Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
http://nemesis.marxists.org

Die Treibjagd gegen mich beginnt

Wie sehr schon um diese Zeit eine gewisse Presse bemüht war, unter allen Umständen und mit allen Mitteln eine Pogromstimmung gegen die Kommunisten zu schaffen, beweist das »Nürnberger Tageblatt«, das aus Anlass dieser Vorgänge folgendes schrieb:
»Die Falkensteiner Spartakisten schleppten ihren Bürgermeister fünf Stunden in der Stadt herum, schleppten ihn auf den Schlossfelsen und stürzten ihn dann in die Tiefe.«
In Wirklichkeit war nichts anderes geschehen, als dass der Arbeitslosenrat durch seine Verhandlungen mit dem Stadtrat eine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung durchgesetzt und dass die
Falkensteiner Forstverwaltung sich bereit erklärt hatte, Brennholz schlagen zu lassen und zu billigen Preisen an die Arbeitslosen abzugeben.
Der Bürgermeister erreichte, dass noch in der Nacht Militär nach Falkenstein kam und fast alle Mitglieder des Arbeitslosenrats aus den Betten heraus verhaftete; mich, den Vorsitzenden des Arbeitslosenrates, erwischten sie nicht, weil ihr Spitzel einen großen Bock gemacht hatte. Der Bürgermeister und der militärische Führer hatten mitten in der Nacht einen ihnen geeignet erscheinenden Mann beauftragt, festzustellen, in welchem Zimmer ich schliefe. Der Mann machte seine Sache aber so täppisch, dass ich wach wurde und Verdacht schöpfte.
Ich verließ schnell die Wohnung, ging außerhalb der Stadt auf eine Anhöhe und sah beim anbrechenden Morgen zu meinen Füßen ein buntbewegtes Bild. Militärpatrouillen durchzogen die Straßen, und Kommandorufe erschallten. Die Anhänger des Bürgermeisters beherrschten die Situation.
Zwei Freunde - Arbeitslose - machten mir gegen acht Uhr früh die Mitteilung, dass der ganze Arbeitslosenrat verhaftet worden sei. Die Soldaten hätten geschworen, den Ort nicht eher zu verlassen, als bis sie auch mich fingen.
Die verhafteten elf Mann des Arbeitslosenrates waren in Militärautos nach Plauen ins Gefängnis transportiert worden, damit sie in Falkenstein nicht von der Masse aus dem Gefängnis befreit werden konnten.
Diese Nachrichten veranlassten mich, meine sichere Position sofort aufzugeben; ich ging mit den beiden Freunden in die Stadt hinunter. Sofort sammelten sich um mich etwa zwanzig Arbeitslose, die empört den niederträchtigen Überfall besprachen. Ohne Aufenthalt ging ich mit ihnen vor das Rathaus, wo sich beim Bürgermeister der Führer der Truppe aufhielt und auch der größere Teil der Soldaten einquartiert lag. Am Eingang waren Maschinengewehre aufgestellt. Die Soldaten, die mich kommen sahen und denen sofort von den Spitzeln mitgeteilt wurde, dass ich Hoelz sei, glaubten, ich wolle mich selbst stellen.
Ich verlangte den Offizier zu sprechen. Als er kam, fragte ich ihn barsch, warum er den Arbeitslosenrat verhaftet habe und was dieser ganze Aufmarsch eigentlich bezwecken solle. Er antwortete etwas verlegen und betreten, ihm wäre in Zwickau mitgeteilt worden, dass die Arbeitslosen in Falkenstein plündern und schießen und sämtliche Schaufenster demolieren. Er musste auf meine Frage zugeben, dass daran kein wahres Wort sei. Daraufhin forderte ich ihn ganz energisch auf, mit seiner Truppe sofort wieder abzuziehen. Der Offizier stotterte, das ginge nicht, er sehe zwar ein, dass er überflüssig sei, aber er dürfe ohne Befehl seiner vorgesetzten Stelle nicht abrücken. Ich wandte mich an die inzwischen in Massen vor das Rathaus geströmten Arbeitslosen und fragte: »Wollt ihr, dass die Soldaten noch eine Stunde länger in der Stadt bleiben?« Die einstimmige Antwort war: »Nein, sofort 'raus mit ihnen!« Nun merkte der Offizier, dass die Situation für ihn etwas ungünstig stand, er verlangte für seinen Abzug eine Frist von zwei Stunden. Aber auch die wurde ihm nicht gewährt; die Menge stürmte die Stufen zum Rathaus empor, drängte das Militär zurück, nahm die Gewehre und Maschinengewehre und warf sie - so harmlos waren bei aller Erbitterung diese Menschen - auf die Lastautos der Soldaten. Unter dem Druck der Arbeitslosen kletterten die Soldaten auf die Lastautos. Man sah ihnen an, wie froh und erleichtert sie den Ort verließen.
Nach dem Abzug der Soldaten setzten die Arbeitslosen den Bürgermeister gefangen. Er musste an die Regierung in Dresden telefonieren und unter unserer Aufsicht einen Situationsbericht über die Vorgänge geben. Wir zwangen ihn zu sagen, dass auf Grund des nächtlichen Überfalles auf den Arbeitslosenrat er und mehrere einflussreiche Bürger der Stadt im Rathaus so lange festgehalten werden sollten, bis die verhafteten Mitglieder des Arbeitslosenrates ihre Freiheit erhielten. Nach langem Hin und Her gab die Regierung an die Plauener Staatsanwaltschaft Anweisung, die Verhafteten schnellstens freizulassen.
Unter ungeheurem Jubel der Menge, die von früh acht Uhr bis nachmittags sechs Uhr in strömendem Regen gewartet hatte, zogen die Freigelassenen in Falkenstein ein. Nun herrschte für einige Wochen Ruhe in der Stadt. Der Arbeitslosenrat arbeitete Hand in Hand mit den behördlichen Organen, um die Verteilung von Lebensmitteln und Brennmaterial durchzuführen.
Im Zusammenhang damit machte es sich der Arbeitslosenrat zur Aufgabe, den im Ort üppig wuchernden Schleichhandel zu unterbinden. Zwei Mitglieder des Arbeitslosenrates gingen mit zwei Schutzleuten in die Häuser der Fabrikanten, von denen bekannt war, dass sie große Mengen im Schleichhandel erworbener Lebensmittel aufgespeichert hatten. Die Vorräte wurden beschlagnahmt. Es kam vor, dass an einem einzigen Tage im Rathaus ganze Berge von fettem Schinken usw. aufgestapelt wurden. Am nächsten Tag veröffentlichte dann der Arbeitslosenrat im Stadtblatt eine Bekanntmachung, die von der Behörde gegengezeichnet war, dass sich die Kriegerwitwen, die Kranken und Wöchnerinnen im Rathaus einfinden sollten, um dort pro Person ein halbes oder ein ganzes Pfund dieser oder jener Delikatesse in Empfang zu nehmen. Die Verteilung wurde in Zusammenarbeit mit der Behörde durchgeführt.
Unter den vielen Hunderten von abgearbeiteten Frauen kam eines Tages eine alte, vergrämte Mutter, deren sechsundzwanzigjähriger Sohn, für den sie etwas erbat, seit einem Jahr an »Hungertyphus« (Skorbut) daniederlag; sie wurde aufgefordert, am nächsten Tag bei der Verteilung dazusein. Zur festgesetzten Stunde erschien sie im Rathaus und sagte unter tiefer Bewegung, dass es zu spät sei, ihrem Sohn zu helfen, er sei am Vormittag gestorben.
In einer Sitzung des Arbeitslosenrates erschien ein Blinder, der seinen kümmerlichen Unterhalt mit Korbflechten verdiente, und bat um ein Darlehn von tausend Mark, um sich Weiden für seine Arbeit kaufen zu können. Ich sandte sofort ein Mitglied des Vollzugsrats zu einem steinreichen Großhändler, dem die Unmassen seines Geldes große Sorgen bereiteten, ließ ihn holen und forderte ihn auf, dem Blinden das Gewünschte zu geben; der arme Reiche erklärte sich dazu bereit.
Bei einer großen Versammlung in Treuen kam ein alter Tagelöhner auf die Bühne und brachte stotternd und ungeschickt ein Anliegen vor. Er arbeitete seit vierzig Jahren bei dem Rittergutsbesitzer in Pfaffengrün. Auch sein Sohn war dort beschäftigt. Sie erhielten einen Stundenlohn von fünfzig Pfennigen. Das waren fünfundzwanzig Friedenspfennige. Der alte Mann hatte seinen Arbeitgeber gebeten, ihm eine Zulage zu gewähren, da er mit dem Gelde weder leben noch sterben könne. Da hätte der Rittergutsbesitzer geantwortet: »Geht zu Hoelz und lasst euch von ihm etwas geben.«
Ich schrieb dem Rittergutsbesitzer noch am selben Abend, er habe unverzüglich zehntausend Mark an den Boten auszuhändigen, damit wir seinen Tagelöhnern eine Lohnzulage gewähren können; sollte er unseren Wunsch nicht erfüllen, so würden wir ihm die Pferde aus dem Stall ziehen, sie verkaufen und den Erlös seinen Arbeitern geben. Das Geld wurde pünktlich abgeliefert.
Zu einer Zeit, als in Falkenstein schon seit mehreren Monaten keine Kartoffeln mehr zu bekommen waren, kam ein Kraftfahrer zu mir und berichtete, dass in Grünbach - von Falkenstein eine halbe
Stunde entfernt - durch die Gemeinde große Mengen Kartoffeln verkauft würden. Ich hielt die Nachricht nicht für wahr und fuhr selbst nach Grünbach zum Gemeindevorstand. Er verkaufte mir zwei Waggons Kartoffeln und sagte, eine Stunde früher hätte er mir noch fünfundzwanzigtausend Zentner geben können, die er nun anderweitig verkauft habe; er verfüge über gute Beziehungen und habe dem Bürgermeister von Falkenstein schon des Öfteren große Mengen von Lebensmitteln angeboten: Erbsen, Haferflocken, Speck, Kartoffeln usw. Doch der habe diese Angebote regelmäßig abgelehnt.
Der Gemeindevorstand bestellte auf meine Anweisung telegraphisch für eine Million Mark Lebensmittel für Falkenstein und andere Orte des Vogtlandes.
Um die Bezahlung sicherzustellen, forderte ich die Kapitalisten der einzelnen Orte auf, den finanziell schwachen Gemeinden Kredite zu gewähren. Die Gemeinden sollten die Lebensmittel in eigener Regie zu niedrigen Preisen an die Bevölkerung abgeben. Durch den Einmarsch der Regierungstruppen wurde diese Absicht vereitelt. Die Zusammenarbeit mit den behördlichen Organen gefiel weder dem Bürgermeister noch den beiden Führern der USPD, Storl und Pöhlmann; denn die praktischen Erfolge, die der hauptsächlich aus Kommunisten bestehende Arbeitslosenrat für die Arbeiter und Arbeitslosen erzielte, verschafften der kommunistischen Idee in der Stadt und Umgebung viele Anhänger.
Den Bemühungen der Storl-Pöhlmann und des Bürgermeisters gelang es, bei der sozialdemokratischen Regierung in Dresden durchzusetzen, dass erneut Militär nach Falkenstein beordert wurde. Diesmal sollte der Arbeitslosenrat unter allen Umständen aufgelöst und verhaftet und vor allem ich in sicheren Gewahrsam gebracht werden. Der Bürgermeister erklärte wiederholt, die Leute ertrügen ihre Not viel geduldiger, wenn ich sie nicht immer wieder aufputschte.
Am Dienstag, dem 3. Juni, nachts zwei Uhr, rückte ein Regiment Jäger unter Führung eines Oberst Berger in Falkenstein ein und nahm sofort bei etwa hundert Genossen und Arbeitern Haussuchungen vor.
Das Haus, in dem ich wohnte, wurde von hundert Mann mit Gewehren und Handgranaten unter dem Vorwand gestürmt, es sei vom Dach aus auf die Soldaten geschossen worden. Dabei befand sich weder in diesem Hause eine Waffe, noch hatten die Arbeitslosen und Arbeiter überhaupt Waffen. Noskes Jäger eröffneten ein drei- bis vierstündiges Gewehrfeuer nach dem Schornstein des Hauses und warfen Handgranaten in den Garten. Der Offizier schrie: »Der Kerl muss vernichtet werden, und wenn die ganze Bude in die Luft geht!« Ich war nicht im Haus, da mein ausgezeichnet arbeitender »Nachrichtendienst« mich rechtzeitig gewarnt hatte. Von der Höhe des Mühlberges aus beobachtete ich das rührige Treiben der Regierungstruppen.
Obwohl das Militär mehrere Wochen in Falkenstein blieb und kein Haus und keinen Schrank undurchsucht ließ, wurde ich nicht entdeckt. Zuletzt kam man auf die verzweifeltsten Einfälle: So wurde eines Tages auf der Ellefelder Straße eine Hochzeitskutsche mit allen Insassen verhaftet; eine Patrouille von fünfzehn Mann stürzte sich auf die Braut und den Kutscher und behauptete, die Braut sei ich und der Kutscher mein »Adjutant« Gruner. Dieser und ähnliche Missgriffe hatten das Militär schon so lächerlich gemacht, dass die Gassenbuben den vorübergehenden Soldaten zuriefen: »Sucht ihr den Hoelz, ich hab ihn hier in der Tasche.«
Es wäre mir unerträglich gewesen, in diesen Wochen untätig zu Hause zu sitzen, nur um mich vor meinen Verfolgern zu verbergen. Ich wollte für die Bewegung arbeiten. Deshalb sprach ich unter anderm Namen in den umliegenden Ortschaften in öffentlichen und Mitgliederversammlungen. Mein Auftauchen bedeutete jedes Mal eine Blamage für das Militär, das mich stets »beinahe erwischte«. Eines Tages im Juni sollte ich zu einer Parteikonferenz nach Chemnitz. Mein Quartier befand sich in Auerbach bei Falkenstein. Ich musste, um nach Chemnitz zu kommen, unbedingt den Zug benutzen. Der Zug, der von Falkenstein kam, war voll Militär. Es war die abgelöste Truppe, die nach Zwickau fuhr.
Ich geriet in eine schwierige, fast hoffnungslose Situation und glaubte nicht, dass ich diesmal wieder entkommen könne.
In Zwickau, wo das Militär den Zug verließ, musste ich umsteigen. Ich stand auf dem Bahnsteig inmitten der Soldaten. Zivilpersonen, die mit ausstiegen und mich persönlich kannten, glaubten bestimmt, ich sei verhaftet worden. Nur die Soldaten wussten nicht, dass der Hoelz, den sie seit Wochen suchten, sich mitten unter ihnen befand. Die Gefahr ging vorüber, ich schwenkte an einer geeigneten Stelle nach links ab, und das Militär trottete ruhig dem Ausgang zu.
Am 21. Juni, mittags zwölf Uhr, rückten die letzten Jäger aus Falkenstein ab. Um ein Uhr stand ich bereits wieder auf den Stufen des Rathauses und sprach zu Tausenden von Arbeitern und Arbeitslosen. Aber das abgezogene Militär hatte Vorsorge getroffen. Die Bürgerwehr trat, mit Gewehren und Handgranaten bewaffnet, auf den Plan und versuchte die Versammlung zu sprengen und mich zu verhaften. Sie gab sogar eine Salve ab und schwärmte in Schützenlinien aus. Der Erfolg war, dass die empörten Arbeiter sich auf die tapfere Bürgerwehr stürzten, ein paar tüchtig verprügelten und ihnen die Waffen abnahmen. Die anderen rissen aus.
Nach einigen Tagen erschienen ein Vertreter des Ministeriums und ein General Pilling in Falkenstein. Sie verhandelten mit dem Bürgermeister und später mit mir. Sie verlangten, dass der Arbeitslosenrat sofort aufgelöst werde, und stellten verschiedene andere Forderungen, auf die ich nicht eingehen konnte. Die beiden versuchten mich dadurch einzuschüchtern, dass sie erklärten, die Regierung sei entschlossen, zehn Regimenter nach Falkenstein zu werfen, wenn der Arbeitslosenrat nicht aufgelöst werde. Während ich noch mit ihnen verhandelte, waren wiederum Truppen in Falkenstein einmarschiert, umstellten das ganze Rathaus sowie den Platz vor dem Rathaus, auf dem sich etwa sechstausend Menschen angesammelt hatten, verkündeten das Standrecht und ließen bekannt machen, dass keinem Menschen ein Haar gekrümmt werden solle. Die Truppen würden sofort wieder abziehen, nur solle sich die Bevölkerung der Verhaftung des Hoelz nicht widersetzen. Darauf kam ein Kommando mit einem Offizier und einem Maschinengewehr, besetzte die Stufen des Rathauses, auf denen ich, der Regierungsvertreter und der General standen, und erklärten mich für verhaftet.
In diesem Augenblick entstand eine ungeheure Erregung und Empörung unter den Massen, die Menschenmauern drängten mit ungestümer Gewalt nach dem Rathaus, die Soldaten wurden eingekeilt; bei einer Schießerei hätte Militär auf Militär schießen müssen. Der Befehlshaber erkannte die Situation und gab Order, die Truppen nach dem Amtsgerichtsgebäude zurückzuziehen. Der General und der Regierungsvertreter suchten ebenfalls dort Schutz.
Nunmehr schickten wir eine Abordnung von sechs Mann in das Gerichtsgebäude mit der Forderung, das Militär sofort aus der Stadt zu entfernen. Der General verhaftete die ganze Abordnung. Auf diese Nachricht hin wälzte sich der riesige Menschenstrom gegen das Gerichtsgebäude und verlangte stürmisch die Freilassung der Verhafteten und den Abzug der Truppen.
Die Verhafteten wurden zwar freigelassen, aber die Soldaten schwärmten plötzlich aus und suchten sich meiner zu bemächtigen. Das gelang ihnen beinahe; sie waren mir schon dicht auf den Fersen; da stellten sich ein paar Arbeiter den hinter mir her rasenden Soldaten in den Weg, so dass sie der Länge nach hinfielen. Andere Arbeiter packten mich an den Armen und rannten mit mir aus der Stadt fort auf eine Anhöhe.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur