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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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In der Irrenabteilung - Mein dritter Hungerstreik - Bücher und Gymnastik retten mich

Die größte Überraschung aber erwartete mich erst in der Anstalt selbst. Dort wurde mir mitgeteilt, dass ich in die Irrenabteilung der Strafanstalt gebracht werden sollte. Ich weigerte mich ganz entschieden, in die Irrenabteilung zu gehen. Die Beamten, die einen Konflikt mit mir in Gegenwart meines Anwaltes vermeiden wollten, wiesen mir eine Krankenzelle im Lazarett an. Nachdem ich mich von meinem Verteidiger verabschiedet hatte, legte ich mich ermüdet auf die Krankenpritsche. Einer der Beamten setzte sich dicht an mein Lager und ließ das Licht brennen. Ich beschwerte mich darüber und verlangte, dass das Licht ausgedreht werde, da ich bei Licht nicht schlafen könne, und dass er die Zelle verlasse. Er weigerte sich und erklärte, er habe den strikten Auftrag, nicht von meinem Lager zu weichen, um zu verhindern, dass ich einen Flucht- oder Selbstmordversuch mache.
Gegen neun Uhr vormittags - ich hatte bis dahin noch keinen Augenblick schlafen können- kam der Direktor der Anstalt und erklärte mir kurz und bündig, er habe die Anweisung erhalten, mich sofort in die Irrenabteilung zu schaffen. Ich protestierte dagegen und verlangte zu wissen, aus welchen Gründen ich in diese Abteilung gebracht werden sollte. Das könne doch nur den Zweck haben, mich dort verrückt zu machen. Der Direktor gab zur Antwort, er könne daran nichts ändern, das sei Sache des Arztes, die Anweisung sei mit von Münster gekommen. Nach dem Direktor kam der Anstaltsarzt, der, ohne mich vorher zu untersuchen, anordnete, mich sofort in die Irrenabteilung zu bringen. Meinen Protest dagegen tat er mit einem ironischen Lächeln ab. Als er dazu noch ein paar höhnische Bemerkungen machte, spuckte ich ihn an. Er gab den sechs herbeigeeilten Irrenwärtern einen Wink, sie packten mich, und einer presste mit eisernem Griff meine Hoden zusammen. Dann trugen sie mich in eine besonders für mich hergerichtete Isolierzelle der Irrenabteilung.
Diese Isolierzelle war ähnlich wie die Tobzelle in Münster. Ein ganz kleines Fenster, das ich nicht öffnen konnte, mit dickem, undurchsichtigem Glas, ferner schalldichte Doppeltüren, durch die kein Schreien, Stöhnen oder Wimmern nach außen dringen konnte. Kein Tisch, kein Stuhl, nur eine eiserne Pritsche.
Als Protest gegen meine Verschleppung in die Irrenabteilung trat ich sofort in den Hungerstreik, obwohl ich erst vor dem Abtransport von Münster fünf Tage im Hungerstreik gewesen war. Dort hatte ich die Erfahrung gemacht, dass es während eines Hungerstreiks unmöglich ist, ein Buch zu lesen, da die Buchstaben vor den Augen tanzen. Nur durch illustrierte Zeitschriften kann man sich eine Ablenkung und Zerstreuung verschaffen. Ich bat einen Beamten, mir ein illustriertes Heft oder Buch zu bringen. Er brachte aber ein Buch ohne Illustrationen. Ich wiederholte meine Bitte, mir ein Buch zu bringen, in dem Bilder sind. Ich wählte das Wort »Bilder«, weil ich glaubte, er verstehe das Wort »Illustrationen« nicht. Daraufhin schrieb der Beamte in den für den Arzt bestimmten Tagesbericht, Hoelz verlange ein Bilderbuch. Dieses Verlangen wurde als ein Zeichen von Geisteskrankheit angesehen.
Am folgenden Tag hörte ich von einem Wärter, dass die Gefangenen ihn fragten, ob ich der Max Hoelz sei. Seine Vorgesetzten hätten ihm aber verboten, das zuzugeben, und ihn beauftragt, den Gefangenen auf ihre Fragen zu erwidern, ich sei nicht Max Hoelz, es sei eben meine Krankheit, dass ich mir einbilde, Max Hoelz zu sein.
Um mich vom Hungerstreik abzubringen, verfiel die Behörde auf folgenden Trick: Aus Forst in der Lausitz bekam ich ein Telegramm mit der Unterschrift meines Schwagers, der, wie sich später herausstellte, von diesem Telegramm gar nichts gewusst und sich niemals in Forst aufgehalten hatte. In dem Telegramm stand, ich solle den Hungerstreik unbedingt sofort abbrechen, da meine Entlassung unmittelbar bevorstünde. Ich brach aber den Hungerstreik nicht ab, sondern verweigerte die Nahrung volle fünf Tage, bis meine Verteidiger kamen und mir versprachen, im Ministerium und in der breiten Öffentlichkeit gegen meine Festhaltung in einer Tobzelle zu protestieren.
Vor meinem Abtransport aus Münster hatte mir die Verwaltung erklärt, ich käme in eine sehr schöne, gesunde Gegend, wo ich viel frische Luft haben werde, und auf der Fahrt erzählten mir der Arzt, der Kriminalkommissar und der Polizeimajor dasselbe. Nun hatte man mich in ein Loch geworfen, das fast noch grausamer war als die Folterkammer in Münster. Der Direktor in Breslau hatte meinen Anwälten gesagt, die Anweisung, mich in die Irrenabteilung zu stecken, sei vom Ministerium ergangen; im Ministerium aber erklärte man, davon nichts zu wissen, der Direktor selbst habe das eigenmächtig angeordnet. Jeder lehnte die Verantwortung ab, einer schob es auf den anderen.
In der Tobzelle brannte die ganze Nacht grelles Gaslicht. An Schlafen war dabei gar nicht zu denken. Ich wälzte mich ruhelos auf der Pritsche herum. Die Zelle wurde fast gar nicht gelüftet. Die ersten Tage überhaupt nicht, in den letzten Wochen nur wenige Minuten am Tag. Durch diese Abschließung von frischer Luft, die mich härter traf und viel empfindlicher peinigte, als wenn man mir wochenlang das Essen entzogen hätte, bekam ich einen neuen Nervenzusammenbruch. Ich flehte den Arzt täglich unter Tränen an, er möge doch die Zelle etwas mehr lüften lassen, ich müsse in dieser entsetzlichen Luft ersticken. Außerdem bat ich, dass das Licht während der Nachtzeit wenigstens ein paar Stunden ausgelöscht werde. Der Arzt lehnte alles ab und erklärte, er könne es mit seinem ärztlichen Gewissen nicht verantworten, das Fenster etwa eine oder zwei Stunden zu öffnen, denn die Luft sei mir sehr schädlich, und er sei doch für meine Gesundheit verantwortlich. Das Licht aber müsse die ganze Nacht brennen, damit die Beamten immer sehen könnten, was ich tue. Zwei Monate musste ich in der Tobzelle der Irrenabteilung bleiben, und was ich dort hörte und sah, übertraf noch um vieles die Misshandlungen und Unmenschlichkeiten, die ich in Münster erlebt hatte. Dass ich in dieser verzweifelten Lage nicht wirklich verrückt wurde, lag daran, dass ich alle Reste meiner früheren Energie zusammenraffte und mit zäher Ausdauer jede Möglichkeit benutzte, um mich von dem Zermürbenden meiner Lage abzulenken.
Nach meinem ersten Nervenzusammenbruch in Münster hatte ich auf Anraten des Professors Többen mit der Zimmergymnastik, System Müller, begonnen. Többen kaufte mir das Buch, das die Übungen enthielt. Die ersten Versuche fielen mir sehr schwer, denn jede Drehung oder Beugung, die ich machte, bewirkte, dass ich zusammenbrach, weil sich alles vor meinen Augen drehte. Ich konnte anfangs kaum drei bis fünf Minuten Gymnastik treiben, aber ich ließ nicht nach. Nach einem Dreivierteljahr brachte ich es auf zwei Stunden täglich. Auch hatte ich - ebenfalls auf Anraten Többens - mit täglichen kalten Abreibungen des ganzen Körpers begonnen.
Hier in der Tobzelle der Irrenabteilung in Breslau setzte ich die Freiübungen und Kaltwaschungen fort. Die Wärter deuteten mir an, dass sie auch mein Turnen als ein Zeichen von geistiger Krankheit betrachteten. Da es physisch unmöglich war, den ganzen Tag und die ganze Nacht Gymnastik zu treiben, versuchte ich, einige wissenschaftliche Bücher in die Zelle zu bekommen, um durch ernstes Studium meine Gedanken von meiner Umgebung abzubringen. Die Direktion erklärte, wenn der Arzt zustimme, dann dürfe ich Bücher in die Zelle bekommen. Der Arzt lehnte ab, weil, wie er sagte, die Bücher meinen Zustand ungünstig beeinflussen würden. Erst nach wochenlangen Kämpfen mit ihm erreichte ich, dass mir das »Kapital« von Marx, Bebels drei Bände »Aus meinem Leben« und Bücher über Gewerkschaftsfragen ausgehändigt wurden. Es war das erste Mal, dass ich die Bekanntschaft mit dem »Kapital« machte. Das Werk war für mich sehr schwer zu lesen, obwohl ich durch den Kursus von Rühle schon eine Einführung in den Marxismus erhalten hatte. Ich las die Bände durch, ohne ihren tiefen Gehalt überhaupt begriffen zu haben. Auch beim zweiten Lesen erfasste ich noch nichts von der ungeheuren Bedeutung der Lebensarbeit jenes Mannes, der den Sozialismus aus einer gefühlsmäßigen Heilslehre zur Wissenschaft erhoben und damit der Arbeiterklasse die geistigen Waffen für ihren Befreiungskampf geliefert hat. Ich merkte, dass es mit dem einfachen Durchlesen nicht getan war, und versuchte nun, die einzelnen Abschnitte und Bände systematisch durchzuarbeiten. Ich machte mir Auszüge und stellte die Analyse, die Marx vom Kapital und der Arbeit gab, den praktischen Erfahrungen gegenüber, die ich vor meinem politischen Erwachen und während der Kämpfe seit 1918 gemacht hatte. Die ganze Nacht hindurch bis früh gegen drei Uhr saß ich auf meiner Pritsche und las. Ohne Bücher hätte die grelle Nachtbeleuchtung zu meinem geistigen Ruin geführt. Ich fand die wissenschaftliche Begründung einer Idee, die mich befähigte, die mir zuteil werdende Behandlung von einem höheren, einem überpersönlichen Gesichtspunkt aus zu begreifen. Das, was mir angetan wurde, richtete sich nicht so sehr gegen meine Person als vielmehr gegen die Klasse, der ich angehörte und die um ihre Befreiung kämpfte. Ich litt ja nicht als einziger oder einzelner, sondern mein Kampf und meine Leiden waren nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus dem unerbittlichen Klassenkampf.
Bei der Durcharbeitung der Bücher vergaß ich oft ganz, wo ich mich befand. Raum und Zeit entschwanden. Nur das Klirren und Rasseln der schweren Zellenschlüssel und Schlösser beim Aufschließen durch die Wärter rief mich von Zeit zu Zeit wieder in die Wirklichkeit zurück.
In diese raue Wirklichkeit zurück rief mich auch jeden Morgen der Kalfaktor, der in einem schmutzigen Papierbecher die übliche lauwarme Brühe mit dem dazugehörigen Stück Brot brachte. Es war ein früherer Fürsorgezögling, der wie alle anderen Insassen der Irrenabteilung hier untergebracht worden war, weil die Anstaltsverwaltung im Hauptgebäude, in dem die großen Zellenflügel lagen, nicht mit ihm fertig werden konnte. In der Irrenabteilung gab es viele und mannigfache Möglichkeiten, mit aufsässigen oder wirklich geisteskranken Gefangenen fertig zu werden. Wer durch die monatelange Absonderung in der Tobzelle nicht mürbe und widerstandslos wurde, den überantworteten die Wärter den Händen der Kalfaktoren, die für eine Rolle Kautabak die ihnen hilf- und wehrlos ausgelieferten Gefangenen so lange prügelten, bis sie ganz klein und fügsam wurden und jeden Widerstand als nutzlos aufgaben. Sie hatten eine ganz bestimmte Methode: Ein Wärter gab einem der vier besonders ausgewählten robusten und ganz rücksichtslosen Kalfaktoren eine Rolle Kautabak, ohne etwa zu sagen, er solle einen bestimmten Gefangenen prügeln. Ein Wink mit den Augen von Seiten des Wärters genügte vollkommen. Der Kalfaktor wusste, was er zu tun hatte, er setzte sich mit seinen Helfern in Verbindung, und wenn die Zelle des zu verprügelnden Gefangenen zum Kübelentleeren oder zum Suppenempfang aufgeschlossen wurde, verzog sich der Wärter. Sofort sprangen die vier auf den Gefangenen zu, einer presste ihm den Mund zu und die Gurgel zusammen, und die anderen schlugen so lange auf ihn los, bis sie glaubten, dass er fürs erste genug habe. Durch ihr Beiseitetreten konnten die Wärter bei einer eventuellen Beschwerde oder Anzeige von Seiten der Geprügelten unter ihrem Diensteid bekräftigen, dass sie von einer Misshandlung nichts gesehen hatten.
Half diese Abreibung nicht genügend, so wurde sie von Zeit zu Zeit mit wachsender Stärke wiederholt. Als einmal ein Wärter in der geöffneten Tür meiner Zelle stand, hörte ich in den Korridoren der Irrenabteilung ein durchdringendes Heulen und Hilferufen sowie laute, klatschende Schläge. Als ich kurz darauf für einige Minuten in den Hof geführt wurde, begegnete ich auf der Treppe einem Gefangenen, der über und über blutete und dessen Zähne eingeschlagen waren. Er gab mir durch Gebärden zu verstehen, dass ihn die Kalfaktoren so zugerichtet hatten. Und zwar war das im Auftrag der Wärter geschehen. Das bestätigte mir einer, der dafür bekannt war, dass er diese Art von Gefangenenmisshandlung scharf verurteilte.
Der Kalfaktor, der mir am Morgen die Kaffeebrühe und mittags die Suppe brachte, trug die »Speisen« so in der Hand, dass aus seiner fortwährend tropfenden Nase in regelmäßigen Zwischenräumen große Tropfen in die Kaffeebrühe oder die Suppe fielen. Gerade dieser Kalfaktor beteiligte sich immer an der Verprügelung seiner Mitgefangenen, und es war nicht ratsam, gegen ihn etwa Beschwerde einzureichen, durch die er um seinen Posten gekommen wäre. Mit aller Bestimmtheit hätte er noch vor seiner Ablösung mit seinen drei Kumpanen mir bedenkenlos sämtliche Zähne eingeschlagen.
Außer den Einzelzellen gab es in der Irrenabteilung noch drei oder vier Gemeinschaftszellen: Tagesräume und gemeinsame Schlafsäle. In den Schlafsälen kam es in den Nächten oft zu schweren Misshandlungen.
Die Beamten hatten ihre Vertrauensleute unter den Gefangenen. Die sorgten dafür, dass Gefangene, die sich missliebig bei den Beamten gemacht hatten, von ihren Mitgefangenen verprügelt wurden. Andere erhielten noch grausamere Strafen: Man band in der Nacht, während der Gefangene schlief, das eine Ende eines Bindfadens an sein Geschlechtsteil, das andere Ende an den Fuß der eisernen Schlafpritsche. War dies geschehen, dann brüllten zwei Gefangene plötzlich in die Stille der Nacht hinein: »Feuer!« Natürlich sprangen alle Gefangenen entsetzt von ihren Pritschen, um nach der verschlossenen Tür zu laufen.
Der Unglückliche, dessen Geschlechtsteile an die Pritsche gebunden waren, brach mit einem Aufschrei unter fürchterlichen Schmerzen zusammen.
Eine ganz alltägliche Strafe war es, missliebigen Gefangenen ihre Schlafdecke über den Kopf zu werfen und sie dann mit Pantoffeln, Besen und dergleichen zu verprügeln.
Beliebt war auch das Auf-den-Kopf-Stellen. Vier Gefangene fielen über einen anderen her, stellten seinen Kopf auf den Fußboden, hielten die Beine in die Luft und ließen ihn stundenlang in dieser Stellung, bis er kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Ging einer an den Misshandlungen zugrunde, so erzählten die Beamten und Gefangenen dem Arzt irgendein Märchen, wie der Gefangene Selbstmord begangen habe, und keiner der Gefangenen durfte es wagen, etwas anderes zu behaupten. Er wusste genau, welches Los ihm dann bevorstand. Und selbst, wenn er eine Anzeige machte, war das vollkommen zwecklos, denn ein Zuchthäusler, der einen Beamten wegen Misshandlungen anzeigte, wurde von der Direktion und von den Richtern immer als unglaubwürdig hingestellt. Noch dazu, wenn eine solche Anzeige von einem Gefangenen kam, der in einer Irrenabteilung untergebracht war.
Bei den Zuchthausverwaltungen hat sich mit der Zeit eine feste Regel herausgebildet. Wenn ein Gefangener des Öfteren über Aufseher, Inspektionsbeamte, über den Direktor oder den Arzt Beschwerde führt, wenn er mit dem Essen und anderen Einrichtungen der Anstalt unzufrieden ist und dies in Beschwerden an das Ministerium oder anderen Gefangenen gegenüber zum Ausdruck bringt, wenn er trotz Ermahnungen und Warnungen nicht von seinen Beschwerden ablässt, dann wird er zur Beobachtung seines Geisteszustandes in eine Irrenabteilung gebracht. Darüber kommen Vermerke in seine Akten. Nun ist er von vornherein als geistig minderwertig und unzurechnungsfähig abgestempelt und daher unglaubwürdig, denn welches Gericht und welche Behörde kann einem viertel- oder halbverrückten »Zuchthäusler« Glauben schenken. Diese Methode war in Münster auf mich angewandt worden. Während ich in einer Krankenzelle untergebracht war, führte mich die Verwaltung in ihren Büchern als »zur Beobachtung seines Geisteszustandes in der Irrenabteilung«.
Der Hauptwachtmeister des Lazaretts, ein sehr anständiger und alle Gefangenen menschlich behandelnder Mann, der leider später an Krebs starb, zeigte mir die Eintragung in meinen Krankenakten. Ich teilte meinem Verteidiger Justizrat Fraenkl mit, was ich daraus ersah, ohne natürlich zu schreiben, woher ich es wusste. Ich bat den Anwalt, alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit ein bekannter Psychiater nach Münster komme und mich auf meine psychische Verfassung hin untersuche, da der Direktor Scheidges mich als unzurechnungsfähig hinzustellen beliebe. Die wiederholten Anträge Fraenkls wurden abgelehnt; zum Glück ließ er sich dadurch nicht abhalten, immer neue Anträge zu stellen, und seinen unermüdlichen Vorstößen und seiner zähen Ausdauer danke ich es, dass ein von ihm vorgeschlagener Professor an der Universität Frankfurt nach Münster kam und mich dort einige Tage beobachtete. Er sandte darüber ein ausführliches Gutachten an das Ministerium, wodurch es dem Direktor in Münster unmöglich gemacht wurde, mich als verrückt hinzustellen.
Ich zitiere aus dem Gutachten dieses Psychiaters nur einige Zeilen:
»Bei dieser Unterhaltung tritt hervor, dass seine Gedankengänge in jeder Beziehung geordnet sind, dass er ausgesprochen ethische Vorstellungen, sowohl was die Familienbeziehungen betrifft wie auch das Verhältnis zur Gesamtheit, besitzt. Er ist beherrscht von der Idee der Menschheit. Seine Äußerungen sind einfach, ruhig und ohne viele Phrasen.«
Nun hatte die Behörde durch meine Überführung in die Irrenabteilung der Breslauer Strafanstalt einen zweiten Versuch gemacht, mich als geistig defekt hinzustellen. Die Direktoren und Ärzte wussten natürlich, dass ein geistig gesunder Mensch durch Unterbringung in einer Irrenabteilung tatsächlich psychisch defekt werden kann. Dass das der wirkliche Zweck der Überführung war, beweisen alle gegen mich angewandten Maßnahmen.
In einer der Tobzellen der Irrenabteilung lag auch ein junger jüdischer Kaufmann, der schwer krank war. Die Wärter suggerierten dem kranken Menschen, Hoelz habe veranlasst, dass er in die Tobzelle komme. Hoelz sei überhaupt schuld an allem Unglück, das ihn verfolge. Der Gefangene geriet dadurch in heftige Erregungszustände und begann zu toben. Darüber amüsierten sich Wärter und Kalfaktoren. Nach einer Weile stürzten die letzteren auf den tobenden Gefangenen, der nur ein zerrissenes, mit Kot beschmutztes Hemd anhatte, und traten ihm gegen die Schienbeine. An diesen Stellen hatte er große, klaffende Verletzungen. Der Gefangene fand in der Tobzelle seinen Tod. Als er starb, war ich bereits ins Hauptgebäude der Anstalt verlegt worden. Von dem kleinen Fensterchen meiner Zelle konnte ich den Eingang zur Leichenkammer sehen. Ich beobachtete eines Morgens, wie die Kalfaktoren, begleitet von einem Wärter, den Toten vollkommen nackt aus der Tobzelle in die Leichenkammer trugen. Ich sah, wie sie die auf die Sezierbank gelegte Leiche mit Fäusten und Gegenständen bearbeiteten. Wie toll schlugen sie auf das Gesicht des Toten ein. Ein Gefangener namens Hoffmann bezeugte mir, dass die Kalfaktoren mit Wissen einiger Wärter dem Toten das goldene Gebiss herausbrachen.
So unbeliebt der Arzt im Männergefängnis war, so beliebt war der des danebenliegenden Frauengefängnisses, der ersteren häufig vertrat. Wenn er über den Gefängnishof lief und Gefangene in der Freistunde waren, dann grüßten ihn alle spontan, und viele liefen ihm schnell nach, um seine Hand zu fassen. Jeder hatte das Bedürfnis, dem Arzt zu zeigen, wie dankbar er ihm war. Was sich irgendwie mit den Strafvollzugsbestimmungen vereinbaren ließ, tat er, um den Menschen, die sowieso schon hart gestraft waren, ihr Los nicht noch mehr zu erschweren. Auch die Wärter und die Beamten hatten ihn gern.
Ich führte lange Gespräche mit ihm. Er war ein gut bürgerlicher Mann, ganz ohne kommunistische oder sozialistische Ansicht, aber er hatte Verständnis für menschliche Nöte und ein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden.
Damals las ich gerade - noch in der Tobzelle der Irrenabteilung- Korolenkos: »Geschichte meines Zeitgenossen«, ein Werk, zu dem Rosa Luxemburg ein wundervolles Vorwort geschrieben hat. Dieses Vorwort sowie die ganze Übersetzung des Buches hatte sie während ihrer Haftzeit in Breslau gemacht. Ihre Arbeit wirkte so stark auf mich, dass ich das Vorwort wochenlang fast täglich einmal las. Zu den Insassen der Irrenabteilung zählte auch ein ungefähr dreißigjähriger, zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilter Gefangener. Er hatte als ganz junger Bursche einen Menschen umgebracht. Nahezu zehn Jahre hatte er von seiner lebenslänglichen Strafe schon verbüßt. Er war ruhig und bescheiden, war immer in Einzelhaft und beteiligte sich nie an den Zoten und Prügeleien der anderen Gefangenen. Als meine Angehörigen mich besuchten und mir beim Abschied eine Tafel Schokolade verstohlen in die Hand drückten, traf ich den Lebenslänglichen auf der Treppe und steckte ihm schnell die Schokolade zu. Er war so froh über dieses kleine Geschenk, dass er immer, wenn er mich irgendwo sah, über das ganze Gesicht strahlte.
Eines Tages, als ich ganz allein - beaufsichtigt von zwei Wärtern - im Hof der Irrenabteilung meinen dreißig Minuten langen Kreislauf machte, sah ich, wie der sonst so ruhige Gefangene in den Korridoren entlanglief und mit seinen Fäusten sämtliche Scheiben der Fenster zertrümmerte. Nachdem er Dutzende von Scheiben eingeschlagen hatte, packten ihn die Wärter - seine Hände waren vollkommen zerschnitten - und steckten ihn in die Tobzelle. Ich erfuhr dann, dass er diesen Exzess mit Absicht und Überlegung ausgeführt hatte, um dadurch zu erzwingen, dass er wieder ins Zuchthaus zurückgebracht werde, da er schon länger als ein Jahr in der Irrenabteilung war und befürchtete, unter den wirklichen Geisteskranken und unter den Simulierenden selbst verrückt zu werden. Die Einzelhaft im Zuchthaus erschien ihm nicht so grauenhaft wie der Aufenthalt in der Irrenanstalt. Durch dieses Scheibenzertrümmern, für das er streng bestraft wurde, erreichte er tatsächlich seine Rückverlegung ins Zuchthaus. Man hatte ihn vorher trotz seiner wiederholten Bitten nicht zurückgebracht, weil er der einzige gelernte
Schneider in der Irrenabteilung war und für die Beamten viele Reparaturen ausführte.
Manche Gefangene simulieren Geisteskrankheit, weil sie glauben, dadurch ihr schweres Los ändern oder zumindest erleichtern zu können. Dass sie sich in dieser Annahme sehr irren, merken sie immer erst, wenn es zu spät ist. Gelingt es ihnen - was selten vorkommt - den Arzt zu täuschen, dann kommen sie auf fünf Jahre oder noch länger in eine Landesirrenanstalt, in der es ihnen nicht besser, sondern oft noch schlechter als im Zuchthaus geht. Der Aufenthalt in der Landesirrenanstalt wird ihnen nicht etwa auf die Strafe angerechnet, sondern wenn sie als geheilt entlassen werden, müssen sie immer wieder in das Zuchthaus zurück und ihre volle Strafe absitzen. Ich habe mehrere Gefangene kennen gelernt, die zu drei oder zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden waren und die acht bis zehn Jahre in einer Landesirrenanstalt zubrachten. Am entsetzlichsten aber ist das Los derjenigen Gefangenen, die Geisteskrankheiten simulieren, und zwar so ernsthaft und glaubhaft simulieren, dass sie nach Monaten infolge ihrer Simulation wirklich geisteskrank werden.

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