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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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»Na, wie geht's euch, ihr Misthaufen?«

Ende August 1927 wurde ich auf Antrag meines Verteidigers von Groß-Strehlitz in das Zuchthaus Sonnenburg überführt. Die große Entfernung von Berlin nach Groß-Strehlitz hemmte empfindlich die Vorwärtstreibung meiner Rechtssache, da der Anwalt durch die lange Reise jedes Mal viel Zeit verlor. Von Berlin nach Sonnenburg, hatte mein Verteidiger eine viel günstigere Verbindung.
Am Tage meiner Überführung von Groß-Strehlitz nach Sonnenburg wurden Sacco und Vanzetti von der amerikanischen Bourgeoisie ermordet. Ich hatte in den letzten fünf Jahren nichts von dem Leben außerhalb der Zuchthausmauern gesehen und freute mich darauf, nach so langer Zeit einmal wieder etwas anderes als die kahle Zuchthauszelle und die uniformierten Automaten vor Augen zu haben. Jedes Freudegefühl aber wurde an diesem Tage verdrängt durch Wut und Grauen über die an den beiden Italienern verübte beispiellose Unmenschlichkeit. Ich konnte es einfach nicht glauben, dass die amerikanische Justiz es wagen würde, Sacco und Vanzetti nach siebenjähriger Folter dem Henker auszuliefern. Gerade dieses jahrelange Hin-und Herschleppen zwischen Kerkerzelle und elektrischem Stuhl war weit entsetzlicher als ein schneller Tod oder als meine eigene siebenjährige Zuchthausqual.
Als eine Herausforderung empfand ich es, dass bei meiner Überführung nach Sonnenburg der Direktor Adamietz die zweitägige Reise mitmachte, um mich, wie er sagte, sicher an Ort und Stelle abzuliefern. Nur die Gegenwart meines Verteidigers hielt mich davon ab, ihm noch einmal meine ganze Verachtung ins Gesicht zu schleudern. Bezeichnend für ihn war, dass er am Tage nach meiner Ankunft in Sonnenburg in meine Zelle kam und mir mit einem Wortschwall einzureden versuchte, dass er eigentlich mein bester Freund sei. Ein paar Wochen später kamen zwei Aufseher, die einen Gefangenentransport von Groß-Strehlitz nach Sonnenburg brachten. Von ihnen erfuhr ich, dass Adamietz, froh, mich los zu sein, am Abend nach seiner Rückkehr ein Fest veranstaltet hatte.
Das Zuchthaus Sonnenburg machte schon aus der Ferne einen anderen Eindruck als die Anstalten in Münster, Breslau und Groß-Strehlitz. Gebäude und Mauern waren geweißt und wirkten dadurch freundlicher. Als wir ankamen, war es noch hell. Der Direktor, dem ich übergeben wurde, war mir nicht unbekannt. Ich hatte ihn in Groß-Strehlitz gesehen, als er dort vierzehn Tage lang vertretungsweise amtierte. Bei meiner Einlieferung behandelte mich einer der Beamten (Schneidau) besonders freundlich und - zum Unterschied vom Direktor in Münster - änderte auch später sein Verhalten nicht: man musste ihn achten, weil er zu allen Gefangenen gleich menschlich und freundlich war. Ebenso wohltuend wie sein Benehmen berührte es mich, dass auf den Tischen und an den Fenstern der Gänge blühende Zimmerpflanzen standen. Einen solchen Anblick war ich nicht gewöhnt. In anderen Anstalten herrschte nicht nur in den Zellen, sondern auch in den Korridoren niederdrückende Nüchternheit.
Meine Zelle war auffallend klein. Ich erklärte, dass es unmöglich sei, meinen Schwitzkasten aufzustellen (ich litt noch immer an Rheumatismus) und meine Turnübungen zu machen. Der Direktor veranlasste, dass ich in der nebenan liegenden Doppelzelle untergebracht wurde. An den Sonntagen durfte ich mich mit vier anderen Genossen in meiner Zelle treffen, während ich an den übrigen Tagen nur eine Stunde im Hofe mit ihnen Zusammensein konnte. Außer mir befanden sich in Sonnenburg noch 27 andere Genossen, von denen einige kurze Zeit später entlassen wurden, da ihre Strafzeit beendet war. In den Genossen lernte ich Menschen kennen, die der Vorstellung entsprachen, die ich mir während der Jahre meiner Abgeschlossenheit von Parteigenossen gemacht hatte, ich fand wertvolle Menschen, unerschrockene, zuverlässige Kämpfer, die sich den Klassenrichtern gegenüber und auch in jahrelanger Haft tapfer verhalten hatten. Bei den Zusammenkünften und sonntags in meiner Zelle erkannte ich zum ersten Mal klar, wie menschenscheu und schwierig ich durch die lange Isolierung und Einzelhaft geworden war.
In Groß-Strehlitz gab es einen dienstergrauten, frommen Beamten- sein Sohn war katholischer Missionar -, den die Gefangenen liebten, weil er seinen Beruf mit mehr Menschenfreundlichkeit ausübte, als im Zuchthaus überhaupt erlaubt war. Dieser Beamte war ein Original. Die Gefangenen, von denen er wusste, dass sie sein Wesen verstanden und ihm daher nichts übel nahmen, begrüßte er immer mit dem derben Ausdruck »Misthaufen«. Auch seine Kollegen redete er in derselben Weise an. Da er einen sehr langen, schwer auszusprechenden Namen hatte, erhielt er selbst im Laufe der Zeit den Spitznamen »Misthaufen«. Dadurch wurde der Ausdruck so populär in der Anstalt, dass es einfach undenkbar war, ihn nicht mindestens jeden Tag ein paar Dutzend Mal zu hören. Die Gefangenen waren direkt von einer »Misthaufen«-Psychose ergriffen, die wir uns nur damit erklären und vor uns selbst entschuldigen konnten, dass wir die tägliche Anwendung dieses und anderer Kraftausdrücke als verschämte Zärtlichkeit deuteten. Auch mir wurde der Ausdruck in Groß-Strehlitz so geläufig, dass ich nach meiner Überführung nach Sonnenburg die dortigen Genossen mit »Na, wie geht's euch, ihr Misthaufen« begrüßte. Die Sonnenburger Genossen waren darüber ganz empört, es kam direkt zu einem kleinen Aufstand gegen mich. Sie hielten meine starken Ausdrücke für anmaßend und verbaten sich diesen Ton.
Die Behandlung der Gefangenen in Sonnenburg war in mancher Hinsicht humaner als in Groß-Strehlitz. Der Präsident des Strafvollzugsamtes Berlin-Brandenburg, dem Sonnenburg unterstellt ist, Geheimrat Finkelnburg, ist ein in der Öffentlichkeit bekannter Reformer des Strafvollzugs. Würden die Zuchthausdirektoren, Inspektionsbeamten, Aufseher und Anstaltsärzte seine Auffassung teilen, dass auch der am tiefsten gesunkene Verbrecher noch Mensch ist und als solcher behandelt werden muss und alle Verbrechen durch soziale Missstände bedingt sind, dann würden die heutigen barbarischen Methoden des Strafvollzugs um vieles gemildert. Finkelnburgs Bemühungen, bei denen er von seinem Dezernenten, Oberjustizrat Lemkes, unterstützt wurde, ist es gelungen, in einigen preußischen Anstalten die gröbsten Schikanen und Misshandlungen der Gefangenen zu unterbinden. In seinem Kern ist das System des Strafvollzugs natürlich dasselbe geblieben. Die Voraussetzung für seine endgültige Beseitigung ist die Überwindung der kapitalistischen Ordnung.
Fast die einzigen Mittel, mich während meiner langjährigen Zuchthaushaft körperlich und geistig elastisch zu erhalten, waren Geräteturnen und Gymnastik. In einigen Anstalten ist das Turnen für die Gefangenen bis zu 20 und 25 Jahren obligatorisch. Wöchentlich ein- oder zweimal dürfen sie für eine halbe oder eine ganze Stunde im Anstaltshof unter Aufsicht der Wärter am Reck, Barren und Sprunggerät turnen und andere Übungen machen. Im Zuchthaus Sonnenburg wurde das Turnen sehr gepflegt. Dort war ein Hauptwachtmeister (Wiehle), der großes Interesse dafür bekundete und der die Aufsicht in der Turnstunde führte. Aber auch hier zeigte sich der hemmende Einfluss der älteren und reaktionären Aufseher wie Kluck, Hentschke und Quietzke, die befürchteten, durch das Turnen werde sich die »Anstaltsdisziplin« lockern, und die den Gefangenen missgönnten, dass sie wegen der Turnübungen über die ihnen zustehende halbe Stunde hinaus im Hof bleiben konnten. Alle Gefangenen sind angewiesen, in ihren Zellen frühmorgens oder abends Gymnastik zu treiben. Davon wird wenig Gebrauch gemacht, weil erstens die Zellen viel zu klein sind, um in ihnen Gymnastik zu treiben, und weil eine eiserne Energie dazu gehört, in einem schlecht gelüfteten, vom Gestank der Kotkübel erfüllten winzigen Raum täglich jahraus jahrein zu turnen oder Atemübungen zu machen. Ich habe in allen Anstalten, in denen ich mich aufhalten musste, versucht, die Gefangenen für den großen gesundheitlichen Wert der Freiübungen zu interessieren. Einige begannen die Übungen mit Begeisterung, ließen aber in ihrer Ausdauer bald nach, da die Zellenluft ungemein schwächend auf den Körper und die Willenskraft einwirkt.
Mich selbst hat außer den Büchern nur regelmä­ßige und systematisch durchgeführte Gymnastik vor Verkalkung und völligem Zusammenbruch gerettet. In den drei Jahrzehnten vor meiner Zuchthaushaft hatte ich leider nie Gelegenheit oder die notwendige Anregung zum Turnen gefunden. Erst im Zuchthaus - und zwar angeregt durch Professor Többen - lernte ich die große Bedeutung und den unschätzbaren Wert - zugleich auch für die Erhaltung der geistigen Frische - der Körperübungen kennen. Ich nahm diese Übungen genau so ernst wie alles andere, was ich anpackte, und erreichte dadurch, dass trotz meiner vierzig Jahre mein fast zusammengebrochener Körper wieder elastisch und leistungsfähig wurde. Während ich vorher oft zwölf Stunden oder sogar ganze Tage lang zur Abfassung einer einzigen Briefseite brauchte, weil ich mich nicht konzentrieren konnte, brachte ich es sechs Monate, nachdem ich mit der Gymnastik begonnen hatte, zu einer Konzentration, die ich früher nie für möglich gehalten hätte. Es machte mir sogar besondere Freude, zu sehen, dass ich die viel jüngeren Gefangenen, denen ich manchmal von meinen Zellenfenstern aus beim Turnen zusah, an Leistungen übertraf. Im Schlusssprung erreichte ich die Höhe von 1,25 m, im Hochsprung 1,65 m, im Weitsprung nahezu 5 Meter. Außerdem übte ich Steinstoßen und täglich eine Viertelstunde Dauerlauf. Früher hatte ich die ganze Nacht nicht schlafen können und furchtbar unter Nachtschweiß gelitten. Jetzt aber konnte ich regelmäßig 3-4 Stunden fest schlafen. Ich sprang früh um vier Uhr von meiner eisernen Schlafpritsche, obwohl die Gefangenen erst um 7 Uhr aufstanden, goss mir ein oder zwei Tonkrüge kaltes Wasser über den Körper, rieb mich ab und machte dann zwei Stunden lang meine gymnastischen Übungen. Anschließend übte ich mich eine halbe Stunde im Boxen, als Partner diente mir ein mit Sand oder Rosshaar gefülltes Kissen, das ich an der Wand befestigt hatte und mit meinen Fäusten bearbeitete. Nach sieben Uhr gab es als Frühstück die lauwarme, stinkende und übelschmeckende Zichorienbrühe und das Stück trockenes Brot. Dann setzte ich mich über meine Bücher und arbeitete bis zur Verteilung der Mittagssuppe. Nachher wurde ich auf eine halbe und später eine ganze Stunde, in Sonnenburg sogar auf zwei Stunden, unter Aufsicht in den Anstaltshof geführt. Das war die »Erholung«, auf die ich mich aber stets freute, weil ich in dieser Zeit, wenigstens in den letzten drei Jahren meiner Haft, etwas turnen konnte.
Die individuellen Möglichkeiten, über das Schwere längerer Zuchthaushaft hinwegzukommen, sind naturgemäß ganz verschieden. Auf jeden Fall braucht der Gefangene irgend etwas, das ihm Freude macht. In einigen Anstalten ist es daher einigen wenigen Insassen, die sich »sehr gut führen«, erlaubt, einen Singvogel in ihrer Zelle zu halten. In Münster, Breslau, Groß-Strehlitz und
Sonnenburg war das nicht gestattet, aber es gelang mir, durchzusetzen, dass wenigstens in Groß-Strehlitz und Sonnenburg einige Gefangene Vögel halten durften.
Jahrelang hatten verschiedene Gefangene versucht, die Erlaubnis zur Anschaffung eines gefiederten Sängers zu erhalten. Ihre Anträge waren immer abgelehnt worden. Um ihnen zu helfen, machte ich folgendes Manöver. Ich stellte sowohl an die Direktion als auch an die Strafvollzugsämter den Antrag, mir zu genehmigen, dass ich in meiner Zelle einen Stieglitz und einen Kanarienvogel halten könne. Die Anträge wurden mehrmals abgelehnt, schließlich aber doch bewilligt. Ich hatte gar nicht die Absicht, selbst Vögel zu halten, da es für mich unerträglich war, die armen Tierchen in einen Käfig zu sperren und in einer düsteren und dumpfen Zelle festzuhalten; ich forderte aber die Gefangenen auf, ihre früheren Anträge zu wiederholen und sich darauf zu berufen, dass ja Hoelz die Genehmigung erhalten habe und diese Vergünstigung deshalb auch anderen gewährt werden müsse. So wurde endlich der langgehegte Wunsch einiger Gefangener erfüllt. Ihre Freude war unbeschreiblich, als sie die Tierchen in ihre Zellen bekamen. Einige machten Luftsprünge und weinten vor Freude. Andere Gefangene hielten sich heimlich Mäuse oder Sperlinge, einer sogar einen Hamster, obwohl das alles streng verboten war. Für sie bedeutete die Fütterung und Pflege dieser Tierchen eine willkommene Abwechslung in der grausamen Monotonie der Einzelhaft, und an diese kleinen Lebewesen verschwendeten sie ihre ganze aufgesparte Zärtlichkeit. Einer baute sich einen großen Glaskasten, den er als Aquarium verwendete. Einmal, mitten in der Nacht, gab es in seiner Zelle einen furchtbaren Krach. Die in dem Kasten enthaltenen über 5 Eimer Wasser hatten die dünnen Glaswände auseinandergesprengt, und die ganze Flut überschwemmte die Zelle.
Der Direktor in Sonnenburg hatte einen ganz besonders schweren Stand, sowohl gegenüber seinen vorgesetzten Behörden als auch gegenüber den Beamten und Gefangenen. Da die Anstalt im Strafvollzugsbezirk Berlin-Brandenburg lag, wurde sie des Öfteren von in- und ausländischen Juristen besichtigt, und die Vollzugsbehörden legten naturgemäß großen Wert darauf, Sonnenburg als Musteranstalt vorzuführen. Nun lagen aber gerade in Sonnenburg eine Anzahl der am schwierigsten zu behandelnden Gefangenen, darunter fast achtzig lebenslängliche, so genannte ganz »schwere Jungen«, wie der Geldschrankknacker Kirsch, der aus dem Magdeburger Mordprozess bekannte Schröder und viele andere. Die Zuchthäuser Brandenburg und Luckau schickten ihre »schwierigsten Fälle« immer nach Sonnenburg, weil sie wussten, dass man dort am ehesten mit ihnen fertig wurde. Der Sonnenburger Direktor versuchte, wenn es irgendwie ging, selbst die widerspenstigsten Gefangenen ohne Härte und Zwangsmaßnahmen in die Anstaltsdisziplin einzureihen. Bei seinen Bemühungen wurde er nur von ganz wenigen Beamten unterstützt. Die meisten sabotierten, wie schon an anderer Stelle erwähnt, die Anordnungen und Wünsche des Direktors, der es schließlich satt bekam und den Strafvollzugsdienst verließ. Er wurde nicht, wie eine gewisse Presse behauptete, strafversetzt, sondern es dauerte sogar sehr lange, ehe sein Wunsch, von seinem Posten enthoben zu werden, erfüllt wurde.

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