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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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NEUNTES KAPITEL

Das Auge des Seeungeheuers quillt trübrot hervor, groß wie ein Katzenkopf, seine Mitte ist grünlich, sie glüht und schillert lebendig. Das Ungeheuer greift um sich mit Dutzenden von Fangarmen, die sich gleich einem Schlangenknäuel winden; widerwärtig raschelt die schuppige Haut. Es bewegt sich. Pawel sieht es direkt vor seinen Augen. Die Fangarme gleiten über seinen Körper hin, sie sind kalt und stechen wie Brennesseln. Das Ungeheuer streckt einen Saugarm aus und klammert sich wie ein Blutegel an seinem Kopf fest, zieht sich dann krampfhaft zusammen und saugt ihm das Blut aus. Er fühlt, wie das Blut aus seinem Körper in den sich aufblähenden Rumpf des Ungeheuers hinüberrinnt. Und der Saugarm … zieht und zieht, und da, wo er sich an seinem Kopf festgesaugt hat, sticht ein unerträglicher Schmerz.
Irgendwo, weit, weit weg, vernimmt er menschliche Stimmen:
»Wie ist jetzt sein Puls?«
Und noch leiser antwortet eine andere, eine weibliche Stimme:
»Puls 138. Temperatur 39,5. Phantasiert fortwährend.«
Das Ungeheuer ist verschwunden, aber der von dem Saugarm verursachte Schmerz ist geblieben. Pawel spürt, dass ihn jemand am Handgelenk faßt. Er versucht die Augen zu öffnen, aber seine Lider sind so schwer, dass die Kräfte nicht ausreichen, sie aufzureißen. Weshalb ist ihm nur so heiß? Die Mutter hat offenbar den Ofen geheizt. Und wieder wird irgendwo gesprochen: »Jetzt hat er 122 Puls.«
Er versucht abermals die Lider zu öffnen. In seinem Innern brennt es wie Feuer. Drückend schwül ist ihm.
Trinken! Oh, wie gern möchte er trinken! Gleich wird er aufstehn und sich satt trinken. Aber weshalb steht er nicht auf? Er will sich bewegen, jedoch sein Körper versagt ihm den Dienst, will ihm nicht gehorchen, ist nicht sein Körper. Gleich wird ihm die Mutter Wasser bringen. Er wird ihr sagen: »Gib mir Wasser.« Irgend etwas bewegt sich neben ihm. Schleicht sich da nicht wieder das Ungeheuer heran? Ja, da ist es. Da ist das rote Licht seines Auges …
Aus der Ferne kommt eine leise Stimme:
»Frossja, bringen Sie Wasser!«
Wer heißt denn nur so? Pawel strengt sein Gedächtnis an. Aber diese Anstrengung wirft ihn aufs neue in die Nacht zurück. Dann kommt er wieder zu sich und entsinnt sich: »Ich möchte trinken.«
Er vernimmt Stimmen:
»Er scheint das Bewusstsein zu erlangen.«
Und dann noch deutlicher, ganz nahe, eine zarte weibliche Stimme:
»Will unser Kranker trinken?«
Bin ich wirklich krank, oder meint man nicht mich? Ach, ich habe wohl Typhus, das wird es sein! Und zum dritten Mal bemüht er sich, die Lider zu öffnen. Endlich gelingt es ihm. Das erste, was er wahrnimmt, ist ein roter Kreis über seinem Kopf, aber da verdeckt irgend etwas Dunkles diesen Kreis, dieses dunkle Etwas beugt sich über ihn, und seine Lippen spüren den harten Rand eines Glases und Feuchtigkeit, belebende Feuchtigkeit. Das Feuer da drinnen erlischt. Befriedigt flüstert er:
»Jetzt ist's gut.«
»Können Sie mich sehen?«
Diese Frage richtet das dunkle Etwas an ihn, das sich über ihn beugt, und schon im Halbschlaf, vermag er noch zu antworten:
»Nein, ich höre nur … «.«
»Wer hätte geglaubt, dass er's übersteht. Hat sich aber doch wieder hochgerappelt. Ein erstaunlich kräftiger Organismus. Sie, Nina Wladimirowna, können stolz darauf sein. Sie haben ihm das Leben gerettet!«
Und die Frauenstimme antwortet erregt:
»Oh, ich bin sehr glücklich!«
Nach dreizehntägiger Besinnungslosigkeit hatte Kortschagin das Bewusstsein wiedererlangt.
Der junge Körper hatte nicht sterben wollen, und jetzt kehrten ihm allmählich die Kräfte wieder. Er war zum zweiten Male geboren, alles erschien ihm neu und ungewöhnlich. Nur sein Kopf lag unbeweglich mit unüberwindlicher Schwere in einem Gipsverband, er hatte nicht die Kraft, ihn zu bewegen, hatte aber bereits wieder ein Gefühl für seinen Körper, und seine Finger ließen sich schon krümmen und strecken.
Nina Wladimirowna, eine Ärztin des Kriegslazaretts, saß in ihrem quadratischen Zimmer an einem kleinen runden Tisch und blätterte in einem dicken, violett eingeschlagenen Heft. Darin waren mit zierlicher, schräger Schrift kurze Notizen eingetragen:

26. August 1920
Heute brachte uns der Sanitätszug eine Gruppe Schwerverwundeter. In das Bett in der Ecke beim Fenster hat man einen Rotarmisten mit schwerer Schädelverletzung gelegt. Er ist erst siebzehn Jahre alt. Man händigte mir ein Päckchen Dokumente aus, die in seinen Taschen gefunden wurden und zusammen mit ärztlichen Gutachten in einem Kuvert liegen. Er heißt Pawel Andrejewitsch Kortschagin. Unter den Papieren waren ein abgegriffenes Mitgliedsbuch des Kommunistischen Jugendverbandes der Ukraine, das die Nr. 967 trägt, ein zerfetztes Rotarmistenbuch und ein Auszug aus einem Regimentsbefehl. In dem Auszug heißt es, dass dem Rotarmisten Kortschagin besondere Anerkennung für vorbildliche Durchführung eines Spähauftrags ausgesprochen wird. Und dann noch eine Notiz, offenbar vom Besitzer selbst:
Ich bitte die Genossen, im Fall meines Todes meinen Angehörigen davon Mitteilung zu machen. Adresse: Stadt Schepetowka, Depot, Schlosser Artjom Kortschagin.
Der Verwundete ist seit seiner Verletzung durch einen Granatsplitter, seit dem 19. August, ohne Besinnung. Morgen wird ihn Anatoli Stepanowitsch untersuchen.

27. August
Heute wurde Kortschagins Wunde untersucht. Sie geht sehr tief. Die Schädeldecke ist durchgeschlagen und dadurch die ganze rechte Kopfhälfte gelähmt. Im rechten Auge ist ein Bluterguss. Das Auge ist geschwollen. Anatoli Stepanowitsch wollte das Auge entfernen, um einer Entzündung vorzubeugen. Ich habe ihm jedoch zugeredet, das nicht zu tun, solange noch Aussicht auf Rückgang der Geschwulst besteht. Er war einverstanden.
Sollte der Junge am Leben bleiben, wäre es schade, ihn durch Entfernung des Auges zu verunstalten.
Der Verwundete phantasiert fortwährend, wirft sich hin und her. Man muss die ganze Zeit bei ihm wachen. Ich widme ihm viel Zeit. Er ist noch so jung, und ich möchte ihn um jeden Preis am Leben erhalten.
Gestern war ich nach meiner Ablösung einige Stunden bei ihm im Krankensaal. Er ist unser schwerster Fall. Ich höre mir seine Fieberphantasien an. Manchmal phantasiert er, als ob er erzählte. Ich erfahre viel aus seinem Leben, aber manchmal flucht er fürchterlich. Dieses Geschimpfe ist abscheulich. Aus irgendeinem Grund tut es mir weh, so schreckliche Schimpfworte aus seinem Munde zu hören.
Anatoli Stepanowitsch sagt, dass er nicht am Leben bleiben wird. Der Alte brummte ärgerlich:
»Ich verstehe nicht, wie man halbe Kinder in die Armee aufnehmen kann. Das ist unerhört.«

30. August
Kortschagin hat das Bewusstsein noch immer nicht wiedererlangt. Er liegt in einem besonderen Raum, im Sterbezimmer. Fast ununterbrochen sitzt die Sanitäterin Frossja an seinem Bett. Wie sich herausgestellt hat, ist er ein alter Bekannter von ihr. Sie haben vor langem einmal zusammen gearbeitet. Mit welch rührender Aufmerksamkeit sie diesen Verwundeten pflegt! Jetzt empfinde auch ich, dass seine Lage hoffnungslos ist!

2. September
Elf Uhr abends. Ich habe einen wundervollen Tag hinter mir. Mein Patient Kortschagin ist wieder bei Bewusstsein, ist zum Leben erwacht. Das Schlimmste hat er hinter sich. In den letzten zwei Tagen bin ich nicht nach Hause gegangen.
Ich kann gar nicht sagen, wie unendlich froh ich bin, dass wieder einer gerettet ist. In unserem Saal wird es einen Toten weniger geben! Das Schönste in meiner aufreibenden Arbeit ist die Wiedergesundung der Kranken. Sie hängen an mir wie kleine Kinder.
Ihre Freundschaft ist aufrichtig und einfach, und manchmal muss ich sogar beim Abschiednehmen weinen. Das klingt ein wenig komisch, aber es ist so.

10. September
Kortschagin hat mir heute den ersten Brief an seine Angehörigen diktiert. Er schreibt, dass er leicht verwundet war, bald wieder gesund sein und sie besuchen werde.
Er hat viel Blut verloren, ist bleich wie Wachs und noch sehr schwach.

14. September
Kortschagin hat zum ersten Mal gelächelt. Er hat ein gutes Lächeln. Im allgemeinen ist er viel rauer, als es seinem Alter entspricht. Er erholt sich erstaunlich schnell. Frossja und er sind gute Freunde. Ich sehe die Sanitäterin oft an seinem Bett. Sie hat ihm anscheinend von mir erzählt, mich natürlich übertrieben gelobt, und der Patient empfängt mich immer mit einem kaum merklichen Lächeln. Gestern hat er gefragt:
»Was haben Sie da für dunkle Flecke am Arm, Frau Doktor?«
Ich habe ihm verschwiegen, dass dies die Spuren seiner Finger sind, mit denen er mir während seiner Fieberphantasien schmerzhaft den Arm gepresst hat.

17. September
Kortschagins Stirnwunde heilt gut. Wir Ärzte müssen immer wieder über die grenzenlose Geduld staunen, mit der sich der Verwundete den Verband wechseln lässt.
Gewöhnlich ist das eine Angelegenheit, bei der die Patienten viel jammern und angeben. Dieser Junge aber schweigt, und wenn man ihm die freigelegte Wunde mit Jod betupft, strafft er sich wie eine Saite. Er verliert häufig das Bewusstsein. Während der Behandlung haben wir ihn nicht ein einziges Mal stöhnen hören.
Alle wissen schon: Wenn Kortschagin stöhnt, hat er das Bewusstsein verloren. Woher er diese Standhaftigkeit hat, ist mir unbegreiflich.

21. September
Kortschagin ist heute zum ersten Mal im Krankenwagen auf den großen Balkon des Lazaretts gefahren worden. Wie hat er den Garten angeschaut, mit welcher Gier die frische Luft eingesogen! In seinem mit Mullbinden umwickelten Kopf liegt nur ein Auge offen. Dieses schimmernde, bewegliche Auge hat sich die Welt betrachtet, als habe es sie zum ersten Mal erblickt.

26. September
Heute wurde ich nach unten, ins Empfangszimmer, gerufen, in dem zwei junge Mädchen auf mich zukamen. Die eine ist sehr schön. Sie baten darum, Kortschagin besuchen zu dürfen. Sie heißen Tonja Tumanowa und Tatjana Buranowskaja. Der Name Tonja ist mir bekannt. Kortschagin hat ihn manchmal in seinen Fieberphantasien erwähnt. Ich habe ihnen den Besuch gestattet.

8. Oktober
Kortschagin ist heute zum ersten Mal allein im Garten spazierengegangen. Wiederholt fragt er mich, wann er aus dem Lazarett entlassen wird. Ich antworte ihm:
»Bald.« Die zwei Freundinnen kommen an jedem Besuchstag zu ihm. Jetzt weiß ich, warum er nicht gestöhnt hat und überhaupt nicht stöhnt. Auf meine Frage sagte er mir:
»Lesen Sie den Roman ,Die Stechfliege', dann wissen Sie es.«

14. Oktober
Kortschagin ist aus dem Lazarett entlassen. Wir haben uns sehr herzlich voneinander verabschiedet. Der Verband am Auge ist abgenommen, nur die Stirn ist noch verbunden. Das Auge ist erblindet, aber es ist nichts zu merken. Mir war sehr traurig zumute, als ich mich von diesem Patienten trennte.
So ist es immer: Erst heilt man sie, dann gehen sie von uns und begegnen uns womöglich nie mehr. Beim Abschied meinte er:
»Besser wäre es schon, wenn das linke Auge erblindet wäre. Wie soll ich denn jetzt schießen?«
Er hat sich die Front immer noch nicht aus dem Kopf geschlagen.

In der ersten Zeit nach seiner Entlassung aus dem Lazarett wohnte Pawel bei Buranowski, wo auch Tonja wohnte.
Er bemühte sich sofort, Tonja zur gemeinsamen Arbeit heranzuziehen, und forderte sie auf, mit ihm eine Stadtversammlung des Kommunistischen Jugendverbandes zu besuchen. Tonja war einverstanden. Als sie jedoch aus dem Zimmer kam, wo sie sich angekleidet hatte, biss sich Pawel auf die Lippen; sie war betont elegant gekleidet. Er konnte sich nicht entschließen, sie so zu seinen Genossen mitzunehmen.
Und so kam es zu der ersten Auseinandersetzung.
Auf seine Frage, weshalb sie sich so aufgedonnert habe, erwiderte sie gekränkt:
»Ich pflege mich eben nie der Masse anzupassen. Wenn es dir unangenehm ist, so mit mir zu gehen, bleibe ich einfach zu Hause.«
Auch im Klub war es ihm peinlich, wenn sie, derart aufgeputzt, von den verschossenen Jacken und Blusen abstach. Für die Kameraden war Tonja ein Eindringling. Sie spürte das und antwortete darauf mit verächtlichen und herausfordernden Blicken.
Der Komsomolsekretär vom Güterkai, der Hafenarbeiter Pankratow, ein breitschultriger Bursche in grobem Leinenhemd, nahm Pawel beiseite. Er schaute ihn unfreundlich an, und mit einem Seitenblick auf Tonja sagte er:
»Dieses Püppchen da hast du wohl mitgebracht?«
»Ja, ich«, antwortete Kortschagin hart.
»Hm … ja …«, sagte Pankratow gedehnt.
»Sie sieht ja nicht gerade so aus, als ob sie zu uns passen würde. Das riecht nach Bourgeoisie. Wie hat man sie überhaupt hereingelassen?«
Pawel hämmerte es in den Schläfen.
»Das ist meine Genossin, und ich habe sie hergebracht. Verstehst du? Sie ist uns nicht feindlich gesinnt. Nur, wie sie sich anzieht, das ist freilich nicht angebracht. Wir dürfen aber doch die Menschen nicht nur nach ihrer Kleidung beurteilen. Ich weiß selbst, wen ich hierher mitbringen kann. Deine Bemerkungen kannst du dir also sparen, Genosse.«
Er wollte noch etwas Grobes hinzusetzen, beherrschte sich aber, da er verstand, dass Pankratow nur die allgemeine Meinung ausdrückte. Er übertrug deshalb seine ganze Empörung auf Tonja.
»Ich habe es ihr doch gesagt! Wozu, zum Teufel, dieser ganze Staat?«
An diesem Abend erhielt ihre Freundschaft einen tiefen Riss. Mit Schmerz und Verwunderung beobachtete Pawel, wie diese anscheinend so feste Freundschaft in die Brüche ging.
Es verstrichen noch einige Tage, und jede Begegnung, jedes Gespräch brachte größere Entfremdung und eine dumpfe Feindseligkeit in ihre Beziehungen. Der Individualismus Tonjas wurde Pawel immer unerträglicher.
Beide begriffen, dass der Bruch unvermeidlich war.
Heute waren sie in den mit totem braunem Herbstlaub bedeckten Park gegangen, um zum letzten Mal miteinander zu sprechen. Sie standen auf der Balustrade über dem steilen Abhang, tief unter ihnen schimmerten die grauen Wassermassen des Dnepr. Unter dem Riesenbau der Brücke hervor kroch ein Schleppdampfer stromaufwärts. Müde schlug er mit seinen Radschaufeln das Wasser und zog zwei bauchige Lastkähne nach sich. Die untergehende Sonne färbte die Truchanow-Insel mit goldenen Pinselstrichen und spiegelte sich rot in den Scheiben der Häuschen wider.
Tonja schaute auf die goldenen Strahlen und sagte tief traurig:
»Soll unsere Freundschaft wirklich so verlöschen wie jetzt die Sonne?«
Er blickte sie unverwandt an; jetzt zog er die Brauen zusammen und erwiderte leise:
»Tonja, wir haben schon darüber gesprochen. Du weißt doch, dass ich dich geliebt habe, und auch jetzt noch kann meine Liebe zu dir wiederkehren. Aber dazu müsstest du mit uns gehen. Ich bin heute nicht mehr der Pawluscha von damals. Und ich würde dir auch ein sehr schlechter Mann sein, wenn du der Ansicht bist, dass ich erst dir und dann der Partei gehören soll. Ich werde aber zuerst der Partei, dann dir und den anderen mir Nahestehenden gehören.«
Tonja schaute schwermütig auf den Fluss, ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Pawel betrachtete das ihm so vertraute Profil, die dichten kastanienbraunen Haare, und eine Welle heißen Mitleids mit diesem Mädchen, das ihm einstmals so teuer und nahe gewesen war, stieg in seinem Herzen auf.
Behutsam legte er seine Hand auf ihre Schulter.
»Befreie dich von allem, was dich hemmt. Komm zu uns, hilf mit, wenn wir mit den großen Herren Schluss machen. Es gibt viele prächtige Mädels bei uns, die alle Lasten unseres harten Kampfes, alle Entbehrungen gemeinsam mit uns tragen. Sie sind vielleicht nicht so gebildet wie du, aber warum, warum willst du nicht mit uns gehen? Du sagst, dass dich Tschushanin mit Gewalt nehmen wollte. Aber der ist doch ein übler Lump, kein Kämpfer. Du sagst, man hat dich unfreundlich empfangen, aber warum hast du dich wie zu einem Ball herausgeputzt? Der Hochmut hat dich gepackt. Du wolltest dich nicht den schmutzigen Arbeitskitteln anpassen. Du hast den Mut gefunden, einen Arbeiter zu lieben, aber unsere Idee zu lieben geht über deine Kraft. Die Trennung von dir tut sehr weh, und ich möchte dich in guter Erinnerung behalten.«

Tags darauf sah Pawel auf der Straße einen Befehl angeschlagen, der die Unterschrift »Shuchrai, Tschekavorsitzender des Gouvernements« trug. Pawels Herz begann zu klopfen. Mit großer Mühe verschaffte er sich Zutritt zu dem Matrosen. Man wollte ihn nicht einlassen. Er machte einen derartigen Krach, dass die Posten ihn schon festnehmen wollten. Trotzdem drang er vor.
Das Wiedersehen mit Fjodor war sehr herzlich. Shuchrai hatte durch eine Granate einen Arm verloren. Die beiden verständigten sich sofort über Pawels weitere Arbeit.
»Wir werden hier gemeinsam gegen die Konterrevolution kämpfen, solange du nicht imstande bist, an die Front zu gehen. Komm gleich morgen her«, sagte Shuchrai. -
Der Kampf mit den weißen Polen war zu Ende. Die Roten Armeen, die fast vor den Toren Warschaus gestanden hatten, konnten, da sie all ihre materiellen und physischen Kräfte erschöpft hatten und von ihrer Basis losgerissen waren, das letzte Hindernis nicht nehmen und gingen zurück. Es geschah das »Wunder an der Weichsel«, wie die Polen den Rückzug der Roten von Warschau nannten. Das weiße Polen der Pans blieb bestehen. Der Traum von einer Polnischen Sozialistischen Republik sollte noch nicht in Erfüllung gehen.
Unser Land, das so viel Blut vergossen hatte, verlangte nach einer Atempause.
Pawel konnte seine Angehörigen nicht besuchen, da das Städtchen Schepe-towka wieder von den Polen besetzt worden war und zeitweise die Frontgrenze bildete. Die Friedensverhandlungen waren im Gange. Pawel war Tag und Nacht in der Tscheka, wo er verschiedene Aufträge ausführte. Er wohnte in Fjodors Zimmer. Als Pawel von der Besetzung seiner Heimatstadt durch die Polen erfuhr, wurde er traurig.
»Das heißt also, Fjodor, dass nun meine Mutter im Ausland bleiben wird, wenn der Friedensvertrag die Grenzen beibehält?«
Aber Fjodor beruhigte ihn.
»Wahrscheinlich wird die Grenze am Fluss Goryn verlaufen, so dass die Stadt noch in unseren Händen bleibt. Das werden wir ja bald erfahren.«
Von der polnischen Front wurden Divisionen nach dem Süden geworfen. Die Atempause ausnutzend, war Wrangel aus der Krim hervorgekrochen. Und während die Republik alle Kräfte an der polnischen Front anspannte, waren die Wrangel-Leute nordwärts, den Dnepr entlang vorgedrungen, um zum Jekaterinoslawer Gouvernement durchzubrechen.
Um dieses letzte konterrevolutionäre Nest auszuheben, warf das Land, das den Krieg mit Polen beendet hatte, seine Armeen nach der Krim.
Durch Kiew fuhren Militärtransporte nach Süden, beladen mit Menschen, Fuhrwerken, Feldküchen, Geschützen. In der Distriktstelle der Tscheka für das Transportwesen wurde fieberhaft gearbeitet. Durch den großen Andrang von Eisenbahnzügen entstanden immer wieder Stockungen, und so konnte es vorkommen, dass die Bahnhöfe völlig überfüllt waren und der Eisenbahnverkehr unterbrochen wurde, da nicht eine einzige Strecke frei war. Die Telegrafenapparate spuckten jedoch lange Streifen mit ultimativen Telegrammen aus. Alle enthielten den Befehl, die Strecke für diese oder jene Division frei zu machen. Endlose Streifen mit Zeichen besprenkelter Bänder krochen da heraus, und stets hieß es darin: »Sehr dringend …«, »Heeresbefehl …«, »Die Strecke unverzüglich frei machen …«, und fast in jedem Telegramm war angegeben, dass bei Nichterfüllung des Befehls die Schuldigen vor das Revolutionäre Kriegstribunal gestellt würden.
Und die Distriktstelle der Tscheka war für die Transportstockungen verantwortlich.
Hier trafen die Truppenkommandeure ein, fuchtelten mit den Pistolen und verlangten die unverzügliche Weiterbeförderung ihrer Transporte laut diesem oder jenem Telegramm des Armeebefehlshabers, mit Nummer soundso.
Keiner von ihnen wollte zur Kenntnis nehmen, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit war.
»Hol euch der Kuckuck mit all euren Argumenten. Wir müssen weiter!«
Und dann ging jedes Mal ein fürchterliches Geschimpfe los. In besonders komplizierten Fällen musste Shuchrai herbeigeholt werden. Und die Leute, die soeben noch getobt und einander mit Erschießen gedroht hatten, verstummten.
Die hünenhafte Gestalt Shuchrais, seine Kaltblütigkeit, seine feste Stimme, die keinen Widerspruch duldete, zwangen sie, die Waffen wieder in die Taschen zu stecken.
Pawel verließ immer mit bohrenden Kopfschmerzen seine Arbeitsstelle. Die Arbeit in der Tscheka hatte verheerende Auswirkungen auf seine Nerven.
Eines Tages bemerkte Pawel auf einem mit Munitionskästen beladenen offenen Güterwagen Serjosha Brusshak. Der sprang vom Waggon herab ihm entgegen und hätte Pawel dabei um ein Haar zu Boden gerissen.
»Pawka, du Teufelskerl, ich hab dich sofort erkannt.«
Die Freunde wussten gar nicht, wonach sie einander zuerst fragen, was sie sich zuerst erzählen sollten; hatten sie doch in dieser Zeit so viel erlebt! Hastig stellten sie gegenseitig Fragen und beantworteten sie selber, ohne die Antwort des anderen abzuwarten. Sie überhörten das Pfeifen der Lokomotive, und erst als sich der Zug langsam in Bewegung setzte, rissen sie sich aus ihrer Umarmung los.
Was war da zu machen? Sie mussten sich wieder trennen, der Zug fuhr schon schneller. Serjosha schrie dem Freund noch etwas zu, rannte, um nicht zurückzubleiben, den Bahnsteig entlang und klammerte sich an der offenen Tür eines Güterwagens fest; mehrere Hände griffen nach ihm und zogen ihn hinein. Pawel stand auf dem Bahnsteig und starrte ihm nach. Jetzt erst erinnerte er sich, dass Serjosha nichts von Waljas Tod wusste. Serjosha war ja nicht mehr in der Heimatstadt gewesen. Und Pawel, völlig aufgewühlt von der Begegnung, war nicht dazu gekommen, es ihm zu sagen.
Mag er ruhig fahren, es ist besser, dass er nichts weiß, dachte Pawel.
Bereits eine Woche später fand Serjosha Brusshak beim ersten Gefecht in der herbstlichen ukrainischen Steppe den Tod. Eine aus der Ferne kommende verirrte Kugel hatte ihn getroffen.

Die nervenaufreibende Arbeit in der Tscheka unterwühlte Pawels noch nicht gefestigte Gesundheit. Er hatte häufig Schmerzen, und nach zwei durchwachten Nächten wurde er ohnmächtig. Jetzt wandte er sich an Shuchrai.
»Was meinst du, Fjodor, wird's nicht richtiger sein, wenn ich eine andere Tätigkeit übernehme? Ich möchte sehr gern wieder in meinem Beruf arbeiten, in den Hauptwerkstätten. Ich habe das Gefühl, dass ich den Aufgaben hier nicht ganz gewachsen bin. In der Ärztekommission hat man mir gesagt, ich sei kriegsuntauglich. Hier ist es aber schlimmer als an der Front. Die zwei Tage jetzt, in denen wir die Sutyr-Bande liquidierten, haben mich ganz heruntergebracht. Ich muss mich von den Schießereien erholen. Du siehst doch ein, Fjodor, dass ich - wenn ich mich kaum auf den Beinen halten kann - ein schlechter Tschekist bin.«
Shuchrai blickte Pawel besorgt an.
»Ja, gut schaust du nicht aus. Wir hätten dich schon früher von diesem Posten befreien sollen, aber da bin ich selber schuld, habe vor lauter Arbeit nicht darauf geachtet.«
Das Ergebnis dieser Unterredung war, dass sich Pawel mit einem Schreiben zum Gouvernementskomitee des Komsomol begab. In diesem Schreiben hieß es, dass Kortschagin dem Komitee zur Verfügung gestellt werde.
Ein lebhafter junger Bursche mit keck in die Stirn geschobener Mütze überflog das Papier und nickte Pawel fröhlich zu:
»Du kommst von der Tscheka? Bitte schön, Arbeit kannst du im Handumdrehen kriegen. Bei uns herrscht geradezu Hunger nach Leuten. Wohin willst du denn? Willst du in die Gouvernementskommission für Ernährung? Nein. Nun, dann nicht. Vielleicht zur Agitationsstelle im Hafen? Nein? Ganz im Unrecht! Ein angenehmes Plätzchen, mit Extraration.«
Pawel unterbrach den Burschen.
»Ich will zur Eisenbahn, in die Hauptreparaturwerkstätte.«
Der andere schaute ihn verwundert an.
»In die Hauptreparaturwerkstätte? Hm … dort brauchen wir jetzt keine Leute. Weißt du was, geh zu Rita Ustinowitsch. Sie wird dich schon irgendwo unterbringen.«
Nach einer kurzen Unterredung mit dem braungebrannten Mädchen wurde beschlossen, dass Pawel als Komsomolsekretär in die Reparaturwerkstätte gehen und dort gleichzeitig seinen Beruf ausüben sollte.

An den Toren der Krim, am schmalen Zugang zur Halbinsel, der alten Grenzscheide, die einstmals die Krimtataren von den Saporoger Kosakensiedlungen getrennt hatte, lag das Bollwerk der Weißgardisten - Perekop -, furchterregend
durch seine neu ausgebauten Befestigungen.
Hinter Perekop, in der Krim, suchten die Überreste der dem Untergang geweihten alten Welt im Rausch des Weines Vergessen; aus allen Ecken und Enden des Landes waren sie hierher geflüchtet; hier wiegten sie sich in völliger Sicherheit.
In einer feuchtkalten Herbstnacht stiegen Zehntausende von Söhnen des werktätigen Volkes in das kalte Wasser der Meerenge, um nachts den Siwasch-See zu durchqueren und dem in der Festung verschanzten Feind in den Rücken zu fallen. Unter diesen Tausenden befand sich auch Iwan Sharki, der sein Maschinengewehr behutsam über dem Kopf trug.
Als dann im Morgengrauen Perekop plötzlich in wildem Schlachtfieber aufbrauste, als Tausende im offenen Frontangriff durch die Sperrverhaue brachen, stiegen im Rücken der Weißen die ersten Kolonnen, die den Siwasch-See durchwatet hatten, auf der Litowsker Halbinsel ans Ufer. Einer der ersten, die den Fuß auf das steinige Ufer setzten, war Iwan Sharki.
Eine Schlacht entbrannte, so grausam wie keine zuvor. Die Reiterei der Weißen stürmte mit tierischer Wildheit gegen die Menschen, die da ans Land krochen. Pausenlos spie Sharkis Maschinengewehr Tod und Verderben, und haufenweise stürzten Menschen und Pferde im Kugelregen. Mit fieberhafter Hast setzte Sharki eine Trommelscheibe nach der anderen ins Maschinengewehr ein.
Perekop bebte und dröhnte unter dem Feuer Hunderter von Geschützen. Ein bodenloser Abgrund schien die Erde verschlingen zu wollen, und mit wildem Zischen zerschnitten Tausende todbringende Granaten den Himmel und zerbarsten in Tausende Sprengstücke und winzige Splitter. Aus dem aufgewühlten, von Wunden zerfurchten Erdboden flogen schwarze Klumpen hoch und verdeckten die Sonne.
Der Kopf des Untiers war zertreten. Der rote Strom ergoss sich über die Krim. Schrecklich in ihrem letzten Stoß, fluteten die Divisionen der 1. Reiterarmee vorwärts. Von panischer Furcht ergriffen, belagerten die Weißgardisten die von den Kais abgehenden Dampfer.
Die Republik schmückte die abgetragenen Feldblusen, dort, wo das Herz schlägt, mit den Orden des Roten Banners. Und unter diesen Feldblusen war auch die des Maschinengewehrschützen und Komsomolzen Iwan Sharki.

Der Frieden mit Polen war geschlossen. Wie Shuchrai gehofft hatte, war Pawels Heimatstadt bei der Sowjetukraine geblieben. Die Grenze bildete nun ein fünfunddreißig Kilometer von der Stadt entfernt gelegener Fluss. Und so kam der unvergessliche Morgen im Dezember 1920, da Pawel dem ihm so wohlbekannten Ort entgegenfuhr.
Nach einem flüchtigen Blick auf das Schild »Schepetowka« betrat er den schneeverwehten Bahnsteig und bog gleich nach links ab, dem Depot zu. Dort fragte er nach Artjom; der Schlosser war jedoch nicht da. Pawel hüllte sich fester in seinen Soldatenmantel und ging eiligen Schrittes durch den Wald, dem Städtchen entgegen.
Maria Jakowkwna wandte sich zur Tür, als sie es klopfen hörte, und rief »Herein!« Als sie dann in der schneebedeckten Gestalt, die vor ihr stand, Pawel erkannte, griff sie mit beiden Händen nach ihrem Herzen und war vor unermesslicher Freude nicht imstande, ein Wort über die Lippen zu bringen.
Tränen des Glücks rannen über ihr Gesicht, während sich ihr kleiner hagerer Körper an die Brust des Sohnes presste und sein Antlitz mit unzähligen Küssen bedeckte.
Pawel umarmte sie fest und betrachtete, ohne ein Wort zu sagen, das von Sehnsucht und Warten verhärmte Gesicht der Mutter, das von tiefen Falten durchfurcht war.
Still wartete er, bis sie sich beruhigt hatte.
Die Mutter konnte sich gar nicht satt sehen an ihrem Jungen. Sie hatte die Hoffnung aufgegeben, ihn jemals wieder zu Gesicht zu bekommen. Und als dann drei Tage später, in der Nacht, auch Artjom mit dem Tornister
auf dem Rücken in das Stübchen trat, kannte ihre Freude keine Grenzen mehr.
Das Häuschen der Kortschagins hatte seine alten Bewohner wieder aufgenommen. Nach schweren Prüfungen und Leiden waren die Brüder, dem Tod entronnen, nun endlich beieinander …..
»Was werdet ihr jetzt anfangen?« fragte Maria Jakowlewna ihre Söhne.
»Jetzt geht's gleich an die Werkbank, Mütterchen«, antwortete Artjom. Doch Pawel fuhr, nachdem er zwei Wochen zu Hause verbracht hatte, zurück nach Kiew, wo die Arbeit ihn erwartete.

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