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Max Hoelz - Vom »Weißen Kreuz« zur roten Fahne (1929)
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Ich fange an zu beten - Zwei alte Genießer

Die Folge dieses und eines zweiten Auftrittes in meiner Zelle war, dass ich wiederum in die Tobzelle geschleppt wurde, in der ich schon einmal vier Tage lang gelitten hatte. Auch am Morgen meiner zweiten Einlieferung in die Tobzelle besuchte mich Professor Többen. Ich lag am Fußboden auf der stinkenden Matratze. Aber diesmal war ich nicht so entsetzlich verzweifelt, sondern es hatte sich meiner fast eine Art Galgenhumor bemächtigt. Allmählich fing ich an, die Situation zu übersehen und zu beherrschen. Ich hatte mir eine besondere Verteidigungsmethode ausgedacht. Professor Többen - ein großer, auffallend stark beleibter Mann - lehnte sich mit dem Rücken an den Pfosten der offenen Zellentür, schaute auf mich herab und fragte: »Na, Hoelz, wie geht es Ihnen?« Die Hände über der Brust gefaltet, sagte ich, zu ihm aufblickend, ernsthaft und langsam folgendes: »Herr Professor, mir geht es sehr gut. Ich habe wieder angefangen zu beten.«
Professor Többen war starr und sagte: »So, so.« Auf seinem Gesicht malte sich grenzenloses Staunen über die Veränderung, die, wie er glaubte, mit mir vorgegangen war. Er kam ein paar Schritte näher und blickte mich interessiert an. Ich fuhr fort:
»Ja, Herr Professor, ich habe die ganze Nacht mit Inbrunst zu meinem himmlischen Vater gebetet, dass er Sie bei lebendigem Leibe verfaulen lässt.«
Die Wirkung dieser ganz ruhig gesprochenen Worte auf den Arzt war unbeschreiblich. Er sperrte den Mund auf und starrte mich an wie ein Gespenst. Erst nach geraumer Zeit fand er die Sprache wieder und sagte:
»Das wünschen Sie wirklich Ihrem Mitmenschen?«
Ich erwiderte:
»Ja, Herr Professor, ich wünsche, dass Sie ganz langsam, Stück für Stück, lebendig verfaulen.«
Da mich sein Entsetzen so belustigte, dass ich kaum noch ernsthaft bleiben konnte, schien er zu merken, dass ich ihn verhöhnte. Er fragte, ob ich aus der Tobzelle wieder herauswolle. Meine Antwort war: nein, mir gefalle es hier sehr gut und er solle mich hier lassen, solange er Lust habe. Darauf machte er wortlos kehrt.
Am nächsten Morgen wiederholte er die Frage. Ich erklärte, ich dächte gar nicht daran, und freiwillig würde ich überhaupt nicht herausgehen. Man habe mich mit Gewalt hereingeschleppt, man müsse mich auch mit Gewalt wieder herausholen. Das war ihm denn doch zu bunt. Als ich ihm am dritten Tage dasselbe sagte, veranlasste er, dass die Aufseher mich aus der Tobzelle in meine alte Zelle zurücktrugen.
Während der ersten Monate meiner Haft hielt ich den Professor Többen für einen ganz gefühllosen, kaltschnäuzigen Menschen. Ich hatte erfahren, dass er sehr fromm war, und hielt ihn für einen von denjenigen Frommen, die, während sie mit den Lippen beten, mit den Händen ihre Mitmenschen umbringen können. Ich musste meine Ansicht über ihn revidieren. Von Mitgefangenen und von einigen mir wohlwollenden Beamten hörte ich, dass Többen in vielen Fällen ernstlich bemüht war, den erkrankten Gefangenen zu helfen und ihnen Erleichterung zu verschaffen. Nur gelang ihm das nicht immer, weil seine Bemühungen auf Widerstand beim Direktor stießen. Der Professor hatte wiederholt stundenlange Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit dem Direktor, um ihn dazu zu bewegen, harte Strafen, die er über kranke Gefangene verhängt hatte, zurückzunehmen.
Nach meinem vereitelten Entleibungsversuch hatte der Arzt es durchgesetzt, dass ich mit zwei anderen Gefangenen in eine Gemeinschaftszelle verlegt wurde. Dadurch sollte verhindert werden, dass ich einen zweiten Selbstmordversuch machte. Ich sollte in der Gemeinschaft etwas Zerstreuung und Ablenkung finden. Der Raum bestand aus zwei nebeneinander liegenden, sehr kleinen Zellen. Die eine davon benutzten wir drei Mann als Tagesraum, in der andern waren für die Nacht zwei eiserne Pritschen aufgestellt, die kaum Platz hatten. Der dritte Mann musste auf dem Fußboden schlafen. Der eine meiner beiden Zellengenossen war ein ganz ergrauter, dreiundsechzigjähriger Bergmann, der wegen Blutschande mit seiner zwanzigjährigen Tochter zu einem Jahr Zuchthaus verurteilt war; der zweite war ein neunundfünfzigjähriger Weber, von Geburt Holländer, der ebenfalls wegen Blutschande mit seiner achtzehnjährigen Tochter ein Jahr Zuchthaus bekommen hatte.
Der Graukopf, der nahezu sieben Jahrzehnte auf seinem Buckel hatte, sprach den ganzen Tag und auch in der Nacht über nichts anderes als über Frauen und Mädchen, die er schon gehabt hatte und die er nach seiner Freilassung noch haben wollte. Mit Siegermiene erzählte er, dass ihm eigentlich keine Frau und kein Mädchen widerstehen könne und dass er besondere Lockmittel habe, mit deren Hilfe er jede Frau rumkriege. Besonders gern und stolz erzählte er von seinen Erfolgen mittels Petroleum und Brot. Während des Krieges hatte er auf einer größeren Schachtanlage als Lokomotivheizer für eine kleine Werksbahn gearbeitet. Damals war die Zeit der Hungerjahre, in denen die Proletarierfrauen und -kinder um jeden Bissen Brot und jede Kartoffel verzweifelt kämpfen mussten. Brot und auch Petroleum waren begehrte Artikel. Über beides verfügte der alte Schürzenjäger auf Grund seiner Stellung und seiner guten Beziehungen. Petroleum bekam er zum Reinigen und Schmieren der Lokomotive geliefert, und Brot ergaunerte er durch Schleichhandel mit Kohle. Er rechnete mir genau vor, wie oft er für je einen halben Liter Petroleum oder für ein Pfund Brot mit einer Frau geschlafen hatte. Er hielt auf gute Preise und ließ nicht mit sich handeln. Wenn eine Frau seine Forderungen nicht erfüllte, erhielt sie eben kein Brot oder kein Petroleum.
Noch widerlicher aber hörten sich seine Schilderungen an, in denen er berichtete, wie oft und wie sehr er seine Frau in den mehr als vierzig Jahren seiner Ehe geprügelt hatte. Am meisten Spaß hatte es ihm gemacht, wenn er mit dem Feuerhaken in der einen Hand auf sie einschlug und sie mit der anderen Hand an den Haaren schleifte. Zu seiner Entschuldigung führte er an, dass er sie ja immer nur im Suff geprügelt habe.
Nicht viel besser verhielt es sich mit dem andern
Kumpan. Auch sein Denken und Handeln sowie seine Reden waren ganz beherrscht von der sexuellen Begierde.
Die beiden erzählten einander bis in die späte Nacht, ja oft bis in die frühen Morgenstunden hinein ihre sexuellen Erlebnisse mit allen von der Phantasie verklärten Einzelheiten.
Der eine versuchte, da ihm Frauen im Zuchthaus nicht zur Verfügung standen, sich auf gleichgeschlechtlichem Wege zu entspannen. Sein Kumpan war ihm für dieses Liebesspiel zu alt, er wollte etwas Jüngeres und kam deshalb nachts mehrmals leise an mein Lager geschlichen. Er versuchte in der dunklen Zelle mit seinen Händen meine Geschlechtsteile zu fassen. Dabei versprach er flüsternd, dass er für mich alles tun und mir alles geben wolle - Kautabak, Pferdewurst -, und vor allem: er wolle Kassiber für mich aus der Anstalt herausschmuggeln. Das erste Mal glaubte ich, mich plage ein hässlicher Traum. Es dauerte lange, ehe ich begriff, dass der Alte ernstlich versuchte, seine angesammelte Sexualität an meinem Körper loszuwerden. Ich wusste, dass die Anstaltsleitung solche Versuche streng bestrafte, und unterließ deshalb eine Anzeige. In wenigen Wochen sollte er sowieso entlassen werden, er hatte seine Strafe verbüßt. Ich wollte nicht den Anlass zu einer Verlängerung seiner Haft geben.
Die beiden Alten waren starke Alkoholiker und litten sehr unter der Entziehung des Alkohols. Mit allen Mitteln versuchten sie, auch im Zuchthaus Spiritus zu bekommen. In der Anstaltstischlerei wurden für die Politur von Möbeln Lacke verwendet, die Brennspiritus enthielten. Die Kalfaktoren organisierten einen schwunghaften Schleichhandel zwischen den als Tischler arbeitenden und den anderen Gefangenen. Für eine Rolle Kautabak gab es ein geringes Quantum Möbelpolitur. Der eine meiner beiden Zellenkumpane soff dieses fürchterliche Zeug so, wie es war. Er bekam davon furchtbare Magenschmerzen und starkes Erbrechen, aber das scherte ihn wenig, er hatte doch etwas Spiritus in seine Gedärme bekommen. Der andere war gerissener. Er entwickelte beim Destillieren dieser Möbelpolitur eine erstaunliche Routine. Mit Holzkohle, Brot, Zucker und anderen Hilfsmitteln destillierte er geduldig so lange, bis er reinen Spiritus erhielt.
Eines Tages tranken sie sogar das Haarwasser, das mir Justizrat Broh mitgebracht hatte. Meine Befürchtung, dass die beiden sich durch den Genuss dieser Mischung von Seifenwasser und Brennnesselextrakt gründlich den Magen verderben würden, war unnötig, es geschah ihnen nichts; im Gegenteil, ihre Gesichter strahlten, solange sich noch ein Tropfen in der Flasche befand.
Das tägliche Zusammensein von drei Menschen in diesem engen Loch war auf die Dauer unerträglich. Wir drei konnten uns immer nur in einer der Zellen aufhalten, da in der Tageszelle kein Tisch stand, an dem man hätte schreiben oder essen können. Wir mussten unsere Notdurft in einem einzigen Kübel verrichten. Wenn einer auf dem Kübel saß, dann war es für die anderen kaum auszuhalten, ein so widerlicher Gestank verbreitete sich in dem kleinen Raum. Es gab Tage, an denen wir uns nach Genuss von schlechtem Brot oder einer den Stoffwechsel besonders fördernden Mittagssuppe fast ununterbrochen auf dem Kübel ablösten. Dann wurde der Gestank zu einer wahren Höllenqual. Hinzu kam noch, dass der Deckel des Kübels schlecht schloss. Fast alle Kübel waren beschädigt und halb zerbrochen.
Ich hatte die Absicht, die Direktion zu bitten, mich wieder in eine Einzelzelle zu legen, tat das aber doch nicht, um bei den anderen Gefangenen den Eindruck zu vermeiden, als halte ich mich für zu gut, mit kriminellen Gefangenen zusammen zu sein. Außerdem bot mir diese mich peinigende Gemeinschaft sozialen Anschauungsunterricht.
Die Väter meiner beiden Zellengenossen waren - wie sie mir erzählten - ebenfalls Trinker gewesen. Wahrscheinlich ließen sich die abnorme sexuelle Veranlagung und die Trunksucht der beiden auf die elenden Verhältnisse in ihrer Kindheit zurückführen.
Meinen Versuchen, sie im Sinne der Arbeiterbewegung zu beeinflussen, kamen die beiden Kriminellen sehr entgegen. Ich konnte in den letzten Wochen unseres Beisammenseins stundenlang mit ihnen debattieren, hatte dabei aber doch den Eindruck, dass sie nach der Entlassung sofort ihr altes Leben wieder aufnähmen. Sie waren zu alt zum Umlernen und hatten nur noch ein Lebensziel: sich die letzten paar Jahre möglichst gut zu amüsieren.
Wir drei Gefangenen wurden mit dem Wenden von gebrauchten Briefumschlägen beschäftigt, eine Arbeit, der man beim besten Willen kein Interesse abgewinnen konnte. Die zwanzig bis dreißig Pfennige, die ein Gefangener im Monat dafür verdiente, reichten nicht einmal fürs Briefporto. Deshalb verweigerte ich diese Arbeit und beschäftigte mich lieber mit dem Studium philosophischer Werke und der Geschichte des Sozialismus von Max Beer, die mir endlich nach monatelangem Warten ausgehändigt wurde.

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