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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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NEUNTES KAPITEL

Mehrere Tage wohnten sie in Moskau im Lagerraum des Archivs einer Behörde, deren Chef ihnen behilflich war, Pawel in einer Spezialklinik unterzubringen.
Erst jetzt begriff Pawel, dass es keine große Kunst war, mit gesundem, jugendlichem Körper standhaft zu sein; doch auch nun nicht zu wanken, da einen das Leben mit eisernen Ringen umklammert hielt - das war, fühlte er, eine Sache der Ehre.
Seit den Tagen, die Pawel im Lagerraum des Archivs verbracht hatte, waren anderthalb Jahre vergangen, achtzehn Monate unbeschreiblicher Leiden.
In der Klinik erklärte Professor Awerbach ihm ganz offen, dass er das Augenlicht wahrscheinlich nicht wiedergewinnen werde. In unbestimmter Zukunft, wenn die Entzündung zurückgegangen sein werde, würden die Chirurgen eine Operation seiner Pupillen versuchen. Um die Entzündung abzudämmen, wurden chirurgische Eingriffe vorgeschlagen.
Man bat ihn um seine Zustimmung, und Pawel gestattete den Ärzten, alles zu tun, was sie für nötig hielten.
In den Stunden, die er auf den Operationstischen verbrachte, während Lanzetten seinen Hals bearbeiteten, um die Nebenschilddrüsen zu entfernen, streiften ihn dreimal die dunklen Fittiche des Todes. Aber das Leben gab Kortschagin nicht her. Nach den schrecklichen Stunden des Wartens fand Taja ihren Freund totenbleich, aber doch lebendig und, wie immer, ruhig und liebevoll wieder.
»Mach dir keine Sorgen, Mädel, ich bin nicht so leicht umzubringen, ich werde noch leben und allerlei Unfug treiben, den arithmetischen Berechnungen der gelehrten Äskulapjünger zum Trotz. Was meinen Gesundheitszustand betrifft, so haben sie vollkommen recht; sie irren sich jedoch sehr, wenn sie mich für hundertprozentig arbeitsunfähig halten. Das werden wir erst noch sehen.«
Pawel hatte fest entschlossen den Weg gewählt, auf dem er in die Reihen der Erbauer des neuen Lebens zurückkehren wollte.
Der Winter war zu Ende, und der Frühling riss die Fenster auf. Der vom Blutverlust völlig entkräftete Kortschagin begriff, nachdem er die letzte Operation überstanden hatte, dass er im Krankenhaus nicht mehr bleiben konnte. So viele Monate inmitten von menschlichem Elend, von Stöhnen und Klagen der dem Tode Geweihten waren unvergleichlich schwerer als nur seine eigenen Qualen zu ertragen.
Auf den Vorschlag, sich einer neuen Operation zu unterziehen, erwiderte er kalt und schroff:
»Schluss, hab genug davon. Einen Teil meines Blutes habe ich der Wissenschaft geopfert, und das, was mir verbleibt, habe ich für andere Zwecke nötig.«
Noch am selben Tag schrieb er an das Zentralkomitee der Partei einen Brief, mit der Bitte, ihm behilflich zu sein, in Moskau zu bleiben, wo seine Frau Arbeit gefunden hatte, da jedes weitere Herumreisen für ihn sinnlos sei.
Zum ersten Mal wandte er sich an die Partei um Hilfe. Als Antwort auf seinen Brief stellte ihm der Moskauer Sowjet ein Zimmer zur Verfügung.
Pawel verließ das Krankenhaus mit dem einzigen Wunsch, nie mehr dorthin zurückkehren zu müssen.
Das bescheidene Zimmer in einer stillen Nebengasse der Kropotkinstraße erschien ihm als höchster Luxus. Und häufig, wenn er nachts erwachte, wollte er kaum daran glauben, dass das Krankenhaus irgendwo weit hinter ihm lag.
Taja wurde Parteimitglied. Beharrlich in ihrer Arbeit, blieb sie, trotz der Tragödie ihres privaten Lebens, hinter den tüchtigsten Aktivistinnen ihres Betriebes nicht zurück. Die Belegschaft schenkte dieser wortkargen Arbeiterin volles Vertrauen und wählte sie als Mitglied des Betriebsrats. Der Stolz auf seine Freundin, die sich zu einer Bolschewikin entwickelt hatte, erfreute Pawel und gab ihm einen gewissen Trost in seiner schweren Lage.
Die Ärztin Bashanowa, die in dienstlichen Angelegenheiten nach Moskau gekommen war, besuchte ihn. Sie unterhielten sich lange. Pawel sprach mit leidenschaftlicher Wärme von dem Weg, der ihn in nicht mehr allzu ferner Zukunft in die Reihen der Kämpfer zurückführen sollte.
Die Bashanowa bemerkte an seinen Schläfen einen Silberstreifen und sagte mit leiser Stimme:
»Ich sehe, Sie haben nicht wenig durchgemacht. Aber Ihren unauslöschlichen Enthusiasmus haben Sie trotzdem nicht eingebüßt. Was braucht man mehr? Es ist gut, dass Sie sich entschlossen haben, die Arbeit zu beginnen, zu der Sie sich fünf Jahre lang vorbereitet haben. Wie werden Sie aber arbeiten?«
Pawel lächelte beruhigend.
»Morgen bekomme ich eine Kartonvorlage. Ohne die kann ich nicht schreiben. Sonst geraten die Zeilen durcheinander. Ich habe lange nach einem Ausweg gesucht und habe ihn gefunden - aus dem Karton herausgeschnittene Streifen werden meinen Bleistift daran hindern, aus dem Rahmen einer geraden Zeile zu gleiten. Es ist schwer zu schreiben, ohne das Geschriebene zu sehen, jedoch nicht unmöglich. Davon habe ich mich schon überzeugt. Anfangs wollte es nicht gelingen, jetzt schreibe ich aber langsamer, ich führe jeden einzelnen Buchstaben sorgfältig aus, und so geht es ziemlich gut.«
Pawel begann zu arbeiten. Er plante ein Buch, das der heldenhaften Kotowski-Division gewidmet sein sollte.
Der Titel fand sich von selbst.
»Die Sturmgeborenen.«
Von diesem Tag an konzentrierte sich sein ganzes Leben auf seine Arbeit an diesem Buch. Langsam, Zeile um Zeile, wuchsen die Seiten an. Ganz im Bann der von ihm geschaffenen Gestalten, vergaß er alles andere. Zum ersten Mal erlebte er die Qual des Schaffens, als sich die lebendig vor ihm erstehenden, so gegenwärtigen, unvergesslichen Bilder nicht auf das Papier bannen ließen und die Zeilen blass, ohne Feuer und Leidenschaft blieben.
Alles, was er schrieb, musste er Wort für Wort im Gedächtnis behalten. Verlor er den Faden, so stockte die ganze Arbeit. Die Mutter beobachtete ihn besorgt.
Oft musste er ganze Seiten, manchmal sogar ganze Kapitel auswendig vor sich hersagen, und der Mutter schien es manchmal, als habe ihr Sohn den Verstand verloren. Solange er schrieb, wagte sie nicht, ihn zu stören. Nur wenn sie die auf den Boden gerutschten Blätter aufhob, sagte sie schüchtern:
»Du solltest dich lieber mit etwas anderem beschäftigen, Pawluscha. Wo hat man das schon gesehen, immer nur schreiben und schreiben, ohne Ende …«
Pawel lachte herzlich über die Besorgnis der Mutter und versicherte ihr, sie könne ganz beruhigt sein, bei ihm sei »vorläufig noch keine Schraube locker«.
Drei Kapitel des geplanten Buches waren fertig. Pawel sandte sie nach Odessa, an seine ehemaligen Mitkämpfer aus der Kotowski-Division, damit sie ihre Meinung äußerten. Bald darauf erhielt er von ihnen einen Brief mit günstigen Urteilen - das Manuskript jedoch ging auf dem Rückweg verloren. Die Arbeit von sechs Monaten war vernichtet. Das war für Pawel ein harter Schlag. Er bedauerte es bitter, dass er das Original des Manuskripts weggeschickt hatte, ohne Kopien davon anfertigen zu lassen. Als er Ledenew von seinem Verlust erzählte, meinte der:
»Warum bist du so unvorsichtig gewesen? Beruhige dich, jetzt nützt das Schimpfen nichts. Fang noch einmal von vorn an.«
»Aber Innokenti Pawlowitsch! Man hat mir die Arbeit von sechs Monaten geraubt, das Resultat vieler mühseliger Arbeitstage! Diese elenden Hunde!«
Ledenew war bemüht, ihn zu beruhigen.
Alles musste also von neuem begonnen werden. Ledenew besorgte Papier. Er ließ die bereits fertigen Blätter mit der Schreibmaschine abtippen. Nach anderthalb Monaten war das erste Kapitel wieder neu geschrieben.
Kortschagins hatten als Wohnungsnachbarn die Familie Alexejew. Der älteste Sohn, Alexander, war Sekretär eines der städtischen Bezirkskomitees des Kommunistischen Jugendverbandes. Er hatte eine achtzehnjährige Schwester, Galja, die eine Betriebsschule absolviert hatte. Galja war ein lebensfrohes Mädchen. Pawel beauftragte die Mutter, mit ihr zu sprechen, ob sie nicht bereit wäre, ihm als seine »Sekretärin« bei der Arbeit zu helfen.
Galja gab mit großer Bereitwilligkeit ihre Zustimmung.
Sie kam lächelnd und freundlich, und als sie erfuhr, dass Pawel ein Buch schrieb, sagte sie:
»Ich werde Ihnen gern behilflich sein, Genosse Kortschagin. Das ist doch etwas anderes, als für den Vater langweilige Rundschreiben über die Instandhaltung der Wohnungen zu schreiben.«
Seit diesem Tag ging die literarische Arbeit mit doppelter Geschwindigkeit vorwärts. Im Verlauf eines Monats war so viel geschafft worden, dass Pawel darüber selbst erstaunt war. Galjas lebhafte Teilnahme und ihr Interesse erleichterten ihm die Arbeit sehr. Ihr Bleistift glitt leise übers Papier hinweg, und die Stellen, die ihr besonders gefielen, las sie wiederholt vor, in ehrlichem Entzücken über das Geschriebene. Im Hause war sie fast der einzige Mensch, der Vertrauen zu seiner Arbeit hatte. Den anderen schien es, dass nichts dabei herauskommen würde und dass er sich nur bemühe, seine erzwungene Untätigkeit durch irgend etwas auszufüllen.
Als Ledenew, von einer Dienstreise nach Moskau zurückgekehrt, die ersten Kapitel gelesen hatte, sagte er:
»Fahr nur so fort, mein Freund. Der Erfolg ist dir sicher. Du wirst noch viel Freude erleben, Genosse Pawel. Ich bin fest davon überzeugt, dass dein Traum, wieder in die Reihen zurückzukehren, bald in Erfüllung gehen wird. Verlier nur die Hoffnung nicht, mein Sohn.«
Der Alte ging, mit großer Zufriedenheit.
Dann kam Galja. Ihr Bleistift huschte über das Papier, und neue Worte, neue Zeilen über die unvergessliche Vergangenheit reihten sich aneinander.
In jenen Momenten, wenn Pawel in seine Gedanken versank und sich der Macht der Erinnerung hingab, beobachtete Galja, wie seine Wimpern zuckten, wie sich seine Augen veränderten und die einander ablösenden Gedanken widerspiegelten. Es war schwer zu glauben, dass er blind war, denn die reinen, durch kein Fleckchen getrübten Augen zeugten von Leben.
Am Abend las sie ihm jedes Mal die Arbeit des Tages vor und sah, wie er aufmerksam lauschte, aber zuweilen die Stirn runzelte:
»Warum sind Sie denn unzufrieden, Genosse Kortschagin? Das ist doch gut geschrieben.«
»Nein, Galja, es ist nicht das Richtige.«
Wenn die eine oder die andere Seite misslungen war, begann Pawel wieder selbst zu schreiben. Durch die schmalen Streifen der Vorlage gehemmt, hielt er es manchmal nicht mehr aus und ließ das Schreiben wieder sein. Dann zerbrach er in grenzenloser Wut über das Leben, das ihm sein Augenlicht genommen hatte, die Bleistifte, und auf den wundgebissenen Lippen zeigten sich Blutspuren.
Als die Arbeit zu Ende ging, begannen häufiger als sonst verbotene Empfindungen die immer wache Willenskraft zu sprengen. Verboten waren ihm Kummer und andere einfache menschliche Gefühle, heiße und zärtliche, die jeder haben durfte, nur er nicht. Wenn er nur einem dieser Gefühle nachgeben würde, so könnte die Sache ein tragisches Ende nehmen.
Taja kehrte gewöhnlich erst spätabends aus der Fabrik heim, und nachdem sie mit der Mutter halblaut einige Worte gewechselt hatte, ging sie zur Ruhe.
Das letzte Kapitel war geschrieben. Mehrere Tage hintereinander hatte Galja ihm das Buch vorgelesen. Morgen wird das Manuskript nach Leningrad an die Kultur- und Propagandaabteilung des Gebietskomitees geschickt. Wenn man dort dem Buch »den Weg ins Leben« freigibt, so wird es einem Verlag zugestellt und dann …
Unruhig klopfte Pawels Herz. Dann … ja, dann beginnt ein neues Leben, das er sich durch Jahre angestrengter und hartnäckiger Arbeit erobert hatte.
Mit dem Schicksal des Buches entschied sich auch das Schicksal Pawels. Wenn das Manuskript für schlecht erklärt wird, dann ist es mit ihm aus. Sollte aber der Misserfolg nur ein halber sein, ein Misserfolg, den man durch weiteres Studium beheben kann, so würde er es sofort wieder anpacken.
Die Mutter gab das schwere Paket auf der Post ab. Es folgten Tage gespannter Erwartung. Noch nie in seinem Leben hatte Kortschagin mit so qualvoller Ungeduld auf Briefe gewartet wie in diesen Wochen. Er fieberte von der Morgenpost bis zur Abendpost.
Aber Leningrad schwieg.
Das Schweigen Leningrads schien Gefahr zu verheißen. Das Vorgefühl einer Niederlage wuchs mit jedem Tag, und Pawel gestand sich ein, dass eine völlige Ablehnung des Buches seinen Tod bedeuten würde. Dann konnte er nicht mehr leben. Das Leben hätte jeden Sinn verloren.
In solchen Augenblicken erinnerte er sich an den Park draußen am Meer, und wieder und wieder stellte er sich die Frage:
Hast du auch alles getan, um dich aus der eisernen Umklammerung frei zu machen, um in die Kampfreihen zurückzukehren, um dein Leben nützlich zu gestalten?
Und er antwortete:
Ja, es scheint so, alles!
Wochen vergingen. Und eines Tages, als das Warten schon unerträglich geworden war, rief die Mutter, die nicht weniger aufgeregt war als ihr Sohn, beim Betreten des Zimmers:
»Nachricht aus Leningrad!«
Es war ein Telegramm vom Gebietskomitee. Einige knappe Worte auf einem Formular:
»Roman begeistert aufgenommen. Wird sofort herausgegeben. Herzliche Glückwünsche zum Erfolg.«
Pawels Herz schlug höher. Der ersehnte Traum war Wirklichkeit geworden! Der eiserne Ring war gesprengt. Abermals - mit einer neuen Waffe - war er in die Kampfreihen, zum Leben zurückgekehrt.

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