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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Der Zuchthausdirektor mit dem Kindergesicht - Die »Zucht« beginnt

Ich hatte nicht zu beschreibende Empfindungen und Eindrücke, als sich, wie auf ein unsichtbares Zeichen hin, vor unseren Automobilen die schweren, eisernen Zuchthaustore öffneten. Ein unheimlich düsterer Bau erhob sich vor meinen Blicken. Aus der Entfernung sahen die kleinen Zellenfenster im Hintergrund des Verwaltungsgebäudes noch winziger aus, als sie waren. Aus der Tür des Verwaltungsgebäudes traten mehrere Menschen, Beamte in Uniform und in Zivil, darunter einer, der sich den mich begleitenden Polizeimajoren und Hauptleuten als der Direktor des Zuchthauses vorstellte. Ich hatte mir unter einem Zuchthausdirektor etwas ganz anderes gedacht, einen alten, griesgrämigen, verbissenen und verbitterten Menschen, aus dessen Augen Paragraphenblitze schießen. Dieser Zuchthausdirektor aber war ein Mann mit einem Kindergesicht und einem so kindlichen Lächeln, dass mit einem Male meine düstere Spannung einem Freudegefühl wich. Dieser Mensch sah nicht danach aus, als ob er andere Menschen quälen könnte. Es schien mir nicht schwer, mit ihm auszukommen. Er begrüßte auch mich, zwar etwas reserviert, doch mit derselben Freundlichkeit und mit demselben einnehmenden Lächeln wie die andern.
Ich wurde durch lange Korridore nach den Zellenräumen geführt, noch immer die schwere Kette am Bein schleppend. Das Verwaltungsgebäude war von den Zellenräumen durch dreifache, eiserne Gittertüren abgetrennt. Als diese massiven Türen sich mit einem dumpfen Krach hinter mir schlossen, legte sich's wie Blei in meine Glieder. Drau­ßen dunkelte es bereits, hier im Zuchthaus herrschte fast tiefe Finsternis. Nur ein paar 01-lämpchen in den endlos scheinenden Zellenkorridoren wiesen mir und meinen Begleitern die Richtung. Strahlenförmig gingen von dem zentral gelegenen Turm vier hohe Zellenflügel nach jeder Himmelsrichtung.
Wir stiegen eine Reihe eiserner Treppen empor.
Im dritten Stockwerk öffnete einer der mich begleitenden Beamten mit seinen schweren Schlüsseln eine Zelle und deutete an, dass sie für mich bestimmt sei. Ich hatte gar keine Zeit, mich umzusehen, denn er sprach sofort weiter und sagte, das dritte Auto sei leider noch nicht angekommen. In diesem befinde sich der Kriminalkommissar, der die Schlüssel zu der an mein Bein geschlossenen Kette habe, sie könne mir deshalb erst am andern Morgen abgenommen werden. Ich erklärte, es sei unmöglich, mit der schweren Kette am Bein die ganze Nacht zu liegen. Nachdem Hammer, Meißel und Feile herbei geholt waren, hämmerte man fast eine halbe Stunde lang, bis die Fesselung gelöst war.
Die Beamten entfernten sich ohne Gruß. Ich war in meiner Zelle allein. Jetzt erst schaute ich mich um. Es war dunkel in diesem Steinsarge, nur eine im Hofe des Zuchthauses stehende hohe Gaslaterne warf einen blassen, gespenstischen Schein in den kleinen, weißgetünchten Raum. Zu erkennen waren ein winziger Holztisch, darüber ein kleiner Wandschrank, in der einen Ecke eine eiserne Schlafpritsche, in der anderen der unvermeidliche Kübel. Das war Wohnraum, Schlafraum, Essraum und Klosett, alles in einem; drei Schritt lang und knapp zwei Schritt breit. Drunten im Hof patrouillierte mit seinen schweren Stiefeln der Nachtaufseher, sonst war kein Laut, kein Geräusch zu hören in diesem riesigen Bau, in dem, wie ich am nächsten Tag erfuhr, achthundert Gefangene in Einzelzellen vegetierten.
Kaum hatten die Beamten meine Zelle verlassen, durchzuckte ein schmerzhafter Krampf meinen Körper. Es war, als würden mir mit einem Schlag alle Arterien abgebunden, ich hatte ein Gefühl, als ob das Schlagen des Herzens aussetzte. Wie eine schwere Falltür schob sich vor mein Denken nur das eine Wort: »lebenslänglich«. Alle meine früheren Hoffnungen auf eine baldige Änderung meines Schicksals versanken in dem unbeschreiblichen Grauen dieses Wortes.
Ich warf mich auf die eiserne Pritsche - ich war müde und konnte doch nicht einschlafen. Um die drei- und vierfachen Gitter nicht sehen zu müssen, deren Schatten durch das spärliche, vom Hof einfallende Licht auf die Decke der Zelle geworfen wurden, zwang ich mich, die Augen zu schließen. Vier Monate war ich in der Tschechoslowakei im Zuchthaus interniert gewesen, hatte vier Monate in einer so genannten »Mörderzelle« in Moabit zugebracht und doch nie vorher dieses Herz und Hirn zerfressende, furchtbare Grauen empfunden wie in meiner ersten »lebenslänglichen« Zuchthausnacht. Im Untersuchungsgefängnis in Moabit hatten die Nervenanspannung der Untersuchung und die Erwartung des Prozesses mir gar keine Zeit gelassen, über das Schwere meiner Einkerkerung nachzudenken.
Während meiner jahrelangen Illegalität vor meiner Verhaftung hatte ich oft mit meinen Angehörigen und Freunden über die Möglichkeit einer Kerkerhaft gesprochen. Die Freunde behaupteten, ich würde die Einzelhaft nur sehr schwer ertragen.
Ich hatte stets erwidert, dass eine Einsperrung in Einzelhaft mich nicht allzu schwer treffen werde, da ich ein Mensch sei, der sich in der Einsamkeit am wohlsten fühlt. An diese Gespräche musste ich denken, als ich jetzt müde und abgespannt auf der harten Pritsche lag und vergeblich auf den alles Grübeln auslöschenden Schlaf wartete.
Früh am Morgen gellte durch das Gebäude ein schrilles, durchdringendes Läuten, das von einem ohrenbetäubenden Lärm abgelöst wurde. Der Übergang von der unheimlichen Ruhe, die während der ganzen Nacht geherrscht hatte, zu diesem unbeschreiblichen Radau war so krass, dass ich, ganz benommen davon, mir überhaupt nicht erklären konnte, wodurch dieser Spektakel entstand. Erst in den folgenden Tagen fand ich des Rätsels Lösung: Sobald das scharfe Läuten die Gefangenen aus ihren Träumen schreckt, schließen die Aufseher die Zellen der so genannten »Kalfaktoren« auf. Das sind Gefangene in einem etwas höheren Rang und bevorzugter Stellung. Die Kalfaktoren müssen die Gänge und Treppen scheuern und kehren, die Schlösser der Zellentüren putzen, die Kotkübel entleeren, das Essen austeilen und das Trink- und Waschwasser für die Gefangenen vor die einzelnen Zellen stellen. Dafür genießen sie die Vergünstigung, den größten Teil des Tages außerhalb ihrer Zelle zu verbringen.
Die Kalfaktoren haben ihr Tagewerk damit zu beginnen, dass sie die mehrere Pfund schweren Stahlriegel an den Zellentüren der anderen Gefangenen ihrer Station zurückschieben. Je zwei Kalfaktoren stoßen im Vorbeieilen mit aller Kraft - der eine mit dem Fuß den unteren, der andere mit der Faust den oberen Riegel - unter donnerndem Krach zurück. Das Nahen der Kalfaktoren vernimmt der Gefangene schon, wenn sie die in der entferntesten Ecke liegenden Zellenriegel öffnen. Durch die starke Akustik in den Hafträumen und Gängen hört sich das Riegelzurückstoßen wie Donnern an. Dieser Lärm schwillt an, bis auch an der eigenen Zelle unter ohrenbetäubendem Krachen die Riegel zurückfliegen.
So werden jeden Morgen in wenigen Minuten mehr als tausend Riegel geöffnet: Ein nervenzerfressendes Erinnern an das Eingesperrtsein.
Die vier Zellenflügel des Zuchthauses in Münster bestehen aus je fünf Stockwerken, so genannte »Stationen«. Jedes Stockwerk hat vierzig bis fünfzig Einzelzellen, die von einem Beamten aufgeschlossen werden müssen.
In diesem Augenblick muss der Gefangene schon den schweren Steingut-Kotkübel mit beiden Händen bereithalten, um ihn schnell vor die Tür zu stellen und seine Kleider, Schuhe und »Essbesteck« - Gabel und Löffel - hereinzunehmen. Diese Gegenstände liegen vor der Tür auf dem Boden. Sie dürfen nachts nicht in der Zelle sein. Ist das geschehen, verschließt der Beamte wieder die Tür.
Während alle Türen der Zellen auf- und zugesperrt werden, entleeren die Kalfaktoren die Kotkübel. Dann wiederholen die Aufseher ihre Runde. Diesmal nimmt der Gefangene den entleerten
Kotkübel in die Zelle und stellt seinen leeren Wasserkrug vor die Tür. Bald darauf beginnt noch einmal die Tortur des Auf- und Zuschließens. Mit dem gefüllten Wasserkrug wird gleichzeitig das so genannte »Frühstück« in die Zelle genommen. Zwei Kalfaktoren, die kurz vorher die stinkenden Kotkübel entleerten und oberflächlich säuberten, schleppen von Zelle zu Zelle einen großen, etwa sechzig Liter fassenden Blechkessel mit einer schwarzen, undefinierbaren, übel riechenden Brühe, die zu Unrecht den Namen Kaffee trägt. Ein dritter Kalfaktor hat an einem Riemen um den Hals einen großen Korb mit Brotschnitten. Jeder Gefangene erhält neben dem Topf Zichorienbrühe ein Stück Brot von etwa Handtellergröße.
Nachdem ich mein erstes Zuchthausfrühstück verzehrt hatte, bekam ich den Besuch des so genannten »Hausvaters«. Das ist der Beamte, dem die Einkleidung der Gefangenen und die Verantwortung für die Reinigung der Gefangenenleibwäsche übertragen ist. Der Hausvater führte mich in die von starkem Kampfergeruch erfüllte Kleiderkammer. Hier musste ich mich nackt ausziehen. Für meine aus Moabit mitgebrachte Gefängniskleidung erhielt ich die braune Zuchthauskluft. Ehe ich meine Blöße damit bedecken durfte, wurde mein ganzer Körper nach Kassibern, Sägen und anderen gefährlichen und verbotenen Dingen abgesucht. Mit einer für die Beamten peinlichen, für den Gefangenen aber entwürdigenden Gewissenhaftigkeit werden bei dieser Prozedur After, Geschlechtsteile und Fußsohlen abgetastet und besehen.
Kaum hatte man mich neu eingekleideten Zuchthäusler in meine Zelle zurückgebracht, als mich ein anderer Aufseher schon wieder herausholte, um mich den Vorschriften entsprechend dem Anstaltsarzt zuzuführen.
Vor dem Raum, in dem die Gefangenen vom Arzt untersucht werden, standen bereits ein paar Dutzend Sträflinge, darunter einige, die gleich mir am vorhergehenden Tag angekommen waren. Alle mussten sich mit dem Gesicht zur Wand aufstellen. Es war streng verboten, den Kopf zu drehen und die Augen von der Wand abzuwenden oder gar ein Wort mit einem der fünf Schritt voneinander entfernt stehenden Menschen zu sprechen.
Meine Untersuchung bestand darin, dass der Arzt mich fragte, ob ich mich krank fühle; ohne mir zu einer Antwort Zeit zu lassen, sprach er ununterbrochen weiter - er unterhielt sich mit dem Krankenwärter. Und ehe ich überhaupt Gelegenheit hatte, auch nur ein Wort zu sagen, war ich längst wieder draußen auf dem Gang, wo mich der Stationsaufseher in Empfang nahm und in meine Zelle brachte. Er sagte mir, ich solle mich bereithalten, der Direktor verlange mich zu sprechen.
Wenige Minuten später stand ich im Direktionszimmer dem Mann gegenüber, der als oberste Instanz in diesem Haus galt und der am Abend vorher durch sein freundliches Wesen Eindruck auf mich machte. Der Direktor - ein früherer Staatsanwalt, wie er mir sagte, und während des Kriegs Artilleriehauptmann - fühlte sich verpflichtet, mir eine Menge Ermahnungen ans Herz zu legen. Ich solle mich nur gut führen, tüchtig arbeiten, nicht widerspenstig sein, dann werde mir die Zuchthaushaft nicht allzu schwer fallen. Es gäbe Gefangene, die schon zwanzig Jahre und noch länger hier seien und sich ganz wohl fühlten. Bei sehr guter Führung hätte ich vielleicht Aussicht auf Begnadigung nach fünfzehn bis zwanzig Jahren. Auch beim Direktor war der Empfang sehr kurz, auch ihm kam es nicht darauf an, von mir eine Antwort zu erhalten, er leierte bloß seine Formel herunter, und genau wie beim Arzt befand ich mich außerhalb des Zimmers, ehe ich mich dessen versah.
In meiner Zelle wartete schon der Arbeitsinspektor auf mich, dessen Aufgabe es war, mich in das Arbeitsschema des Zuchthauses einzureihen. Er zählte mir die Arbeiten auf, die er zu vergeben hatte, wie: Tütenkleben, Hanfzupfen, Metallknöpfe oder Nägel stanzen; ich könne aber auch einen Beruf lernen; er empfehle mir das Tischlerhandwerk. Auf meine Frage, ob ich dann aus der Zelle heraus und in eine Tischlerwerkstatt käme, antwortete er, nein, ich müsse in der Zelle bleiben. Nach meinen Erfahrungen mit der Anstaltsarbeit in Moabit hätte ich am liebsten die Zuchthausarbeit von vornherein verweigert. Aber ich tat es doch nicht, denn wie sollte ich die Zeit hinbringen ohne irgendeine Beschäftigung, ohne jegliche Ablenkung in der grausamen Monotonie der Einzelhaft.
Ich bat den Arbeitsinspektor, mir eine Beschäftigung zuzuweisen, bei der ich möglichst viel verdiente, um meinen Eltern und meiner Frau etwas
Geld schicken zu können. Er erklärte mir, wenn ich das Tischlerhandwerk erlernte, verdiente ich mehrere Monate gar nichts. Bei einer anderen Arbeit hätte ich sofort Verdienst, und zwar acht Pfennige pro Tag, wovon aber nur vier Pfennige für den Gefangenen während seiner Haftzeit verwendet werden dürfen. Jetzt jedoch gäbe es nicht einmal Beschäftigung für alle Gefangenen, die Anstalt sei überfüllt.
Während des Hin und Her war es Mittag geworden. In großen Kesseln schleppten die Kalfaktoren das Mittagessen von Zelle zu Zelle. Es bestand aus breiig gekochten Hülsenfrüchten; da ich Hülsenfrüchte gern esse, schmeckte mir in den ersten Monaten das Zuchthausessen nicht schlecht.
Nach dem Mittagessen wurde die Zelle wieder aufgeschlossen, ein kleines, altes Männchen in Zivil, von einem Bücher schleppenden Gefangenen begleitet, stellte sich als Anstaltslehrer vor. Zu seinen Obliegenheiten gehörte es, jedem Gefangenen wöchentlich ein Buch zu geben. Er legte mir einen nichts sagenden Roman hin, den ich eine Woche lang jeden Tag zwei- bis dreimal durchlas, nur um nicht zuviel Spielraum zum Grübeln zu haben.
Am Abend gab es eine Wassersuppe, deren Geruch ekelerregend wirkte und die ihrem Geschmack nach das Spülwasser der Mittagessenkessel sein konnte.
Wenige Minuten nach der Verteilung der Suppe erklang wieder das gellende Glockenzeichen, das Signal für die Gefangenen, die Kleider auszuziehen. Der Beamte hatte mich vorher schon darauf aufmerksam gemacht, dass am Abend alle Kleider vor die Tür gelegt werden müssen. Diese Maßnahme, die während meiner ganzen Zuchthausjahre stets einen ungemein entwürdigenden Eindruck auf mich machte, geschieht, um den Gefangenen eine eventuelle Flucht zu erschweren.
Die Sträflinge sind angewiesen, sich sofort nach dem »Abendbrot« ausgezogen auf ihre Pritsche zu legen. Um sieben Uhr abends verlassen die Beamten die Anstalt, und die Nachtwache beginnt ihren Dienst.
Von dieser Stunde an bis sieben Uhr morgens sind die Gefangenen dazu verdammt, auf ihrer Pritsche zu liegen. Das ist viel schlimmer, als es sich in Worten ausdrücken lässt. Gewiss wären Hunderte und Tausende Menschen, die in der Freiheit leben, froh, wenn sie täglich zwölf Stunden Schlaf haben könnten. Aber diese zwölf Stunden auf einer harten Zuchthauspritsche sind etwas ganz anderes als der Schlaf eines Menschen außerhalb der Kerkermauern. Obwohl durch die Pestluft in den Zellen ermüdet, kann der »Sträfling« nicht einschlafen. Grübelnd liegt er oft halbe oder ganze Nächte lang auf seiner eisernen Pritsche. Morgens müssen die Gefangenen, nur mit dem Hemd bekleidet, das kaum bis zum Nabel reicht, vor die Zelle treten und ihre Kleider wieder hereinnehmen.
Am zweiten Tag nach meiner Einlieferung wurde ich zusammen mit den ungefähr vierzig anderen Gefangenen meiner Station auf eine halbe
Stunde in den Hof geführt. Dieses eine halbe Stunde lang im Kreise Herumlaufen ist die so genannte »Freistunde«, die einzige Möglichkeit, die der Gefangene hat, um ein bisschen andere Luft zu atmen und einen Fetzen Himmel zu sehen. In der Mitte des Hofes war ein großer Schuppen gebaut, in dem riesige Stapel Bretter für die Tischlerei lagen, so dass nur ein schmaler Rundgang blieb. Aber auch diese problematische Erholung in der »Freistunde« wurde den Gefangenen noch durch den Rauch und Gestank einer so genannten »Feldschmiede« verleidet, die die Anstaltsschlosser in Betrieb hatten. Kein Strauch, kein Baum, nichts Grünes belebte das trostlose Bild.
Entsetzlich, dieses im Kreise Herumtrotten erwachsener Männer in fünf Schritt Abstand. Alle fünfzehn bis zwanzig Meter steht ein Aufseher, der darauf achtet, dass keiner der Gefangenen auch nur ein Wort zu seinem Vorder- oder Hintermann spricht.
Trotz des strengen Verbots suchen die Gefangenen sich untereinander zu verständigen. Nur geflüsterte Worte oder Gebärden, wie sie die Taubstummen anwenden, vermitteln den Gedankenaustausch von Menschen, die jahrzehntelang in einem Hause Zelle an Zelle wohnen, sich täglich beim »Spazierengehen« sehen und doch nicht miteinander sprechen dürfen.
Hier im Hof vergaß ich ganz meine eigene Lage. Ich musterte interessiert Gesichter und Köpfe dieser Menschen, von denen ich nicht wusste, wie lange sie dazu verdammt waren, in diesen Mauern zu vegetieren, und welcher Gesetzesbruch sie in diesen Steinsarg geführt hatte.
Kaum fünf Meter vor mir lief ein Mann, über dessen Alter ich grübelte. Er war hager und lief auffallend gebückt mit müden, schleppenden Schritten. Bei den Wendungen in den Ecken des Hofes konnte ich sein Gesicht flüchtig betrachten. Aus diesem hageren, vertrockneten und gramdurchfurchten Gesicht streifte mich ein scheuer Blick. Wenn man sie nur einmal gesehen hatte, diese unendlich traurigen Augen, konnte man sie nie wieder vergessen. Sein Haar war schlohweiß, die Gesichtszüge aber jugendlich.
Als nach Beendigung des Rundganges die Gefangenen wieder einzeln im Gänsemarsch in ihre Zellen zurückmarschierten, suchte ich nach einer Gelegenheit, etwas Näheres über meinen Vordermann zu erfahren.
Die geforderten fünf Schritt Abstand lassen sich beim Rückmarsch nicht ordnungsgemäß durchführen. Die Aufseher müssen oft ihre Blickrichtung wechseln, denn der Gänsemarsch gerät bei der Rückkehr in die Zellen immer in Unordnung. Mein Hintermann, der mir mehrmals etwas zuflüsterte, pürschte sich jetzt etwas näher an mich heran und sagte: »Du bist ein Neuer, von wo kommst du?« Ich beantwortete seine Frage nicht, sondern erwiderte: »Wie viel Jahre hat mein Vordermann, und wie lange ist er schon hier?« Er antwortete: »Der hat nur fünf Jahre, hat schon die Hälfte rum.« - Ich forschte weiter und fragte: »Wie alt ist er?«
»Dreiundzwanzig, er hat seinen Knast wegen Meineids.«
Das Schicksal dieses jungen Menschen ließ mich nicht los. Fünf Jahre war eine furchtbar lange Zeit! Die zweieinhalb Jahre hatten ihn bereits gebrochen. Wenn er den Rest seiner Strafe wirklich überstand, kehrte er als Wrack in die Freiheit zurück. Sooft ich in den nächsten Tagen und Wocher meinen Vordermann wieder sah, konnte ich den Gedanken nicht loswerden, dass er das Zuchthaus nicht lebend verlassen werde. Er machte auf mich den Eindruck eines Menschen, der langsam, Schritt für Schritt, in sein Grab hineinsteigt und für alles andere um sich herum kein Interesse mehr aufbringt.
Diese tägliche halbe Stunde im Hof war die einzige Möglichkeit für mich, andere Menschen zu sehen. In die Anstaltskirche ging ich nicht - jeden Sonntagvormittag war Gottesdienst, katholischer und evangelischer. Am Schulunterricht durfte ich nicht teilnehmen, da nur Gefangene bis zu fünfundzwanzig Jahren zugelassen wurden. So niederdrückend und entwürdigend dieses stumme im Kreise Herumtrotten auch war, so sehnte ich mich dennoch täglich dreiundzwanzig Stunden nach diesen dreißig Minuten, in denen ich wenigstens andere Menschen sah.
Schon in den ersten Wochen spürte ich, dass die Zuchthausluft auf mich eine zermürbende Wirkung ausübte. Bei dem Mangel an frischer Luft verfiel ich von Tag zu Tag. Die ersten Merkmale meines körperlichen Verfalls zeigten sich, wenn ich früh vor der Freistunde meine Schuhriemen band. Sobald ich mich bückte, wurde es schwarz vor meinen Augen, und ich fiel hin. Nur mit äußerster Anstrengung konnte ich mich wieder aufrichten. Während ich in den ersten Tagen die dreißig Minuten Hofstunde immer freudig begrüßt hatte, verließ ich jetzt ungern die Zelle, da ich im Hof nach ein paar Runden wie ein Klotz umfiel. Stets nach der Rückkehr aus der Hofstunde bekam ich Kopfschmerzen. Ich hatte das Empfinden, als sei mein Schädel in einen Schraubstock gepresst und werde mit Meißel und Hammer bearbeitet.
Auch die Arbeit, die ich später in die Zelle bekam - ich musste Tüten kleben - brachte mir keine Ablenkung von den körperlichen Beschwerden. (Wer denkt übrigens daran, dass in der Tüte, die er beim Einkaufen in Empfang nimmt, die Qual eines Zuchthäuslers klebt?) Die Nächte wurden zu einer unbeschreiblichen Pein. Ich konnte nicht eine Stunde ruhig schlafen. Kam der Morgen, so fühlte ich mich wie zerschlagen und war todmüde. Der Arzt, der mich flüchtig untersuchte, erklärte, das sei nicht schlimm, das richte sich schon wieder ein.
Während ich vorher das für eine ganze Woche ausgegebene Bibliotheksbuch täglich ein paar Mal las, um mich zu zerstreuen, konnte ich es jetzt kaum noch zur Hand nehmen. Abends, nach Einschluss, war ja das Buch überhaupt zwecklos, da die Zellen nicht beleuchtet waren.

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