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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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SIEBENTES KAPITEL

Neben dem Sanatorium des Zentralkomitees lag der große Park der Poliklinik. Durch diesen Park mussten die Kurgäste aus dem Sanatorium »Kommunar« gehen, wenn sie vom Meer zurückkehrten. Hier, abseits, im Schatten der dichten Platane an der hohen Kalksteinwand, war Pawels Lieblingsplatz. Nur selten kam jemand vorüber. Von diesem Winkel aus konnte man in der Ferne das lebhafte Auf und Ab der Menschen in den Alleen und Wegen des Gartens beobachten und am Abend der Musik lauschen, ohne in das aufregende Getriebe des großen Kurorts hineingerissen zu werden.
Auch heute war Kortschagin dorthin gegangen. Er ließ sich behaglich in einem Schaukelstuhl nieder und schlummerte ein, vom Baden und von der Hitze erschlafft. Sein Frottierhandtuch und der Roman »Meuterei« von Furma-now lagen neben ihm auf einem Stuhl. In den ersten Tagen seines Aufenthalts im Sanatorium war Pawel in einem äußerst nervösen Zustand und litt ununterbrochen an Kopfschmerzen. Die Professoren dokterten immer noch an seiner komplizierten und äußerst seltenen Krankheit herum. Das häufige Abhören und Abklopfen wurde Pawel zuwider und ermüdete ihn. Die leitende Ärztin, die den seltsamen Namen Jerusalimtschik trug, eine sympathische Parteigenossin, konnte ihren Patienten jedes Mal nur mit Mühe ausfindig machen und redete ihm geduldig zu, mit ihr diesen oder jenen Facharzt aufzusuchen.
»Mein Ehrenwort, ich halte das nicht mehr aus«, sagte Pawel. »Fünfmal am Tag muss man ein und dasselbe erzählen. ›War Ihre Großmutter nicht geisteskrank? Hat Ihr Urgroßvater nicht an Rheumatismus gelitten?‹ Verdammt noch mal, woher soll ich denn wissen, woran der gelitten hat, ich habe ihn überhaupt niemals zu Gesicht bekommen. Dabei versucht mir noch jeder zuzureden, ich solle bekennen, dass ich einmal Gonorrhöe oder noch was Schlimmeres gehabt habe. Und ich würde ihnen, offen gestanden, dafür am liebsten jedes Mal eins auf den Schädel geben. Lasst mich doch ausruhen! Denn wenn man mich die ganzen anderthalb Monate studieren wird, werde ich noch gemeingefährlich.«
Die Jerusalimtschik lachte und gab scherzhafte Antworten. Nach wenigen Minuten fasste sie ihn unter und führte ihn, während sie irgend etwas Interessantes erzählte, zum Chirurgen.
Heute war keine Untersuchung vorgesehen, und erst in einer Stunde sollte zu Mittag gegessen werden. Pawel vernahm im Halbschlaf Schritte. Er hatte die Augen geschlossen. Man wird denken, dass ich schlafe, und weggehen. Seine
Hoffnung wurde jedoch zerstört, ein Schaukelstuhl knarrte, irgend jemand ließ sich darauf nieder. Der feine Parfümgeruch verriet, dass eine Frau neben ihm saß. Er öffnete die Augen. Das erste, was er sah, waren ein blendendweißes Kleid und sonngebräunte Füße in Saffiarisandalen, dann ein Bubikopf, zwei große Augen und eine Reihe scharfer weißer Zähne wie bei einem Mäuschen. Sie lächelte verlegen.
»Entschuldigen Sie, ich habe Sie wohl gestört?« Kortschagin schwieg. Das war nicht sehr höflich, jedoch gab er die Hoffnung nicht auf, dass seine Nachbarin verschwinden werde.
»Gehört das Buch Ihnen?«
Sie blätterte in dem Roman.
»Ja.«
Einige Minuten Schweigen.
»Sagen Sie, Genosse, sind Sie aus dem Sanatorium des ZK?« Kortschagin machte eine ungeduldige Bewegung. Was hat sie bloß hier zu suchen? Das nennt sich nun Ausruhen. Gleich wird sie noch fragen, was mir fehlt. Ich will lieber weggehen. Unfreundlich antwortete er: »Nein.«
»Ich glaube, ich habe Sie dort gesehen.«
Pawel hatte sich bereits erhoben, als er hinter sich eine tiefe weibliche Stimme vernahm.
»Dora, wohin hast du dich denn da verkrochen?« Auf den Rand des Schaukelstuhls ließ sich eine üppige, sonnverbrannte Blondine im Strandkostüm nieder. Mit flüchtigem Blick streifte sie Kortschagin.
»Ich muss Sie schon irgendwo gesehen haben, Genosse. Arbeiten Sie nicht zufällig in Charkow?«
»Ja, in Charkow.«
»Und wo arbeiten Sie dort?«
Kortschagin wollte diesen ermüdenden Fragereien ein Ende machen.
»Bei der Müllabfuhr!«
Unwillkürlich zuckte er unter ihrem Gelächter zusammen.
»Man kann nicht behaupten, dass Sie sehr höflich sind, Genosse.«
So begann ihre Freundschaft, und Dora Rodkina, Mitglied des Stadtkomitees der Charkower Parteiorganisation, erinnerte sich noch oft an diesen drolligen Anfang ihrer Bekanntschaft.

Im Garten des Sanatoriums »Talassa«, den Kortschagin wegen des Nachmittagskonzerts aufgesucht hatte, traf er unerwartet Sharki. Ein Foxtrott führte sie zusammen, so sonderbar dies auch war.
Nach einer korpulenten Sängerin, die toll gestikulierend »Die Nacht lodert im Entzücken der Wollust« vorgetragen hatte, sprang ein Pärchen auf die Bühne. Er - mit rotem Zylinder, halbnackt, mit irgendwelchen bunten Schnallen an den Hüften und blendendweißem Vorhemd und Krawatte. Mit einem Wort, die lächerliche Parodie auf einen Wilden. Sie - eine hübsche Person mit viel Stoff umwickelt. Unter dem begeisterten Gegröle der dicken NÖP-Leute, die hinter den Sesseln und Liegestühlen der Sanatoriumsgäste standen, hopste dieses Pärchen auf der Bühne im Foxtrott hin und her. Einen widerwärtigeren Anblick konnte man sich kaum vorstellen. Der feiste Kerl mit seinem lächerlichen Zylinder und die Frau wanden sich dicht aneinandergeschmiegt in unzüchtigen Bewegungen. Kortschagin schickte sich eben zum Gehen an, als sich in der vordersten Reihe, direkt vor der Tribüne, jemand erhob und wütend schrie:
»Zum Teufel noch mal! Was soll diese Prostitution? Schluss damit!« Pawel erkannte Sharki.
Der Klavierspieler brach jäh ab. Die Geige kreischte noch einmal auf und verstummte. Das Pärchen auf der Bühne stand erstarrt. Die Leute hinter den Stühlen zischten wütend:
»Unerhörte Frechheit, die Vorstellung zu stören!«
»Ganz Europa tanzt!«
»Empörend!«
Doch aus einer Gruppe der »Kommunar«-Leute ertönte plötzlich ein schriller Pfiff. Es war Sergej Shbanow, der Sekretär des Tscherepowezker Bezirksjugendkomitees, der beschlossen hatte, der Sache ein Ende zu machen. Andere unterstützten ihn, und das Pärchen verschwand im Nu von der Bildfläche.
Der geschwätzige Conferencier, der wie ein geschniegelter Lakai aussah, gab dem Publikum bekannt, dass die Truppe abreisen würde.
»Ab durch die Mitte, auf unsere Bitte! Sag deiner Lieben, nach Moskau hat's dich getrieben!« sagte unter großem Gelächter ein junger Bursche im Krankenkittel.
Kortschagin fand Sharki in den ersten Reihen. Lange saßen sie in Pawels Zimmer beieinander. Wanja war Agitpropleiter eines Kreis-Parteikomitees.
»Weißt du schon, ich bin verheiratet. Bald werde ich einen Sohn oder eine Tochter haben«, sagte Sharki.
»Oho, wer ist denn deine Frau?« wunderte sich Kortschagin. Sharki zog eine Fotografie aus der Tasche und zeigte sie Pawel.
»Erkennst du sie?« Auf der Fotografie waren er und Anna Borchardt abgebildet.
»Und wo steckt Dubawa?« fragte Pawel noch verwunderter.
»Dubawa ist in Moskau. Er hat nach seinem Ausschluss aus der Partei die Kommunistische Universität verlassen und besucht jetzt die Moskauer Technische Hochschule. Gerüchten zufolge soll er wieder in die Partei aufgenommen sein. Doch ganz zu Unrecht! Von ihm geht Zersetzung aus … Weißt du, was Ignat treibt? Er ist jetzt stellvertretender Direktor einer Werft. Von den anderen habe ich wenig gehört. Wir sind ja in alle Himmelsrichtungen verstreut worden, arbeiten in den verschiedenen Ecken unseres Landes. Es ist schön, einem alten Freund zu begegnen und vergangener Tage zu gedenken«, sagte Sharki.
Dora kam mit einigen Kurgästen ins Zimmer. Ein hochgewachsener Genosse aus Tambow schloss die Tür. Dora warf einen Blick auf Sharkis Orden und erkundigte sich bei Pawel:
»Ist dein Besucher Parteimitglied? Wo arbeitet er?«
Ohne zu wissen, worum es sich handelte, gab Kortschagin kurz über Sharki Auskunft.
»Dann kann er hierbleiben. Soeben sind Genossen aus Moskau eingetroffen. Sie werden uns über die letzten Ereignisse in der Partei berichten. Wir haben beschlossen, bei dir zu einer Art geschlossener Sitzung zusammenzukommen«, erklärte Dora.
Fast alle Anwesenden, mit Ausnahme von Pawel und Sharki, waren alte Bolschewiki. Bartaschew, ein Mitglied der Moskauer Kontrollkommission, berichtete über die neue Opposition, die von Trotzki, Sinowjew und Kamenew geführt wurde.
»In einer so gespannten Situation müssen wir an Ort und Stelle sein«, schloss Bartaschew. »Ich reise morgen ab.«

Drei Tage nach dieser Sitzung verließen die Patienten vorzeitig das Sanatorium. Auch Pawel reiste ab, ohne das Ende seines Urlaubs abzuwarten.
Im Zentralkomitee des Jugendverbandes hielt man ihn nicht lange auf. Er wurde zum Sekretär des Kreis-Jugendkomitees in einem Industriegebiet ernannt, und schon nach einer Woche sprach er zum ersten Mal vor den städtischen Funktionären.
An einem späten Herbsttag raste das Auto des Kreis-Parteikomitees, in dem Kortschagin mit noch zwei anderen Funktionären nach einem weit entlegenen Bezirk fuhr, in einen Graben und überschlug sich. Alle Insassen wurden verletzt. Kortschagin trug eine Quetschung des rechten Knies davon. Wenige Tage nach diesem Unfall brachte man ihn in die Charkower Chirurgische Klinik. Nach einer Untersuchung des geschwollenen Knies und nach verschiedenen Röntgenaufnahmen sprach sich das Ärztekonsilium für eine sofortige Operation aus.
Kortschagin gab seine Zustimmung.
»Also morgen früh«, sagte der dicke Professor, der Leiter des Konsiliums, und erhob sich. Ihm folgten die anderen.
Ein kleines, helles Einzelzimmer. Tadellose Sauberkeit und ein längst vergessener eigentümlicher Lazarettgeruch. Kortschagin blickte um sich. Ein Nachttisch mit schneeweißem Deckchen, ein weißer Schemel - das war alles.
Die Schwester brachte das Abendbrot.
Pawel wollte nicht essen. Im Bett halb aufgerichtet, schrieb er Briefe. Der Schmerz im Bein erschwerte das Denken. Das Essen widerte ihn an.
Als der vierte Brief geschrieben war, öffnete sich behutsam die Tür des Krankenzimmers. Eine junge Frau in weißem Kittel und mit weißer Haube kam herein. Sie hatte feingezeichnete Brauen und große Augen, die schwarz zu sein schienen. In der einen Hand hielt sie eine Aktenmappe, in der anderen - ein Blatt Papier und einen Bleistift.
»Ich bin Ihr Arzt«, sagte sie.
»Habe heute Dienst und werde jetzt gleich ein kleines Verhör veranstalten. Und Sie werden - wohl oder übel - alles über sich erzählen müssen.«
Sie lächelte freundlich, und dieses Lächeln machte das »Verhör« weniger unangenehm. Eine ganze Stunde lang erzählte Kortschagin sowohl von sich als auch von seiner Urgroßmutter.

Die Menschen im Operationssaal trugen Gazemasken.
Vernickelte chirurgische Instrumente blinkten. Ein schmaler Tisch, darunter eine riesige Schüssel. Als sich Kortschagin hingelegt hatte, war der Professor gerade mit dem Händewaschen fertig.
Hinter Pawel beeilte man sich mit den Vorbereitungen für die Operation. Kortschagin schaute um sich. Die Schwester legte die Lanzetten und Pinzetten zurecht. Die ihn behandelnde Ärztin, Bashanowa, löste den Verband vom Bein.
»Schauen Sie nicht hin, Genosse Kortschagin, das ist nicht gut für die Nerven«, sagte sie leise.
»Von wessen Nerven sprechen Sie, Doktor?« Kortschagin lächelte spöttisch.
Nach wenigen Minuten bedeckte eine dichte Maske sein Gesicht, und der Professor sagte:
»Seien Sie ganz ruhig. Sie bekommen gleich Chloroform. Atmen Sie tief durch die Nase und zählen Sie.«
Unter der Maske ließ sich eine gedämpfte, ruhige Stimme vernehmen:
»Gut. Ich bitte schon im voraus um Entschuldigung, wenn ich nicht ganz salonfähige Ausdrücke von mir geben sollte.«
Der Professor konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.
Die ersten Chloroform tropfen verbreiteten einen widerlich stickigen Geruch.
Kortschagin lag auf dem Operationstisch, atmete tief, und bemüht, deutlich zu sprechen, fing er an zu zählen. So begann der erste Akt seiner Tragödie.

Artjom riss den Briefumschlag auf. Von einer ihm selbst unerklärlichen Erregung erfasst, faltete er den Brief auseinander, überflog hastig die ersten Zeilen und las ihn, ohne aufzublicken, bis zum Ende.

Artjom! Wir schreiben einander viel zu selten. Einmal, höchstens zweimal im Jahr! Es kommt ja auch nicht auf die Zahl an. Du schreibst, dass Du mit Deiner Familie aus Schepetowka nach dem Kasatinsker Depot übergesiedelt bist, um die Wurzeln auszureißen.
Ich kann das verstehen, diese Wurzeln - das ist die rückständige, kleinbürgerliche Denkweise Deiner Frau Stjoscha, das sind ihre Verwandten und alles Drum und Dran. Menschen vom Schlage Stjoschas sind schwer umzuformen. Ich fürchte sogar, dass Dir das nie gelingen wird. Du schreibst, »es ist schwer, noch im Alter zu lernen«, jedoch geht's bei Dir anscheinend ganz gut vorwärts. Du hast nicht recht, Dich so hartnäckig zu weigern, den Betrieb zu verlassen,
um als Vorsitzender des Stadtsowjets zu arbeiten. Du hast doch mit um die Macht gekämpft. So nimm also auch daran teil. Gleich morgen musst Du mit der Arbeit im Stadtsowjet beginnen!
Jetzt von mir. Es gehen da sonderbare Dinge vor sich. Ich musste oft Krankenhäuser aufsuchen, wurde bereits zweimal operiert, habe dabei nicht wenig Blut und Kräfte verloren, und niemand kann mir sagen, wann das alles endlich aufhören wird.
Ich habe meine Arbeit aufgegeben und eine neue Beschäftigung gefunden, nämlich »krank« zu spielen. Ich habe nicht wenig ausgestanden, und nun kann ich als Resultat das rechte Knie nicht bewegen, habe einige Nähte am Körper, und dazu kommt die letzte ärztliche Entdeckung, dass mir der Stoß, den ich vor sieben Jahren ins Rückgrat bekommen habe, noch schwer zu schaffen machen wird. Ich bin bereit, alles zu ertragen, um nur wieder meinen Platz in den Kampfreihen einnehmen zu können.
Es gibt für mich nichts Schrecklicheres, als ausscheiden zu müssen. Ich wage es kaum, daran auch nur zu denken. Deshalb bin ich zu allem bereit. Es winkt jedoch keine Besserung, und die Wolken am Horizont ziehen sich immer dichter zusammen. Sobald ich mich nach der ersten Operation ein wenig erholt hatte, bin ich sogleich zur Arbeit zurückgekehrt, wurde jedoch bald darauf wieder hierher gebracht. Soeben habe ich eine Überweisung ins Sanatorium »Mainak« in Jewpatoria bekommen. In einigen Tagen fahre ich. Sei nicht traurig, Artjom. Ich bin ja nicht umzubringen. In mir steckt Leben genug für drei. Werde schon noch was schaffen, Brüderchen. Achte auf Deine Gesundheit, mute Dir nicht zuviel zu. Die Wiederherstellung der Gesundheit kommt dann der Partei teuer zu stehen. Mit den Jahren haben wir Erfahrung und Wissen gesammelt, so manches gelernt, und das alles nicht dazu, um dann in Lazaretten herumzulungern.
Ich drücke Dir fest die Hand.
Pawel

Um die gleiche Zeit, als Artjom, die dichten Brauen runzelnd, den Brief des Bruders las, verabschiedete sich Pawel im Krankenhaus von der Ärztin Bashanowa. Sie reichte ihm die Hand und fragte:
»Sie fahren morgen auf die Krim? Wo wollen Sie den Rest des Tages verbringen?«
Kortschagin antwortete:
»Gleich kommt die Genossin Rodkina. Bis morgen werde ich im Kreis ihrer Familie sein, und dann begleitet sie mich zum Bahnhof.«
Die Bashanowa kannte Dora, die Pawel häufig besucht hatte.
»Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch, Genosse Kortschagin, als Sie mir versprachen, vor Ihrer Abreise meinen Vater aufzusuchen? Ich habe ihm von Ihrem Gesundheitszustand ausführlich erzählt und möchte gern, dass er Sie untersucht. Heute Abend könnte man das machen.«
Kortschagin erklärte sich sofort einverstanden.'
An demselben Abend wurde Pawel von Irina Wassiljewna in das geräumige Kabinett ihres Vaters geführt.
In Anwesenheit seiner Tochter untersuchte der berühmte Chirurg Kortschagin aufmerksam. Irina hatte sämtliche Röntgenaufnahmen und Analysen aus der Klinik mitgebracht. Pawel entging die plötzliche Blässe nicht, die eine Bemerkung ihres Vaters in lateinischer Sprache auf Irinas Gesicht hervorgerufen hatte. Kortschagin betrachtete den großen kahlen Kopf des Professors und versuchte irgend etwas in seinen durchdringenden Augen zu lesen. Bashanow war jedoch nichts anzumerken.
Als sich Pawel angezogen hatte, verabschiedete sich der Chirurg höflich von ihm; er fuhr zu einer Sitzung und beauftragte die Tochter, Pawel seine Diagnose mitzuteilen.
Kortschagin legte sich in dem mit auserlesenem Geschmack eingerichteten Zimmer Irina Wassiljewnas auf den Diwan und wartete, bis sie zu sprechen beginnen würde. Sie wusste jedoch nicht, wie sie anfangen, wie sie ihm den
Befund beibringen sollte. Es fiel ihr sehr schwer. Der Vater hatte ihr erklärt, dass die Wissenschaft vorläufig nicht imstande sei, das Zerstörungswerk eines in Pawels Organismus vor sich gehenden Entzündungsprozesses aufzuhalten. Er war gegen jeden chirurgischen Eingriff.
»Diesen jungen Menschen erwartet die Tragödie einer völligen Lähmung, und wir sind machtlos dagegen.«
Als Arzt und Freund fand Irina es nicht ratsam, ihm dies zu sagen, und teilte ihm vorsichtig nur einen kleinen Teil der Wahrheit mit:
»Ich bin fest davon überzeugt, Genosse Kortschagin, dass die Moorbäder in Jewpatoria eine Änderung hervorrufen werden und dass Sie im Herbst wieder arbeitsfähig sind.«
Während sie dies sagte, übersah sie völlig, dass sie die ganze Zeit zwei aufmerksame Augen beobachteten.
»Aus Ihren Worten, vielmehr aus dem, was Sie nicht aussprechen, erkenne ich den ganzen Ernst meines Zustandes. Können Sie sich noch daran erinnern, dass ich Sie darum gebeten habe, mit mir immer offen zu sprechen? Vor mir braucht man nichts zu verbergen. Ich werde nicht in Ohnmacht fallen und gedenke mich auch nicht umzubringen. Ich möchte aber im voraus wissen, was mich erwartet«, erklärte Pawel.
Die Ärztin versuchte jedoch, ihn mit scherzhaften Worten abzulenken. So erfuhr Pawel an diesem Abend nicht die Wahrheit über das, was ihn erwartete. Als sie sich verabschiedeten, sagte sie leise:
»Vergessen Sie nie, dass ich viel für sie übrig habe, Genosse Kortschagin. In Ihrem Leben kann noch so manches passieren. Wenn Sie meine Hilfe oder meinen Rat brauchen, so benachrichtigen Sie mich. Ich werde alles tun, was in meinen Kräften steht.«
Sie schaute ihm durchs Fenster nach und sah, wie sich die hohe, auf einen Stock gestützte Gestalt in der Lederjacke mühsam zu einer Droschke schleppte.
Und wieder war er in Jewpatoria. Südliche Hitze. Lärmende, sonnverbrannte Menschen mit goldgestickten runden Tatarenmützen auf den Köpfen. In zehn Minuten brachte das Auto die Fahrgäste zu einem zweistöckigen grauen Kalksteingebäude, dem Sanatorium »Mainak«. Der diensthabende Arzt wies die Angekommenen in ihre Zimmer.
»Von wem haben Sie Ihre Einweisung, Genosse?« fragte er Kortschagin und machte vor dem Zimmer Nr. 11 halt.
»Vom ZK der KP(B) der Ukraine,«
»Dann werden wir Sie hier beim Genossen Ebner unterbringen. Er ist ein Deutscher und hat um einen russischen Nachbarn gebeten«, erklärte ihm der Arzt. Er klopfte an die Tür, und aus dem Zimmer rief eine Stimme in schlechtem Russisch: »Herein!«
Kortschagin stellte seinen Koffer im Zimmer ab und wandte sich einem hellblonden Mann mit schönen, lebhaften Augen zu, der auf dem Bett lag. Der Deutsche begrüßte ihn mit gutmütigem Lächeln:
»Guten Morgen, Genosse. Ich wollte eigentlich ›Sdrastwuj‹ sagen«, verbesserte er sich und streckte Pawel seine durchsichtige Hand mit den langen schmalen Fingern entgegen.
In wenigen Minuten saß Pawel an seinem Bett, und bald darauf waren sie in ein lebhaftes Gespräch vertieft, das in jener »internationalen« Sprache geführt wurde, in der die Worte nur eine untergeordnete Rolle spielen und der unverstandene Satz durch Erraten, durch Gesten und Mimik - überhaupt durch alle Mittel des ungeschriebenen Esperanto ergänzt wird. Pawel wusste bald, dass Adam Ebner ein deutscher Arbeiter war.
Während des Hamburger Aufstandes von 1923 hatte eine Kugel Ebner an der Hüfte verletzt. Jetzt war die alte Wunde wieder aufgebrochen und fesselte ihn ans Bett. Trotz großer Schmerzen hielt er sich tapfer und gewann dadurch Pawels Achtung.
Einen besseren Nachbarn hätte sich Pawel kaum wünschen können. Das war keiner, der vom Morgen bis zum Abend über seine Krankheiten redete und
jammerte. Man konnte im Gegenteil, war man mit ihm zusammen, sein eigenes Missgeschick vergessen.
Es ist nur schade, dass ich keine blasse Ahnung von der deutschen Sprache habe, dachte Pawel.

In einer Gartenecke standen einige Schaukelstühle, ein Tisch aus Bambusrohr und zwei Krankenwagen. Hier verbrachten die fünf, die von den Kranken den Spitznamen »Exekutivkomitee der Komintern« erhalten hatten, nach der Heilbehandlung den ganzen Tag.
Auf dem einen Wagen lag Ebner und auf dem anderen Pawel Kortschagin. Die Ärzte hatten ihm das Gehen verboten. Die drei übrigen waren: der schwerfällige Este Weimann, die Lettin Martha Laurin, eine braunäugige junge Frau mit dem Gesicht eines achtzehnjährigen Mädchens, und der Sibirier Ledenew, ein großer kräftiger Mann mit ergrauten Schläfen. Tatsächlich waren hier fünf Nationalitäten vertreten: ein Deutscher, ein Este, eine Lettin, ein Russe und ein Ukrainer. Martha und Weimann beherrschten die deutsche Sprache und übersetzten für Ebner. Pawel und Ebner hatte das Zusammenleben einander näher gebracht. Martha und Weimann hatten sich mit Ebner durch die deutschen Sprachkenntnisse und Ledenew mit Kortschagin durch das Schachspiel angefreundet.
Bis zur Ankunft von Innokenti Pawlowitsch Ledenew war Kortschagin »Schachmeister« des Sanatoriums gewesen. Er hatte sich diesen Titel nach einem hartnäckigen Kampf mit Weimann erobert. Weimann wurde besiegt, und das brachte den phlegmatischen Esten aus dem Gleichgewicht. Lange konnte er Kortschagin diese Niederlage nicht verzeihen.
Bald jedoch tauchte im Sanatorium ein hochgewachsener älterer Mann auf, der für seine fünfzig Jahre ungewöhnlich jung aussah; er machte Kortschagin den Vorschlag, mit ihm eine Partie zu spielen. Ohne Gefahr zu wittern, eröffnete Kortschagin die Partie mit einem Damengambit, woraufhin Ledenew mit den mittleren Bauern losrückte. Als »Schachmeister« war Pawel verpflichtet, mit jedem neu eingetroffenen Schachspieler zu spielen. Jedes Mal versammelte sich dabei eine große Schar von Zuschauern. Schon beim neunten Zug erkannte Kortschagin die Gefahr der sicher vorrückenden Bauern Ledenews und begriff, dass er es mit einem gefährlichen Gegner zu tun hatte. Ganz zu Unrecht war er an dieses Spiel so leichtsinnig herangegangen.
Nach dreistündigem Kampf war Pawel gezwungen, sich trotz aller Bemühungen und Anstrengungen zu ergeben. Er erkannte seine Niederlage weit früher als alle anderen, die ihn umstanden. Er schaute seinen Partner an, und Ledenew erwiderte diesen Blick mit einem gutmütigen väterlichen Lächeln. Es war klar, dass er ebenfalls Pawels Niederlage kommen sah. Der aufgeregte Este, der unverhohlen Kortschagins Niederlage herbeisehnte, hatte noch nichts bemerkt.
»Ich pflege immer bis zum letzten Bauern auszuharren«, sagte Pawel, und als Antwort nickte Ledenew zustimmend auf die ihm allein verständlichen Worte.
Im Laufe von fünf Tagen spielte Kortschagin zehn Partien mit Ledenew, von denen er sieben verlor, zwei gewann und eine unentschieden gestaltete.
Weimann triumphierte:
»Ach, ich danke Ihnen, Genosse Ledenew! Sie haben es ihm ordentlich gegeben! Das hat er verdient! Uns alte Schachspieler hat er alle reingelegt und ist selbst bei einem alten reingefallen. Hahaha .….! 's ist nicht angenehm zu verlieren, was?« neckte er seinen besiegten Besieger.
Kortschagin war nicht mehr »Schachmeister«. An Stelle dieser Spielerehre fand er jedoch in Innokenti Pawlowitsch einen Menschen, der ihm in der Folge lieb und teuer wurde. Kortschagins Schachniederlage war kein Zufall. Er kannte die Strategie des Schachspiels nur oberflächlich. Seine Niederlage hatte ihm ein Meister beigebracht, der in die Geheimnisse des Schachspiels eingeweiht war.
Kortschagin und Ledenew hatten ein gemeinsames Datum in ihrem Leben: Kortschagin war in demselben Jahr zur Welt gekommen, in dem Ledenew in
die Partei eintrat. Der eine war der typische Vertreter der alten und der andere der der jungen bolschewistischen Garde. Der eine verfügte über große politische Erfahrung und Lebensweisheit, hatte viele Jahre in der Illegalität und in den zaristischen Gefängnissen verbracht und dann verantwortliche Arbeit im Staatsapparat geleistet; der andere hatte jugendliches Feuer und nur acht Kampfjahre hinter sich, die jedoch imstande gewesen wären, mehr als ein Leben zu verbrennen. Und alle beide - der Alte wie der Junge - hatten heiße Herzen und eine untergrabene Gesundheit. Die Tage eilten dahin.
Am Abend verwandelte sich das gemeinsame Zimmer Ebners und Kortscha-gins in einen Klub. Hier erfuhr man sämtliche politischen Neuigkeiten. Die Abende im Zimmer Nr. 11 verliefen äußerst lebhaft. Oft versuchte Weimann irgendwelche saftigen Witze zu erzählen, denn er war ein großer Liebhaber von Witzen, geriet jedoch sofort in ein doppeltes Kreuzfeuer von Martha und Kortschagin. Martha verstand es, ihn mit feinem ironischem Spott zurechtzuweisen. Wenn dies nicht half, mischte sich Kortschagin ein.
»Weimann, wäre es nicht angebracht, erst einmal anzufragen, ob uns deine Geistreichelei überhaupt gefällt …?« begann Martha, und Pawel unterstützte sie in erregtem Ton: »Ich verstehe absolut nicht, wie sich das bei dir zusammenreimt …«
Weimann schob die wulstige Unterlippe vor, und seine schmalen Äuglein huschten spöttisch über die Gesichter der Anwesenden.
»Es wird wohl bei der Hauptverwaltung für politische Aufklärung eine Inspektion für Moral eingeführt werden müssen. Ich werde ihr Kortschagin als Oberinspektor empfehlen. Martha kann ich noch verstehen. Sie macht eben in ihrer Eigenschaft als Frau Opposition, aber Kortschagin will sich als Tugendengel aufspielen, so eine Art Komsomolsäugling … Und außerdem kann ich es überhaupt nicht leiden, wenn das Ei die Henne belehren will.«
Nach einer solchen erregten Auseinandersetzung über kommunistische Ethik wurde die Frage der anzüglichen Witze eines Tages prinzipiell erörtert. Martha übersetzte Ebner die Standpunkte der Streitenden.
»Erotische Witze taugen nicht viel«, erklärte Adam. »Ich teile Pawels Standpunkt.«
Weimann blieb nichts anderes übrig als nachzugeben. Er versuchte sich scherzend aus der Affäre zu ziehen und gab in Zukunft keine Witze mehr zum besten.
Kortschagin hielt Martha für eine Komsomolzin. Ihrem Aussehen nach schätzte er sie auf neunzehn Jahre. Wie groß war jedoch sein Erstaunen, als er eines Tages aus einem Gespräch mit ihr erfuhr, dass sie seit 1917 Parteimitglied, einunddreißig Jahre alt war und zu den aktivsten Funktionären der lettischen Kommunistischen Partei gehört hatte. 1918 war sie von den Weißen zum Tode durch Erschießen verurteilt, aber kurz darauf auf dem Weg des Austausches, gemeinsam mit anderen Genossen, nach der Sowjetunion gebracht worden. Zur Zeit arbeitete sie in der »Prawda« und studierte gleichzeitig auf einer Hochschule. Auf welche Weise sie sich miteinander befreundet hatten, konnte sich Kortschagin nicht mehr entsinnen. Aber die kleine Lettin, die Ebner häufig besuchte, wurde bald ein festes Glied der Fünfergruppe. Der Genosse Eglitt, der viele Jahre illegal in der Partei gearbeitet hatte, ebenfalls Lette, neckte sie verschmitzt:
»Martchen, was soll nun aus dem armen Osol in Moskau werden? Das geht doch nicht!«

Jeden Morgen, eine Minute vor dem Glockenzeichen, hörte man im Sanatorium einen Hahn krähen. Ebner war es, der den Hahnenschrei so naturgetreu nachzuahmen verstand. Alle Bemühungen des Personals, den auf unerklärliche Weise in das Sanatorium hineingeratenen Hahn ausfindig zu machen, waren vergebens. Ebner machte das großen Spaß.
Gegen Ende des Monats begann sich Kortschagins Befinden zu verschlechtern. Die Ärzte verordneten ihm Bettruhe. Ebner war sehr traurig darüber, denn er hatte diesen jungen Bolschewiken, dessen Gesundheit so früh zerrüttet und der doch niemals missgestimmt war, sondern stets vor Lebensfreude und Energie übersprudelte, aufrichtig lieb gewonnen. Als er von Martha hörte, dass die Ärzte Kortschagin eine tragische Zukunft prophezeiten, war er sehr aufgeregt.
Bis zur Abfahrt aus dem Sanatorium musste Kortschagin das Bett hüten, aber es gelang ihm, seine Leiden vor seiner Umgebung zu verbergen. Nur Martha erriet an der ungewöhnlichen Blässe seines Gesichts, was er durchlitt. Eine Woche vor seiner Abreise erhielt Pawel einen Brief vom ukrainischen Zentralkomitee, in dem ihm die Genossen mitteilten, dass sie seinen Urlaub um zwei Monate verlängert hätten, da nach dem Befund der Sanatoriumsärzte an eine Rückkehr zur Arbeit bei seinem augenblicklichen Gesundheitszustand nicht zu denken sei. Gleichzeitig mit dem Brief schickten ihm die Genossen Geld.
Pawel nahm diesen ersten Schlag entgegen, wie er einstmals Shuchrais Schläge beim Boxunterricht entgegenzunehmen pflegte; damals wurde er auch zu Boden geworfen, war aber immer wieder auf die Beine gesprungen.
Unerwartet erhielt er eines Tages einen Brief von seiner Mutter. Sie schrieb ihm, dass in einer Hafenstadt, unweit von Jewpatoria, ihre Jugendfreundin Albina Kützam lebe, die sie schon fünfzehn Jahre nicht gesehen habe. Sie bitte ihn sehr darum, diese Freundin aufzusuchen. Dieser Brief sollte eine große Rolle in Pawels Leben spielen.
Eine Woche später begleiteten ihn die Freunde aus dem Sanatorium zur Landungsstelle. Beim Abschied umarmte Ebner seinen Leidensgefährten Pawel herzlich und küsste ihn wie einen Bruder. Martha war jedoch verschwunden, und Pawel reiste ab, ohne sich von ihr verabschiedet zu haben.
Am nächsten Tag brachte ihn eine Droschke von der Anlegestelle zu einem Häuschen, das in einem nicht sehr großen Garten stand. Pawel bat seinen Begleiter, sich zu erkundigen, ob hier die Familie Kützam wohne.
Die Familie Kützam bestand aus fünf Personen: der Mutter Albina Kützam, einer älteren, ein wenig korpulenten Frau mit schwermütigen schwarzen Augen und einem Gesicht, das Spuren ehemaliger Schönheit aufwies, ihren zwei Töchtern, Lolja und Taja, dem Söhnchen Loljas und dem alten Kützam, einem unangenehmen Dickwanst, der wie ein Eber aussah.
Der Alte arbeitete in einem Konsumladen, die jüngere Tochter, Taja, war als ungelernte Arbeiterin tätig, die ältere, Lolja, eine Stenotypistin, hatte sich kürzlich von ihrem Mann, einem Säufer und Tunichtgut, getrennt und war im Augenblick arbeitslos. Sie war tagsüber zu Hause, sorgte für ihr Söhnchen und half der Mutter in der Wirtschaft. Außer den Töchtern hatte Mutter Kützam noch einen Sohn, George, der sich jedoch in Moskau aufhielt.
Kortschagin wurde von der Familie Kützam herzlich aufgenommen. Nur der Alte warf dem Gast einen missgünstigen, lauernden Blick zu.
Geduldig erzählte Pawel der Mutter alles, was er aus der Familienchronik der Kortschagins wusste, und erkundigte sich auch nach ihrem Leben.
Lolja war zweiundzwanzig Jahre alt. Die kurzhaarige schlichte Brünette mit dem breiten, offenen Gesicht freundete sich rasch mit Pawel an und weihte ihn gern in alle Familiengeheimnisse ein. Kortschagin erfuhr, dass der Alte die ganze Familie tyrannisiere, jede Initiative und die geringste Willensäußerung unterdrücke. Beschränkt, engherzig, kleinlich und nörglerisch, hielt er die Familie in ständigem Schrecken und zog sich damit die tiefe Feindschaft der Kinder und den Hass seiner Frau zu, die bereits fünfundzwanzig Jahre lang gegen seinen Despotismus ankämpfte. Die Töchter standen stets auf Seiten der Mutter, aber diese unaufhörlichen Familienstreitigkeiten vergällten ihnen das Leben. So vergingen die Tage - eine Kette von unendlich vielen kleinen und großen Kränkungen.
Das zweite Unglück der Familie war George. Nach Loljas Schilderungen war er ein typischer Geck, ein hochnäsiger Aufschneider, der es liebte, gut zu essen, sich schick zu kleiden und oft einen hinter die Binde zu gießen. Nach Beendigung der Neunjahresschule hatte George, der Liebling der Mutter, Geld für eine Reise nach Moskau verlangt.
»Ich fahre auf die Universität. Mag Lolja ihren Ring verkaufen und du deine Sachen. Ich brauche Geld, woher ihr es nehmt, ist mir egal.« George wusste sehr gut, dass ihm die Mutter nichts abschlagen konnte, und nutzte ihre Schwäche auf gewissenlose Weise aus. Den Schwestern gegenüber verhielt er sich geringschätzig und hochmütig, betrachtete sie von oben herab. Alles Geld, das Frau Kützam vom Alten herausholen konnte, und alles, was Taja verdiente, schickte die Mutter dem Sohn. Und George lebte, nachdem er mit Glanz durchs Examen gefallen war, sorglos bei seinem Onkel und terrorisierte die Mutter mit Telegrammen, in denen er Geld verlangte.
Taja, die jüngere Tochter, bekam Kortschagin erst am späten Abend zu sehen. Flüsternd teilte ihr die Mutter im Hausflur die Ankunft des Gastes mit. Taja begrüßte Pawel, reichte ihm verlegen die Hand und errötete bis in die Spitzen ihrer kleinen Ohren vor dem unbekannten jungen Mann. Pawel gab ihre kräftige, abgearbeitete Hand nicht gleich frei.
Taja war achtzehn Jahre alt. Sie war keine Schönheit, aber ihre großen braunen Augen, die feinen mongolisch gezeichneten Brauen, die schöne Linie der Nase und die frischen, eigensinnigen Lippen verliehen ihr einen eigenen Reiz. Die gestreifte Arbeitsbluse spannte sich über ihren jungen festen Brüsten.
Die Schwestern bewohnten zwei winzige Zimmer. In Tajas Zimmer standen eine schmale, eiserne Bettstelle und eine Kommode, die allerhand Nippsachen und ein kleiner Spiegel zierten. An der Wand hingen etwa drei Dutzend Karten und Fotografien. Das Fensterbrett schmückten zwei Blumentöpfe mit blutroten Geranien und rosa Astern. Die Mullgardine war durch ein hellblaues Band zusammengerafft.
»Taja gestattet ungern Vertretern des männlichen Geschlechts, ihr Zimmer zu betreten. Mit Ihnen macht sie jedoch eine Ausnahme, wie Sie sehen«, verulkte Lolja die Schwester.
Am nächsten Tag saß die Familie in den Räumen der Eltern zum Tee beisammen. Taja war in ihrem Zimmer und lauschte von dort aus dem allgemeinen Gespräch. Der alte Kützam rührte gelegentlich in seinem Teeglas und blickte ärgerlich über die, Brillengläser hinweg auf den vor ihm sitzenden Gast.
»Ich verurteile die heutigen Familiengesetze«, sagte er. »Fällt's dir gerade ein, heiratest du, und passt dir was nicht, ist gleich die Scheidung da. Man macht eben, was man will.«
Der Alte verschluckte sich und musste husten. Wieder zu Atem gekommen, zeigte er auf Lolja.
»Hat ihren Schatz genommen, ohne zu fragen, und hat ihn stehen lassen, ohne zu fragen. Und nun kannst du die Tochter und noch das Kind von dem da durchfüttern. Sauerei!«
Lolja errötete tief gekränkt und suchte ihre Tränen vor Pawel zu verbergen.
»Und was meinen Sie? Hätte sie vielleicht mit diesem Parasiten weiter zusammenleben sollen?« fragte Pawel, ohne seine vor Aufregung blitzenden Augen von dem Alten abzuwenden.
»Sie hätte sich's überlegen müssen, bevor sie ihn genommen hat«, erwiderte dieser gehässig.
Albina mischte sich ins Gespräch ein. Mit Mühe hielt sie ihre Empörung zurück und sagte schroff:
»Hör mal, Alter, wozu erwähnst du in Anwesenheit eines fremden Menschen solche Dinge? Man kann ja auch von irgend etwas anderem sprechen und nicht gerade darüber.«
Der Alte wandte sich ihr zu: »Ich weiß, was ich zu reden habe! Seit wann ist es üblich, mir Vorhaltungen zu machen?«
In der Nacht dachte Pawel viel über die Familie Kützam nach. Er war hier zufällig hereingeschneit und nahm unwillkürlich an einem Familiendrama teil. Er überlegte, wie er der Mutter und den Töchtern aus dieser Versklavung heraushelfen könnte. Jedoch sein eigenes Leben hinderte ihn, frei zu handeln; vor ihm selbst standen neue und ungelöste Fragen. In diesem Augenblick war es schwerer denn je, irgendwelche entscheidenden Schritte zu unternehmen.
Es gab nur einen Ausweg: Die Familie musste sich trennen - Mutter und Töchter mussten endgültig vom Alten weggehen. Das war jedoch nicht so einfach. Pawel war nicht imstande, sich diesem Familienproblem zu widmen. Nach wenigen Tagen sollte er abfahren und würde diesen Menschen vielleicht nie wieder begegnen. Sollte man nicht vielleicht besser alles seinen Gang gehen lassen und lieber keinen Staub aufwirbeln? Die widerwärtige Art des Alten ließ ihm jedoch keine Ruhe. Pawel entwarf verschiedene Pläne, doch erschienen sie ihm alle undurchführbar.
Der nächste Tag war ein Sonntag. Als Pawel aus der Stadt zurückkehrte, war Taja allein zu Hause. Die anderen waren zu Besuch bei Verwandten.
Pawel ging zu ihr ins Zimmer und ließ sich müde auf einen Stuhl fallen.
»Warum gehen Sie nirgends hin und zerstreuen sich ein wenig?« fragte er sie.
»Ich habe keine Lust, irgendwohin zu gehen«, antwortete sie leise.
Er erinnerte sich an seine nächtlichen Pläne und beschloss, Taja um ihre Meinung zu fragen.
Schnell, damit ihn niemand störe, ging er auf sein Ziel los:
»Hör mal, Taja, wir wollen miteinander per ›du‹ reden - wozu diese chinesischen Zeremonien? Ich reise bald ab. Wir haben uns in einer ungünstigen Zeit kennen gelernt, in einer Zeit, in der ich selbst in die Klemme geraten bin, sonst würden wir die Sache anders anpacken. Wäre das vor einem Jahr geschehen, so hätte ich euch einfach von hier weggeholt. Für solche Hände wie deine und Loljas findet sich immer und überall Arbeit. Von eurem Vater müsst ihr euch trennen, der lässt sich nicht überzeugen. Aber vorerst ist dieser Plan undurchführbar. Ich weiß selbst noch nicht, was aus mir werden wird, und darum stehe ich, sozusagen, ohne Waffen da. Was muss man also jetzt tun? Ich werde meine Rückkehr zur Arbeit durchsetzen. Die Ärzte haben, weiß der Teufel was, über mich geschrieben, und die Genossen zwingen mich dazu, mich endlich zu kurieren. Nun, das werden wir dort schon in Ordnung bringen … Ich werde meiner Mutter schreiben, und wir werden sehen, wie man dem Jammer ein Ende macht. Ich lasse euch trotz allem nicht im Stich. Aber eins musst du wissen, Tajuscha, ihr werdet euer Leben von Grund auf ändern müssen, vor allem du. Hast du den Willen und die Kraft dazu?«
Taja hob den Kopf und erwiderte leise:
»Den Willen habe ich schon, ob ich jedoch die Kraft aufbringen werde, weiß ich nicht.«
Die Unbestimmtheit der Antwort war Kortschagin begreiflich.
»Macht nichts, Tajuscha. Wir werden das schon schaffen, wenn nur der Wille vorhanden ist. Sag mir nur: Fühlst du dich sehr mit deiner Familie verbunden?«
Taja antwortete nicht sogleich, denn die Frage war zu unerwartet gekommen.
»Mir tut nur die Mutter sehr leid«, sagte sie schließlich. »Ihr ganzes Leben lang hat der Vater sie gequält. Und jetzt holt George noch das Letzte aus ihr heraus. Sie tut mir so leid … obwohl sie mich nicht so lieb hat wie George …«
Viel sprachen sie an diesem Tag miteinander, und kurz vor der Rückkehr der anderen sagte Pawel scherzend:
»Erstaunlich, dass der Alte noch keinen Versuch gemacht hat, dich unter die Haube zu bringen!«
Taja winkte erschrocken ab.
»Ich werde nie heiraten. Loljas Ehe ist mir eine Warnung. Um keinen Preis werde ich heiraten.«
Pawel lächelte.
»Also ein Gelübde fürs Leben? Wenn aber der Richtige auftaucht, ein wirklich feiner Kerl, was dann?«
»Auch dann nicht. Alle sind gut, solange sie einem den Hof machen.«
Pawel legte seine Hand besänftigend auf ihre Schulter.
»Gut. Man kann auch ohne Mann auskommen. Du bist aber gar zu schlecht auf die Männer zu sprechen. Ein Glück nur, dass ich dir nicht den Hof gemacht, um dich geworben habe, sonst hätte ich mich wohl gleich böse in
die Nesseln gesetzt.« Freundschaftlich streichelte er die Hand des verlegenen Mädchens.
»Solche wie du suchen sich ganz andere Frauen aus. Wozu brauchen die denn uns?« sagte sie leise.

Einige Tage später brachte der Zug Kortschagin nach Charkow. Taja, Lolja und Albina mit ihrer Schwester Rosa begleiteten ihn zum Bahnhof. Beim Abschied nahm ihm Albina das Versprechen ab, die Mädchen nicht im Stich zu lassen und ihnen behilflich zu sein, aus diesem Elend herauszukommen. Sie verabschiedeten sich von ihm wie von einem nahen Verwandten, und Tajas Augen standen voll Tränen. Lange noch sah er aus dem Fenster das weiße Taschentuch in Loljas Hand und Tajas gestreifte Bluse.
In Charkow übernachtete er bei seinem Freund Petja Nowikow, da er Dora nicht zur Last fallen wollte. Er ruhte sich aus und fuhr dann ins Zentralkomitee. Er wartete auf Akim.
Als der endlich gekommen war und beide allein saßen, bat Pawel, ihm sofort eine Arbeit zu geben.
Akim schüttelte ablehnend den Kopf.
»Das geht nicht, Pawel. Es liegt ein Beschluss der Ärztekommission und des Zentralkomitees der Partei vor, in dem es heißt: ›In Anbetracht des schwer erschütterten Gesundheitszustandes ist Genosse Kortschagin in das Neuropathologische Institut zwecks Heilung zu schicken. Seine Rückkehr zur Arbeit kann nicht gestattet werden.‹«
»Papier ist geduldig, Akim! Ich bitte dich - gib mir die Möglichkeit zu arbeiten! Dieses Herumwandern von einer Klinik zur anderen ist sinnlos.«
Akim wollte nicht darauf eingehen.
»Wir können nicht gegen die Beschlüsse verstoßen. Versteh doch, Pawluscha, das ist doch das beste für dich.«
Kortschagin bestand jedoch derart hartnäckig auf seinem Wunsch, dass Akim nicht anders konnte und schließlich nachgab.
Schon am nächsten Tag arbeitete Kortschagin in der Spezialabteilung des Sekretariats des Zentralkomitees. Er hatte gemeint, er brauchte nur wieder anfangen zu arbeiten, und neue Kräfte würden sich einstellen. Vom ersten Tag an war es ihm jedoch klar, dass er sich geirrt hatte. Acht Stunden lang saß er ununterbrochen an seinem Schreibtisch, ohne zu essen, da es ihm schwer fiel, von der zweiten Etage in das benachbarte Restaurant zu gehen, um dort Frühstück und Mittagessen einzunehmen; oft war ihm ein Arm oder ein Bein wie abgestorben. Manchmal wurde sein ganzer Körper steif, und er fieberte. Häufig, wenn es an der Zeit war, zur Arbeit zu fahren, fehlte ihm plötzlich die Kraft, sich vom Bett zu erheben, und wenn der Anfall vorbei war, sah er mit Verzweiflung, dass er sich um eine ganze Stunde verspätet hatte. Schließlich machte man ihm wegen seiner Unpünktlichkeit Vorhaltungen, und er begriff, dass das der Anfang von dem Schrecklichsten war, das er sich vorstellen konnte - dem Ausscheiden aus den Reihen der Kämpfer.
Akim half ihm noch einmal und auch ein zweites Mal - er versetzte ihn auf eine andere Arbeitsstelle. Das Unvermeidliche trat jedoch ein. Nach zwei Monaten musste Pawel wieder das Bett hüten. Da erinnerte er sich an die Abschiedsworte der Ärztin Bashanowa und schrieb ihr einen Brief. Sie suchte ihn unmittelbar danach auf. Und von ihr erfuhr er das Wesentlichste - nämlich, dass er nicht unbedingt im Spital liegen müsse.
»Das heißt also, dass bei mir die Dinge so gut stehen, dass ich mich nicht einmal mehr zu kurieren brauche«, versuchte er zu scherzen.
Sobald er wieder ein wenig zu Kräften gekommen war, erschien Pawel abermals im Zentralkomitee. Diesmal war Akim jedoch unerbittlich. Auf seine kategorische Forderung, ins Krankenhaus zur Behandlung zu gehen, antwortete Kortschagin dumpf:
»Nirgends gehe ich hin. Das hat keinen Zweck. Ich habe das von kompetenter Seite erfahren. Mir bleibt nur noch übrig, eine Invalidenrente zu beziehen und von der Arbeit zurückzutreten. Aber darauf gehe ich nicht ein. Ihr könnt
mich nicht von der Arbeit losreißen. Ich bin erst vierundzwanzig Jahre alt und kann mein Leben nicht als Invalide fristen, mich in Krankenhäusern herumtreiben, wo ich zudem genau weiß, dass es nutzlos ist. Gebt mir eine Arbeit, die meinen Möglichkeiten entspricht. Ich kann zu Hause arbeiten oder in irgendeinem Büro wohnen … jedoch nicht als Schreiber, der die Ein- und Ausgänge bucht. Die Arbeit muss mir zusagen, damit ich mich nicht überflüssig fühle.«
Pawels Stimme war immer erregter und lauter geworden.
Akim verstand die Gefühle dieses vor kurzem noch so feurigen Burschen. Er begriff Pawels Tragödie, er wusste, dass für Kortschagin, der sein kurzes Leben der Partei gewidmet hatte, die Trennung von Kampf und Arbeit und der Übergang in die Etappe fürchterlich sein mussten, und er beschloss, alles zu tun, was in seinen Kräften stand.
»Gut, Pawel, reg dich nicht auf. Morgen haben wir Sekretariatssitzung. Ich werde diese Frage auf die Tagesordnung setzen und verspreche dir, deine Bitte zu unterstützen.«
Kortschagin stand schwerfällig auf und gab ihm die Hand.
»Kannst du dir denn wirklich vorstellen, Akim, dass mich das Leben in die Ecke drängen und erdrücken kann, solange hier noch ein Herz schlägt?« Heftig zog er Akims Hand an seine Brust, und Akim spürte ein dumpfes, schnelles Herzklopfen.
»Solange es da noch klopft, wird es niemandem gelingen, mich von der Partei zu trennen. Das vermag nur der Tod allein. Vergiss das nicht, mein Freund.«
Akim schwieg. Er wusste, dass dies keine Phrase, sondern der Aufschrei eines schwerverwundeten Kämpfers war. Er verstand, dass solche Menschen wie Pawel nicht anders reden und empfinden können.
Nach zwei Tagen teilte ihm Akim mit, dass er die Möglichkeit habe, ihn an verantwortlicher Stelle in der Redaktion des Zentralorgans einzusetzen. Dazu sei jedoch notwendig, dass man seine literarischen Fähigkeiten prüfe.
Pawel wurde vom Redaktionskollegium zuvorkommend empfangen. Die stellvertretende Chefredakteurin, eine alte Illegale, Mitglied des Präsidiums der Zentralen Kontrollkommission der Ukraine, richtete einige Fragen an ihn:
»Welche Bildungsanstalten haben Sie absolviert, Genosse?«
»Drei Jahre Volksschule.«
»Und Parteischulen haben Sie keine besucht?«
»Nein.«
»Nun, das macht nichts, es kommt vor, dass einer auch ohne das ein guter Journalist wird. Genosse Akim hat uns von Ihnen erzählt. Wir können Ihnen Arbeit geben, die Sie nicht unbedingt hier in der Redaktion machen müssen, sondern zu Hause, überhaupt unter geeigneten Arbeitsbedingungen, die aber erst geschaffen werden müssen. Für diese Arbeit sind jedoch eingehende Kenntnisse erforderlich, besonders auf dem Gebiet der Literatur und der Sprache.«
Pawel ahnte eine Niederlage. In einem halbstündigen Gespräch wurden seine lückenhaften Kenntnisse festgestellt, und in einem Artikel, den er geschrieben hatte, unterstrich die Genossin mit Rotstift mehr als drei Dutzend stilistische Unrichtigkeiten und nicht wenig orthographische Fehler.
»Genosse Kortschagin! Sie sind sehr begabt. Wenn Sie sich tüchtig weiterbilden, können Sie literarischer Mitarbeiter werden, augenblicklich schreiben Sie jedoch noch mangelhaft. Aus Ihrem Artikel ist ersichtlich, dass Sie die russische Sprache nur ungenügend beherrschen. Das ist nicht erstaunlich. Sie haben keine Zeit gehabt zu lernen. Wir können Sie leider nicht verwenden. Ich wiederhole jedoch nochmals, dass Sie bedeutende Anlagen haben. Wenn man Ihren Artikel bearbeitet, ohne den Inhalt zu ändern, wird er vorzüglich sein. Wir brauchen jedoch Leute, die fremde Artikel bearbeiten können.«
Auf den Stock gestützt, erhob sich Kortschagin. Seine rechte Braue zuckte krampfhaft.
»Nun ja, Sie haben recht. Was bin ich schon für ein Literat? Ich war ein guter Heizer, kein schlechter Monteur, ich konnte reiten, verstand es, die Komsomolzen anzufeuern, aber für Ihren Frontabschnitt bin ich nicht der geeignete Mann.«
Er verabschiedete sich und ging.
An der Korridorecke wäre er fast umgefallen. Eine fremde Frau, mit einer Aktenmappe unterm Arm, fing ihn auf.
»Was haben Sie, Genosse? Sie sehen ja furchtbar blass aus.«
Nach einigen Sekunden kam Kortschagin wieder zu sich. Dann machte er sich sanft von der Frau los und humpelte, auf den Stock gestützt, davon.
Von diesem Tag an ging es mit Kortschagin bergab. An Arbeit war nicht mehr zu denken. Immer häufiger musste er das Bett hüten. Das Zentralkomitee befreite ihn von jeder Tätigkeit und ersuchte die Sozialversicherung, ihm eine Rente auszuschreiben. Diese Rente erhielt er zusammen mit der Invalidenkarte. Das Zentralkomitee gab ihm Geld, seine Personaldokumente und die Erlaubnis, zu fahren, wohin er wolle. Von Martha kam ein Brief. Sie lud ihn ein, sie zu besuchen und etwas auszuruhen. Pawel hatte ohnehin die Absicht gehabt, nach Moskau zu fahren, in der leisen Hoffnung, sein Glück im ZK der KPdSU (B) zu finden, das heißt, Arbeit zu bekommen, die keine Bewegung erforderte. Jedoch auch in Moskau machte man ihm den Vorschlag, sich kurieren zu lassen. Man wollte ihn in einem guten Krankenhaus unterbringen. Er lehnte ab.
Unbemerkt verstrich die Zeit, die er bei Martha und ihrer Freundin Nadja Peterson verbrachte. Tagsüber blieb er allein, denn Martha und Nadja gingen am Morgen weg und kamen erst am Abend wieder. Pawel verschlang viele Bücher, die er bei Martha fand. Häufig bekamen sie auch Besuch.
Aus der Hafenstadt trafen Briefe ein. Die Familie Kützam bat Pawel, sie zu besuchen. Das Leben dort wurde immer unerträglicher. Sie erwarteten seine Hilfe.
Und eines Morgens war Kortschagin nicht mehr in der stillen Wohnung der Gusjatnikow-Gasse zu finden. Der Zug brachte ihn nach dem Süden, ans Meer, heraus aus dem feuchtkalten, regnerischen Herbst, zu den warmen Ufern der südlichen Krim. Pawel beobachtete, wie die Telegrafenstangen an seinem Fenster vorüberglitten. Er saß da, mit gerunzelten Brauen, und grimmige Entschlossenheit sprach aus seinen dunklen Augen.

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