung zerstören. Die große, allgemeine  Umwälzung ist gewiss kein einmaliger Vorgang, sondern ein langwieriger  Prozess, in dem solche einzelnen Aktionen zur Störung der bürgerlichen  Ordnung und ihres »Rechtes«, wie unsere Aktenverbrennung, symbolische  Bedeutung haben.  | 
  
    
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