SIEBENTES KAPITEL
Eine ganze Woche lang waren Erwachen und Schlafengehen in dem von Schützengräben und dichten Drahtverhauen umgebenen Städtchen von dem Dröhnen der Geschütze und dem Geknatter der Gewehre begleitet. Erst tief in der Nacht pflegte es ruhig zu werden. Mitunter durchbrachen vereinzelte Salven die nächtliche Stille: Man streckte beiderseits die Fühler aus. Im Morgengrauen jedoch begannen die dunklen Schlünde der Kanonen wieder böse und furchterregend zu husten. Immer wieder wurden sie hastig mit Stahl gefüttert. Der Kanonier zog an der Schnur, die Erde erbebte. Drei Kilometer hinter der Stadt sausten die Granaten brüllend, pfeifend und alles übertönend über ein von den Roten besetztes Dorf hinweg.
Im Hof eines alten polnischen Klosters standen die Batterien der Roten. Das Kloster lag mitten im Dorf auf einem Hügel.
Genosse Samostin, der Kriegskommissar der Batterie, sprang auf. Er hatte geschlafen, den Kopf an die Lafette eines Geschützes gelehnt. Den Gürtel mit der schweren Mauserpistole straff ziehend, lauschte er auf das Heulen einer Granate und wartete auf den Einschlag. Der Hof hallte von seiner hellen Stimme wider:
»Aufstehen! Morgen könnt ihr ausschlafen, Genossen, aufstehen!«
Die Artilleristen hatten neben ihren Geschützen geschlafen. Sie sprangen ebenso schnell auf die Beine wie ihr Kriegskommissar. Nur bei Sidortschuk ging das langsam. Schlaftrunken hob er den Kopf und schimpfte:
»Zum Teufel mit diesem verfluchten Pack! Kaum wird's hell, da fängt der Krawall schon wieder an. Was ist das bloß für eine niederträchtige Bande!«
Samostin lachte auf.
»Sind eben ganz unaufgeklärte Elemente, Sidortschuk. Nehmen absolut keine Rücksicht darauf, dass du noch schlafen willst.«
Der Artillerist erhob sich und brummte unzufrieden vor sich hin.
Nach einigen Minuten dröhnten bereits auf dem Klosterhof die Geschütze, und in der Stadt krepierte Granate auf Granate.
Auf dem hochragenden Schlot der Zuckerfabrik hatten ein Petljura-Offizier und ein Telefonist auf einem Brettergerüst ihren Beobachtungsstand eingerichtet. Von hier aus leiteten sie das Artilleriefeuer. Sie konnten jede Bewegung der Roten beobachten. Heute ging es bei den Bolschewiki besonders lebhaft zu. Durch den Feldstecher konnte man genau die Bewegung ihrer Abteilungen feststellen. Auf den zum Podolsker Bahnhof führenden Gleisen kam ein Panzerzug angekrochen, der ununterbrochen aus seinen Geschützen feuerte. Hinter ihm waren Schützenketten zu sehen. Schon einige Male waren die Roten zum Angriff vorgegangen und hatten versucht, die Stadt einzunehmen, aber das Sitscher Regiment hatte sich an den Zugängen festgesetzt und eingegraben, und die Schützengräben spien höllisches Feuer. Ringsum war alles von rasendem Gewehrgeknatter erfüllt. Der Lärm steigerte sich zu einem einzigen Gebrüll, sobald ein Angriff einsetzte. Von einem wahren Kugelregen empfangen, konnten die bolschewistischen Reihen die übermenschliche Anstrengung nicht aushalten und wichen zurück. Auf dem Schlachtfeld blieben reglose Gestalten liegen.
Heute wurden die Angriffe auf die Stadt immer hartnäckiger, immer häufiger. Die Luft erzitterte unter den Einschlägen. Von der Spitze des Fabrikschlotes konnte man beobachten, wie die Schützenketten der Roten sich hinwarfen, wieder aufsprangen und dann unaufhaltsam vorwärts stürmten. Die Besetzung des Bahnhofs stand unmittelbar bevor. Die Petljura-Leute hatten bereits alle ihre Kampfreserven eingesetzt, waren jedoch nicht imstande, die beim Bahnhof geschlagene Bresche aufzufüllen. Von tollkühner Entschlossenheit erfüllt, drangen die bolschewistischen Kämpfer in die Straßen am Bahnhof ein. Durch einen raschen, wuchtigen Stoß wurden die Petljura-Leute des dritten Sitscher Schützenregiments, die den Bahnhof besetzt gehalten hatten, aus ihren letzten Stellungen, den Gärten und Obstgärten der Vorstadt, herausgeschlagen. In ungeordneten, zerstreuten Haufen stürzten sie in die Stadt. Ehe sie sich wieder sammeln und Halt machen konnten, waren ihre Sperrposten im Bajonettangriff weggefegt, und die Schützenketten der Rotarmisten ergossen sich in die Straßen.
Keine Macht der Welt hätte verhindern können, dass Serjosha Brusshak den Keller verließ, wo sich seine Familie und deren Nachbarn versteckt hielten. Trotz des Protests seiner Mutter kletterte er aus dem Keller. Klirrend, nach allen Seiten schießend, raste gerade das Panzerauto »Sagaidatschny« am Haus vorüber. Panikartig rannten fliehende Petljura-Leute hinter ihm her, stoben nach allen Seiten auseinander. Einer der Sitscher Schützen kam in den Hof des Brusshakschen Hauses gerannt. In fieberhafter Hast warf er die Patronentasche, den Helm und das Gewehr weg, schwang sich über den Zaun und verschwand in den Gemüsefeldern. Serjosha warf einen Blick auf die Straße. In
der Richtung zum Südwestbahnhof flohen die Petljura-Leute. Ihr Rückzug wurde durch das Panzerauto gedeckt. Die in die Stadt führende Chaussee war menschenleer. Aber plötzlich tauchte auf der Straße ein Rotarmist auf. Er warf sich zu Boden und beschoss die Chaussee. Ihm folgte ein zweiter, ein dritter … Serjosha sah sie; sie liefen geduckt voran und schossen dabei. Ohne jede Deckung rannte ein sonnverbrannter Chinese mit entzündeten Augen daher. Über seinem Hemd hingen Patronengurte, in beiden Händen hielt er Handgranaten. Allen voran stürmte ein ganz junger Rotarmist mit einem leichten Maschinengewehr. Das war die erste Schützenkette der Roten, die in die Stadt eindrangen. Freudig erregt lief Serjosha auf die Chaussee und schrie aus Leibeskräften:
»Ein Hoch auf unsere Genossen!«
Beinah hätte ihn der Chinese vor Überraschung umgerannt. Er wollte gerade Serjosha derb anfahren, als der begeisterte Blick des Jungen ihn zurückhielt.
»Wohin Petlula geflohen?« schrie ihn der Chinese atemlos an.
Serjosha hörte jedoch nichts mehr. Er eilte in den Hof, griff nach der weggeworfenen Patronentasche mit dem Gewehr des Sitscher Schützen und rannte den Rotarmisten hinterher. Erst als bereits der Südwestbahnhof genommen war, wurde man auf ihn aufmerksam. Nachdem mehrere mit Granaten und Gewehrmunition beladene Transporte abgeschnitten und der Gegner in den Wald zurückgeworfen war, machten die Rotarmisten halt, um Atem zu schöpfen und sich zu sammeln. Ein junger Maschinengewehrschütze trat auf Serjosha zu und fragte erstaunt:
»Woher bist du, Genosse?«
»Ich bin von hier, aus der Stadt, habe nur darauf gewartet, dass ihr kommt.«
Serjosha wurde von Rotarmisten umringt.
»Ich ihn kennen«, erklärte freudig lächelnd der Chinese.
»El haben gelufen: ›Hoch, Genossen!‹ El - einel von den Unsligen! Ein gutes Junge, Bolschewik«, fügte er hinzu und klopfte Serjosha stürmisch auf die Schulter.
Serjoshas Herz schlug erregt. Sie hatten ihn sofort als einen der Ihren erkannt. Er hatte doch gemeinsam mit ihnen im Bajonettangriff den Bahnhof genommen.
Das Städtchen lebte auf. Die gequälten Einwohner krochen aus ihren Kellern hervor und eilten vor die Türen, um die Roten Truppen zu sehen. Antonina Wassiljewna und Walja entdeckten plötzlich den stolz in den Reihen der Rotarmisten marschierenden Serjosha. Er war ohne Mütze, hatte eine Patronentasche umgehängt und ein Gewehr über der Schulter.
Antonina Wassiljewna schlug vor Empörung die Hände zusammen.
Ihr Sohn, ihr Serjosha, hatte es gewagt, sich in die Kämpfe einzumischen! Dafür wird es aber noch was setzen! Man denke nur: Vor der ganzen Stadt marschiert er da mit geschultertem Gewehr! Und was soll nachher werden? Von diesen Gedanken überwältigt, schrie Antonina Wassiljewna:
»Serjosha, mach, dass du nach Hause kommst, aber augenblicklich! Ich werd's dir schon geben, du Halunke! Werde dir beibringen, was Krieg heißt!« Sie ging auf ihren Sohn los, um ihn zu packen.
Aber Serjosha, ihr Serjosha, den sie noch vor kurzem an den Ohren gezogen hatte, blickte seine Mutter streng an und warf ihr, rot vor Scham und Kränkung, entgegen:
»Schrei nicht so! Ich werde nicht von hier weggehen«, und marschierte, ohne den Schritt zu verlangsamen, an ihr vorüber.
Antonina Wassiljewna brauste auf:
»So redest du also mit deiner Mutter! Wag es nicht, dich nach alledem noch zu Hause blicken zu lassen!«
»Ich komme auch gar nicht wieder«, rief ihr Serjosha zu und wandte sich nicht einmal um.
Antonina Wassiljewna blieb völlig verwirrt auf der Straße stehen. An ihr vorüber marschierten die Reihen sonnverbrannter, staubbedeckter Kämpfer.
»Weine nicht, Mamachen! Wir machen deinen Sohn noch zum Kommissar«, rief ihr eine kräftige Stimme spöttisch zu.
Ein fröhliches Gelächter ging durch den ganzen Zug. An der Spitze der Kompanie stimmte jemand ein Lied an:
Brüder, zur Sonne, zur Freiheit,
Brüder, zum Lichte empor!
Hell aus dem dunklen Vergangnen
leuchtet die Zukunft hervor!
Mächtig fiel die ganze Kompanie ein, und mit den anderen verschmolz auch Serjoshas helle Stimme. Er hatte eine neue Familie gefunden. Und eins der Gewehre gehörte ihm, Serjosha.
Am Tor der Leszczynskischen Villa hängt eine weiße Tafel. Darauf steht ein einziges Wort: »Revolutionskomitee«.
Daneben ein leuchtendes Plakat. Ein Zeigefinger ist direkt auf die Brust des Betrachters gerichtet, und die Augen eines Rotarmisten blicken ihn fordernd an. Darunter steht: »Bist du schon in der Roten Armee?«
Diese stummen Agitatoren waren in der Nacht von Mitarbeitern der politischen Abteilung der Division angebracht worden. Daneben hing der erste Aufruf des Revolutionskomitees an alle Werktätigen der Stadt Schepetowka:
Genossen! Die proletarischen Truppen haben die Stadt genommen. Die Sowjetmacht ist wiedererrichtet. Wir fordern die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren. Die blutigen Pogromhelden sind vertrieben. Damit sie jedoch nicht wiederkehren können, damit sie endgültig vernichtet werden, rufen wir euch auf, der Roten Armee beizutreten. Unterstützt mit all euren Kräften die Macht der Werktätigen. Die militärische Macht in der Stadt liegt in den Händen des Garnisonschefs, die zivile Macht in den Händen des Revolutionskomitees.
Vorsitzender des Revolutionskomitees
Dolinnik
Neue Leute waren in der Leszczynskischen Villa aufgetaucht. Das Wort »Genosse«, für das man noch tags zuvor mit dem Leben hätte bezahlen müssen, war jetzt auf Schritt und Tritt zu hören.
Dolinnik arbeitete Tag und Nacht.
An der Tür, die in eins der kleineren Zimmer der Villa führt, klebt ein Stück Papier, auf dem mit Bleistift geschrieben steht: »Parteikomitee«. Hier arbeitet die Genossin Ignatjewa, eine ruhige, stets beherrschte Frau. Sie und Dolinnik sind von der politischen Abteilung der Division beauftragt, die Organe der Sowjetmacht ins Leben zu rufen.
Kaum ein Tag ist vergangen, und schon sitzen weitere Mitarbeiter an den Tischen, schon klappert eine Schreibmaschine. Ein Lebensmittelkommissariat ist geschaffen. Der Kommissar Pyzicki ist ein lebhafter, nervöser Mann. Pyzicki arbeitete in der Zuckerfabrik als Mechanikergehilfe. Mit außerordentlicher Beharrlichkeit bekämpfte er gleich in den ersten Tagen der Errichtung der Sowjetmacht die bourgeoisen Elemente in der Betriebsverwaltung, die ihren Hass gegen die Bolschewiki zu vertuschen suchten.
Auf der Betriebsversammlung sprach er zu den Arbeitern in polnischer Sprache harte, unversöhnliche Worte und schlug wütend mit der Faust auf den Rand des Rednerpults.
»Schluss mit allem«, sagte er, »das, was einst war, wird nie mehr wiederkehren. Unsere Väter und wir haben lang genug für Potocki geschuftet. Wir bauten denen Schlösser, und dafür zahlte uns der erlauchte Herr Graf gerade so viel, dass wir nicht bei der Arbeit vor Hunger krepierten.
Wie viele Jahre sitzen uns schon die Grafen Potocki und die Fürsten Sanguschko im Nacken? Sind es vielleicht wenig polnische Arbeiter, die Potocki unter sein Joch zwang, sind es wenig Russen, wenig Ukrainer? Und nun spuken unter diesen Arbeitern Gerüchte, dass die Sowjetmacht alle Polen mit eiserner Faust vernichten werde.
Das ist eine gemeine Verleumdung, Genossen, von den Speichelleckern des Grafen verbreitet! Noch nie hat es für die Arbeiter aller Nationalitäten solche Freiheiten gegeben wie jetzt. Alle Proletarier sind Brüder, aber die Pans, die werden wir schon beim Wickel kriegen, da könnt ihr sicher sein.« Seine Hand beschrieb einen Bogen und fiel hart auf den Rand des Rednerpults. »Und wer zwingt uns, das Blut unserer Brüder zu vergießen? Die Könige und Edelleute schickten seit jeher die polnischen Bauern in den Krieg, und immer überfiel und vernichtete ein Volk das andere - wie viele Menschen da zugrunde gingen, wie viel Unheil angerichtet wurde! Und wer brauchte das, etwa wir? Aber bald wird damit Schluss gemacht. Für dieses Pack hat jetzt die letzte Stunde geschlagen. Die Bolschewik! haben der ganzen Welt die für die Bourgeoisie so furchtbaren Worte verkündet: ›Proletarier aller Länder, vereinigt euch!‹ In diesen Worten liegt unsere Rettung, unsere Hoffnung auf ein glückliches Leben, denn ein Arbeiter soll dem andern ein Bruder sein. Tretet der Kommunistischen Partei bei, Genossen!
Wir werden auch eine polnische Republik haben, aber eine Sowjetrepublik ohne die Potockis, die wir mit der Wurzel ausrotten und vernichten werden, und in diesem Sowjetpolen werden wir selbst die Herren sein. Wer von euch kennt nicht den Bronik Ptaszinski? Er ist vom Revolutionskomitee zum Kommissar unseres Betriebes ernannt worden. ›Ein Nichts zu sein, tragt es nicht länger, alles zu werden, strömt zuhauf!‹ Auch unser Freudentag wird kommen, Genossen, hört nur nicht auf diese versteckt lauernden Schlangen! Und wenn wir Arbeiter die Sache mit unserem Vertrauen unterstützen, so werden wir die Brüderlichkeit aller Völker in der ganzen Welt organisieren!«
Als Pyzicki von der Tribüne stieg, bekundete die Jugend lebhaft ihre Zustimmung.
Nur die älteren Leute hatten Angst, ihre Meinung zu sagen. Wer weiß? Vielleicht werden die Bolschewiki morgen den Rückzug antreten, und dann wird man für jedes seiner Worte teuer bezahlen müssen. Selbst wenn man nicht an den Galgen gerät, wird man bestimmt aus dem Betrieb gejagt.
Kommissar für Volksbildungswesen ist ein Lehrer - der magere, schlanke Tschernopysski. Er ist vorläufig der einzige von der ortsansässigen Lehrerschaft, der zu den Bolschewiki hält.
Gegenüber dem Revolutionskomitee ist eine Sonderkompanie untergebracht, deren Rotarmisten im Revolutionskomitee Dienst tun. Am Abend wird im Garten vor dem Eingang ein Maxim-Maschinengewehr aufgestellt. Daneben halten zwei Soldaten mit Gewehren Wache.
Als die Genossin Ignatjewa ins Revolutionskomitee ging, wurde sie auf einen ganz jungen Rotarmisten aufmerksam und fragte ihn:
»Wie alt sind Sie, Genosse?«
»Sechzehn.«
»Sind Sie hier vom Ort?«
Der Rotarmist lächelte:
»Ja, ich bin erst vorgestern während des Kampfes der Roten Armee beigetreten.«
Die Genossin Ignatjewa betrachtete ihn aufmerksam: »Was ist Ihr Vater?«
»Hilf smaschinist.«
Dolinnik betrat mit einem der Kommandeure den Garten. Die Genossin Ignatjewa wandte sich an ihn: »Hier habe ich einen für das Bezirkskomitee des Jugendverbandes gefunden. Er ist von hier.«
Dolinnik warf einen raschen Blick auf den Jungen.
»Wie heißt du? - Ach, bist ja der Sohn von Sachar. Na ja, dann fang mal an, die Jungen zusammenzutrommeln.«
Serjosha blickte die beiden erstaunt an.
»Und wie wird's mit der Kompanie?«
Dolinnik antwortete, als er schon die Stufen hinauf lief:
»Das bringen wir schon in Ordnung.«
Am Abend des zweiten Tages wurde in der Stadt ein Ortskomitee des Kommunistischen Jugendverbandes der Ukraine geschaffen.
Das neue Leben brach sich schnell, unerwartet schnell Bahn. Serjosha ging ganz darin auf. Es riss ihn in unwiderstehlichem Strudel mit sich fort. Serjosha hatte seine Familie ganz vergessen, obwohl sie sich so in der Nähe befand.
Er, Serjosha Brusshak, war ein Bolschewik! Vielleicht zum zehnten Mal zog er das weiße Papierstreifchen aus der Hosentasche, wo auf einem Vordruck des Komitees der Kommunistischen Partei (Bolschewiki) der Ukraine geschrieben stand, dass er, Serjosha, ein Jungkommunist und Sekretär des Jugendverbandskomitees ist.
Serjosha hatte jetzt tagelang mit Aufträgen des Revolutionskomitees zu tun. Eben jetzt musste er zu der Genossin Ignatjewa. Sie sollen gemeinsam zum Bahnhof fahren, wo sie in der politischen Abteilung der Division Literatur und Zeitungen für das Revolutionskomitee entgegennehmen müssen. Eilig lief der Junge auf die Straße.
Einer von der politischen Abteilung erwartete sie mit dem Auto vor dem Revolutionskomitee.
Bis zum Bahnhof war es weit. Der Stab und die politische Abteilung der Ersten Ukrainischen Sowjetdivision waren dort in Eisenbahnwaggons untergebracht. Die Ignatjewa benutzte die Fahrt, um Serjosha ins Gebet zu nehmen.
»Was hast du auf deinem Gebiet geleistet? Hast du eine Organisation geschaffen? Du musst unter deinen Freunden, unter der Arbeiterjugend agitieren. Man muss demnächst eine Ortsgruppe der Kommunistischen Jugend gründen. Morgen wollen wir einen Komsomolaufruf verfassen und drucken lassen. Dann werden wir im Theater eine Jugendkundgebung veranstalten. Ich werde dich in der politischen Abteilung der Division mit der Genossin Ustinowitsch bekannt machen. Sie leitet die Arbeit unter den Jugendlichen.«
Die Genossin Ustinowitsch war, wie sich herausstellte, ein achtzehnjähriges Mädchen mit kurzem dunklem Haar, in einer neuen feldgrauen Bluse, die in der Taille von einem schmalen Riemen zusammengehalten war. Serjosha erfuhr von ihr sehr viel Neues und erhielt die Zusicherung, dass sie ihn in seiner Arbeit unterstützen werde. Beim Abschied belud sie ihn mit einem Haufen Literatur und gab ihm außerdem noch ein kleines Buch: das Programm und die Statuten des Kommunistischen Jugendverbandes.
Spätabends kehrten sie ins Revolutionskomitee zurück. Im Garten erwartete ihn Walja. Sie überschüttete ihn mit einem Schwall von Vorwürfen:
»Schämst du dich denn nicht? Du kennst uns wohl gar nicht mehr? Tagtäglich weint die Mutter deinetwegen, und der Vater läuft verärgert umher. Das gibt noch einen Mordsskandal.«
»Nichts da, es wird keinen Skandal geben, Walja. Ich habe keine Zeit, nach Hause zu kommen. Mein Ehrenwort, ich hab dazu keine Zeit, auch heute nicht. Aber mit dir habe ich etwas zu besprechen. Komm mal mit.«
Walja erkannte ihren Bruder kaum wieder. Er hatte sich völlig verändert. Es war, als wäre er mit elektrischer Energie geladen. Er drückte die Schwester auf einen Stuhl und begann gleich ohne viel Umschweife:
»Es handelt sich um folgendes: Du musst in den Komsomol eintreten. Du verstehst das nicht? In den Kommunistischen Jugendverband. Ich bin dort so etwas wie der Vorsitzende. Glaubst es wohl nicht? Da, lies!«
Walja las und schaute den Bruder verlegen an.
»Was soll ich denn im Jugendverband machen?«
Serjosha sperrte vor Verwunderung Mund und Augen auf.
»Was du da tun sollst? Aber, es gibt ja eine Unmasse Arbeit, meine Liebe. Ich mache nächtelang kein Auge zu. Agitieren muss man. Die Genossin Ignatjewa sagt, wir sollen alle Jugendlichen im Theater versammeln und ihnen von der Sowjetmacht erzählen. Und ich, sagt sie, soll dort eine Rede halten. Ich glaube zwar, dass daraus nichts wird, denn ich habe natürlich keine Ahnung, wie man so etwas macht. Da werde ich mich bestimmt blamieren. Aber nun sag mir -wie denkst du über deinen Eintritt in den Jugendverband?«
»Ich weiß nicht. Die Mutter wird dann sicher ganz außer sich sein.«
»Du darfst dich nicht nach der Mutter richten, Walja«, erwiderte Serjosha. »Das versteht sie eben nicht. Sie will nur, dass ihre Kinder bei ihr bleiben. Gegen die Sowjetmacht hat sie nichts, sie sympathisiert doch mit ihr. Sie meint aber, dass andere an die Front gehen sollen, nur nicht ihre Kinder. Ist das etwa richtig? Weißt du noch, was uns Shuchrai erzählt hat? Pawka, der hat sich nicht nach seiner Mutter gerichtet. Jetzt haben wir das Recht erhalten, so zu leben, wie es uns zukommt. Du wirst doch nicht etwa nein sagen, Waljuscha? Wie fein wäre es, wenn du gleich ja sagtest! Du könntest unter den Mädchen und ich unter den Jungen arbeiten. Den rothaarigen Lauser, den Klimka, werde ich mir noch heute vornehmen. Nun, wie steht's, Walja, kommst du zu uns oder nicht? Hier hast du ein Büchlein über diese Sache.«
Er zog das kleine Buch aus der Tasche und gab es ihr. Walja, die kein Auge von dem Bruder ließ, fragte flüsternd:
»Und was wird geschehen, wenn die Petljura-Leute wiederkommen?«
Serjosha dachte zum ersten Mal über diese Frage nach.
»Dann werde ich natürlich zusammen mit den anderen abziehen. Aber was wird aus dir werden? Die Mutter wird dann wirklich sehr unglücklich sein.«
Er schwieg eine Weile.
»Serjosha, du meldest mich so als Mitglied an, dass es weder die Mutter noch sonst jemand erfährt, nur ich und du sollen es wissen. Und helfen werde ich euch in allem. So wird es das beste sein.«
»Du hast recht, Walja.«
Die Genossin Ignatjewa kam ins Zimmer.
»Das ist meine Schwester Walja«, stellte Serjosha vor.
»Ich habe mit ihr über unsere Sache gesprochen. Sie ist für uns völlig geeignet. Mit unserer Mutter ist das nicht so einfach, verstehen Sie? Kann man Walja jetzt als Mitglied aufnehmen, ohne dass jemand davon erfährt? Denn sollte es vielleicht noch dazu kommen, dass wir uns zurückziehen müssen, so nehme ich natürlich ein Gewehr und marschiere mit. Ihr aber tut die Mutter leid.«
Die Genossin Ignatjewa saß auf einer Tischkante und hatte aufmerksam zugehört.
»Gut, wir werden es so machen.«
Das Theater war brechend voll. Lebhaft plaudernde Jugendliche, die von den in der ganzen Stadt angeschlagenen Bekanntmachungen aufgefordert worden waren, sich an der bevorstehenden Versammlung zu beteiligen, füllten den Saal bis zum letzten Platz. Es spielte ein Blasorchester der Arbeiter aus der Zuckerfabrik. Die meisten Anwesenden waren Gymnasiastinnen, Gymnasiasten und Schüler aus den höheren Klassen der Mittelschule. Sie alle waren weniger von der Versammlung als von der darauf folgenden Vorstellung angelockt worden.
Endlich hob sich der Vorhang, und auf der Bühne erschien der soeben eingetroffene Sekretär des Kreiskomitees, Genosse Rasin.
Der kleine, magere und spitznasige Mann lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Seine Rede wurde mit großem Interesse aufgenommen. Er sprach von dem Kampf, der im ganzen Land tobte, und forderte die Jugendlichen auf, sich um die Kommunistische Partei zu scharen. Er sprach routiniert, doch seine Rede enthielt zu viele Schlagworte, wie »orthodoxe Marxisten«, »Sozialchauvinisten« und ähnliche, die die Zuhörer natürlich nicht verstanden.
Als er geendet hatte, erscholl lauter Beifall. Er erteilte Serjosha das Wort und verließ die Bühne, um wieder wegzufahren.
Jetzt geschah das, was Serjosha gefürchtet hatte: Eine richtige Rede brachte er nicht zustande. Was soll ich bloß sagen, worüber sprechen? Er mühte sich ab, suchte nach Worten, die er nicht fand.
Genossin Ignatjewa half ihm, indem sie ihm vom Tisch aus zuflüsterte:
»Sprich darüber, wie eine Zelle organisiert werden soll.«
Sofort ging Serjosha zu den praktischen Maßnahmen über, die ergriffen werden müssten.
»Ihr habt schon alles gehört, Genossen. Jetzt müssen wir eine Zelle gründen. Wer von euch unterstützt diesen Vorschlag?«
Im Saal trat Stille ein.
Rita Ustinowitsch kam ihm zu Hilfe. Sie erzählte den Zuhörern, wie die Jugend in Moskau organisiert ist.
Verlegen stand Serjosha daneben.
Er war sehr aufgeregt über das gleichgültige Verhalten der Anwesenden und blickte finster in den Saal. Den Ausführungen der Ustinowitsch wurde wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Saliwanow flüsterte Lisa Sucharko etwas zu und blickte die Ustinowitsch verächtlich an. In der vordersten Reihe saßen die Gymnasiastinnen der höheren Klassen mit gepuderten Naschen. Sie warfen nach allen Seiten kokette Blicke und unterhielten sich miteinander. In der Ecke, am Bühnenaufgang, stand eine Gruppe junger Rotarmisten. Unter ihnen gewahrte Serjosha den ihm bekannten jungen Maschinengewehrschützen. Er saß am Rande der Rampe, rutschte nervös hin und her und blickte voller Hass auf die auffallend elegant gekleidete Lisa Sucharko und auf Anna Admowskaja, die, ohne sich den geringsten Zwang aufzuerlegen, mit ihren Verehrern plauderte.
Rita Ustinowitsch, die spürte, dass man ihr nicht zuhörte, beendete schnell ihre Rede und überließ der Genossin Ignatjewa ihren Platz, deren ruhige Worte die Zuhörer zum Schweigen brachten.
»Meine jungen Genossen!« sagte sie. »Jeder von euch soll über das, was er hier gehört hat, nachdenken. Ich bin davon überzeugt, dass es unter euch Genossen gibt, die sich nicht als Zuschauer, sondern als aktive Kämpfer an der Revolution beteiligt werden. Die Tore stehen euch offen, die Entscheidung liegt in eurer Hand. Wir möchten, dass ihr euch aussprecht. Wer wünscht das Wort?«
Im Saal trat abermals Stille ein. Aus einer der hinteren Reihen meldete sich jemand:
»Ich bitte ums Wort!«
Mischa Lewtschukow drängte sich zur Bühne vor. Er schielte ein wenig und wirkte wie ein tapsiger junger Bär.
»Wenn die Sache so steht, dass man den Bolschewiki helfen muss, so bin ich dabei. Serjosha kennt mich. Ich will Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes werden.«
Serjosha lächelte freudig.
»Nun seht ihr, Genossen!« rief er plötzlich, auf die Mitte der Bühne vorstürzend.
»Ich hab's doch gleich gesagt: Mischa, der gehört zu uns. Sein Vater war ein Weichensteller, er ist von einem Waggon überfahren worden. Deshalb hat Mischa seine Schulausbildung nicht beenden können. Aber in unserer Sache hat er sich gleich zurechtgefunden, obwohl er kein Gymnasium absolviert hat.«
Im Saal herrschte Unruhe, Rufe wurden laut. Der Gymnasiast Okuschew bat ums Wort. Er war der Sohn eines Apothekers und hatte sorgfältig gepflegtes gekräuseltes Haar. Sein Jackett zurechtziehend, begann er:
»Entschuldigt, Genossen, ich verstehe nicht, was ihr von uns wollt. Wir sollen uns mit Politik beschäftigen? Und wann sollen wir lernen? Wir müssen doch das Gymnasium absolvieren. Eine andere Sache wäre es, wenn man einen Sportverein gründete oder einen Klub, wo man sich treffen, wo man lesen könnte. Aber sich mit Politik beschäftigen und dann dafür an den Galgen kommen, ich danke für Obst und Südfrüchte! Ich glaube, damit wird sich wohl niemand einverstanden erklären.«
Im Saal erscholl Gelächter. Okuschew sprang von der Bühne und setzte sich. Seine Stelle nahm der junge Maschinengewehrschütze ein. Wütend schob er die Mütze in die Stirn, musterte mit grimmigen Blicken die Reihen und schrie in den Zuschauerraum hinein:
»Ihr lacht noch, Gesindel?«
Seine Augen funkelten wie glühende Kohlen. Er bebte vor Wut, holte tief Atem und sagte:
»Ich heiße Sharki - Iwan Sharki. Ich habe weder meinen Vater noch meine Mutter gekannt. War ein Obdachloser, hab als Bettler an den Gartenzäunen herumgelungert. Musste Hunger leiden und hatte nirgends eine Zuflucht. Ein Hundeleben war das, mir ging es nicht so wie euch Muttersöhnchen. Und da ist die Sowjetmacht gekommen, und die Rotarmisten haben mich aufgelesen. Sie haben mich wie ihren Sohn aufgezogen - die ganze Kompanie. Kleider und Schuhe haben sie mir gegeben, haben mir Lesen und Schreiben beigebracht und, was die Hauptsache ist, haben mich das menschliche Dasein begreifen gelehrt. Durch sie bin ich ein Bolschewik geworden und werde es mein Leben lang bleiben. Ich weiß sehr gut, worum der Kampf geht: Er wird für uns, für die Armen, für die Arbeiterschaft geführt. Ihr wiehert hier wie die Hengste. Aber wisst ihr, dass draußen vor der Stadt zweihundert Genossen liegen geblieben, in den Tod gegangen sind …?« Sharkis Stimme zitterte wie die gespannte Saite einer Geige. »Sie haben ohne Zaudern ihr Leben für unser Glück, für unsere Sache geopfert ..… Überall im Land steht es so, an allen Fronten - und ihr spielt euch hier auf! Wozu appelliert ihr an die da, Genossen«, er wandte sich plötzlich dem Präsidium zu. »Verstehen denn die was davon? Nein! Der Satte ist niemals ein Freund der Hungrigen. Hier hat sich nur ein einziger gefunden, und der ist ein Armer, eine Waise. Aber wir werden auch ohne euch fertig«, fuhr er mit Hasserfüllter Stimme die Zuhörer an. »Wir denken nicht daran, euch zu bitten! Den Teufel scheren wir uns um solche, wie ihr seid! So was kann man nur mit dem Maschinengewehr zur Vernunft bringen!« schrie er zum Schluss ganz außer Atem, sprang von der Bühne und ging, ohne jemanden eines Blickes zu würdigen, dem Ausgang zu.
Von den Präsidiumsmitgliedern blieb niemand zu der darauf folgenden Vorstellung.
Auf dem Weg zum Revolutionskomitee sagte Serjosha bekümmert:
»Eine dumme Geschichte ist dabei herausgekommen. Sharki hat ganz recht. Nichts haben wir bei diesen Gymnasiasten erreicht. Nur die Wut kann man kriegen.«
»Das ist auch kein Wunder«, unterbrach ihn die Ignatjewa. »Es gibt ja fast keine proletarische Jugend hier. Die meisten sind entweder Kleinbürger oder Kinder von Intellektuellen. Man muss unter den Arbeitern agitieren. Stütz dich auf das Sägewerk und auf die Zuckerfabrik. Trotzdem wird uns die Versammlung Nutzen bringen. Unter den Schülern gibt es auch gute Kerle.«
Rita Ustinowitsch pflichtete ihr bei:
»Wir haben die Aufgabe, Serjosha, unsere Ideen, unsere Losungen unermüdlich jedem klarzumachen. Die Partei muss alle Werktätigen auf jedes neue politische Ereignis hinweisen. Wir werden noch viele Versammlungen, Sitzungen und Konferenzen abhalten. Die politische Abteilung der Division wird am Bahnhof ein Sommertheater eröffnen. In den nächsten Tagen trifft der Agitationszug ein, dann werden wir mit Hochdruck arbeiten. Denkt daran, Lenin hat gesagt: ›Wir werden nicht siegen, wenn wir nicht die Millionenmassen der Werktätigen in den Kampf einbeziehen.‹«
Serjosha begleitete am späten Abend Rita Ustinowitsch zum Bahnhof. Beim Abschied drückte er ihr fest die Hand und hielt sie einige Sekunden lang in der seinen. Ein leichtes Lächeln huschte über Ritas Lippen.
Als er in die Stadt zurückging, bog er unterwegs zu seiner elterlichen Wohnung ab. Die Vorwürfe der Mutter ließ Serjosha ohne ein Wort der Erwiderung über sich ergehen. Als jedoch auch der Vater ihn zu schelten begann, änderte er seine passive Haltung und brachte Sachar Wassiljewitsch sofort in Verlegenheit.
»Hör mal, Vater, hast du damals, als ihr unter den Deutschen gestreikt und den Wachposten auf der Lokomotive erschlagen habt, an deine Familie gedacht? Du hast an sie gedacht, jawohl. Aber trotzdem hast du so gehandelt, weil dich dein proletarisches Gewissen dazu gezwungen hat. Ich habe meine Angehörigen auch nicht vergessen. Ich weiß, dass man euch meinetwegen ver-
folgen wird, falls wir abziehen müssen. Aber wenn wir siegen, werden wir die Macht haben. Zu Hause sitzen kann ich nicht, Vater, das verstehst du doch selbst sehr gut. Wozu also die Aufregung? Ich arbeite für eine gute Sache, du solltest mich dabei unterstützen, mir helfen, und statt dessen machst du mir Vorwürfe. Wollen wir uns lieber vertragen, Vater, dann wird auch die Mutter nicht mehr schimpfen.« Überzeugt von der Richtigkeit seiner Ansicht, blickte er den Vater mit seinen klaren blauen Augen zärtlich lächelnd an.
Sachar Wassiljewitsch rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, brummelte etwas in seinen dichten, borstigen Schnurrbart und lächelte schließlich, dass man seine gelblichen Zähne sehen konnte.
»Ach so, du spekulierst auf mein Klassenbewusstsein, du Schlingel? Du glaubst, weil du eine Pistole umgehängt hast, kann ich dich nicht mehr mit dem Stock verprügeln?«
In seiner Stimme lag jedoch keine Drohung. Nach einem kurzen, verlegenen Schweigen streckte er dem Sohn entschlossen die schwielige Hand entgegen und fügte hinzu:
»Na, wenn du schon einmal mitmachst, Serjosha, will ich dir nicht im Wege sein. Aber vergiss uns nicht ganz, lass dich ab und zu mal sehen.«
Nacht. Durch die halbgeöffnete Tür fällt ein schmaler Lichtstrahl auf die Stufen. In dem großen Zimmer mit den Plüschmöbeln sind um den breiten Schreibtisch des Advokaten fünf Menschen versammelt. Sitzung des Revolutionskomitees. Anwesend sind Dolinnik, Ignatjewa, der Tschekavorsitzende Timoschenko und zwei andere Genossen vom Revolutionskomitee - der lange Eisenbahner Schudik und der plattnasige Ostaptschuk vom Depot.
Dolinnik beugte sich über den Tisch zur Genossin Ignatjewa und richtete den Blick unmittelbar auf sie. Heiser, Wort für Wort betonend, sagte er:
»Die Front braucht Verpflegung. Die Arbeiter müssen auch zu essen haben. Nachdem wir hier angekommen sind, haben die Händler und Spekulanten sofort die Preise in die Höhe getrieben. Sowjetgeld wird nicht angenommen, sie verkaufen nur gegen die alten zaristischen Banknoten oder gegen Kerenski-Scheine. Heute noch müssen wir Höchstpreise festsetzen. Wir wissen natürlich sehr gut, dass keiner von diesen Spekulanten zu festgesetzten Preisen verkaufen wird. Sie werden alles verstecken. Dann werden wir Haussuchungen vornehmen und alle Waren requirieren. Man darf sich hier nicht auf der Nase herumtanzen lassen. Wir können nicht dulden, dass die Arbeiter weiter hungern. Die Genossin Ignatjewa warnt uns, dass wir den Bogen nicht überspannen sollen. Das ist - muss ich sagen - eine intellektuelle Weichherzigkeit. Du musst nicht beleidigt sein, Soja. Ich sage nur, was wirklich wahr ist. Dabei handelt es sich hier ja gar nicht um die kleinen Krämer. Man hat mir heute gemeldet, dass sich im Haus des Gastwirts Boris Soon ein Geheimkeller befindet. Dort haben die Besitzer der großen Geschäfte noch riesige Lebensmittelvorräte versteckt.« Er schaute Timoschenko vielsagend mit einem giftig-spöttischen Lächeln an.
»Von wem hast du denn das erfahren?« fragte dieser ganz verdutzt. Es ärgerte ihn, dass Dolinnik immer alles früher wusste als er selbst, obwohl gerade er in erster Linie darüber hätte informiert sein müssen.
»Hehe«, lachte Dolinnik.
»Ja, Freundchen - meinem Blick entgeht eben nichts. Ich bin nicht nur über diesen Vorratskeller informiert, ich weiß sogar, dass du gestern mit dem Chauffeur des Divisionskommandeurs ein halbes Fläschchen Selbstgebrannten verputzt hast.«
Timoschenko rutschte auf seinem Stuhl hin und her, und sein gelbliches Gesicht lief rot an.
»Na, so ein Aas!« stieß er begeistert hervor. Als er aber das sich plötzlich verfinsternde Gesicht Soja Ignatjewas sah, verstummte er sofort. So ein Mordskerl, dieser Tischler! Der scheint seine eigene Tscheka aufgemacht zu haben, dachte Timoschenko und betrachtete den Vorsitzenden des Revolutionskomitees.
»Ich habe es von Serjosha Brusshak erfahren«, fuhr Dolinnik fort.
»Er hat einen Freund, der früher in einer Bahnhofswirtschaft gearbeitet hat.
Dem haben die Köche erzählt, dass Soon sie früher mit allen notwendigen Lebensmitteln in unbegrenzter Menge beliefert hat. Und gestern hat Serjosha genaue Nachricht gebracht: Es gibt so einen Keller, man muss ihn nur ausfindig machen. Timoschenko, nimm dir ein paar Burschen und Serjosha mit. Heute noch muss man das alles herausbekommen. Wenn uns das gelingt, werden wir die Arbeiter und die Division versorgen können.«
Eine halbe Stunde später betraten acht Bewaffnete das Haus des Gastwirts, zwei andere blieben auf der Straße am Eingang stehen.
Der Gastwirt, ein untersetzter Mann, dick wie eine Tonne, mit roten Borsten im Gesicht, humpelte auf seinem Holzbein herbei und scharwenzelte diensteifrig vor den Ankömmlingen. In seinem heiseren Bass fragte er:
»Was wünschen Sie, Genossen? Warum zu so später Stunde?« Hinter ihm standen seine Töchter, die sich in aller Eile ihre Morgenröcke umgeworfen hatten und jetzt blinzelnd in die Taschenlampe Timoschenkos blickten. Im Nachbarzimmer zog sich die wohlbeleibte Gastwirtsgattin laut jammernd an. Timoschenko erklärte kurz:
»Wir müssen eine Haussuchung vornehmen.«
In einem Kämmerchen neben der Küche lag das Dienstmädchen des Gastwirts m einem gesunden Schlaf. Sie schlief so fest, dass sie die Eintretenden nicht hörte. Behutsam weckte Serjosha sie.
»Du bist hier in Stellung?« fragte er das schlaftrunkene Mädchen.
Sie begriff nicht, worum es sich handelte, und antwortete verwundert, indem sie sich die Decke bis an die Schultern hochzog und mit der Hand die Augen vor dem Licht schützte:
»Ja, ich diene hier. Und wer seid ihr?« Serjosha sagte es ihr und ging hinaus, nachdem er sie aufgefordert hatte, sich anzukleiden.
In dem geräumigen Gastzimmer verhörte Timoschenko den Wirt. Aufgeregt keuchte und geiferte der Mann:
»Was wollen Sie bloß von mir? Ich habe keinen zweiten Keller. Sie verschwenden Ihre Zeit. Ich versichere Ihnen: Es ist nutzlos. Ich habe mal eine Gastwirtschaft gehabt, aber jetzt bin ich ein armer Mann. Die Petljura-Leute haben mich ausgeplündert, sie hätten mich um ein Haar ermordet. Ich freue mich sehr über die Sowjetmacht, und alles, was ich besitze, liegt offen vor Ihnen.« Er breitete seine kurzen dicken Arme aus, seine blutgeäderten Augen wanderten von dem Tschekavorsitzenden zu Serjosha und von Serjosha irgendwohin in die Ecke und zur Zimmerdecke.
Timoschenko biss sich nervös auf die Lippen.
»Also, Sie wollen noch immer nicht sagen, wo sich der Keller befindet? Ich fordere Sie zum letzten Mal auf, ihn mir zu zeigen!«
»Ach, was wollen Sie nur von uns, Genosse Kommandeur«, mischte sich jetzt die Gastwirtsgattin ins Gespräch.
»Wir hungern ja selber. Man hat uns alles weggenommen.« Vergebens bemühte sie sich, ein paar Tränen hervorzuquetschen.
»Sie hungern, aber ein Dienstmädchen haben Sie«, bemerkte Serjosha spöttisch.
»Ach, was ist das schon für ein Dienstmädchen! Es ist einfach ein armes Mädchen, das bei uns lebt, weil sie nicht weiß, wohin. Christina kann es Ihnen ja selbst erzählen.«
»Na schön«, schrie der ungeduldig gewordene Timoschenko.
»Machen wir uns also an die Arbeit!«
Jeder Fußbreit Boden wurde abgesucht. Der geräumige Schuppen, der bis oben hin mit Holz gefüllt war, die Lagerräume, die Küche und ein großer Keller - alles wurde aufs sorgfältigste untersucht. Aber von einem Geheimkeller war keine Spur zu finden.
Als es draußen schon tagte, war die Haussuchung in der Gastwirtschaft noch immer nicht beendet. Wütend über den Misserfolg der mehrstündigen Arbeit beschloss Timoschenko, das Ganze aufzugeben.
Als man schon gehen wollte, flüsterte das Dienstmädchen Serjosha unauffällig zu:
»Sicher in der Küche, im Ofen.«
Zehn Minuten später wurde in dem sofort aufgebrochenen russischen Ofen eine eiserne Falltür entdeckt. Nach einer Stunde fuhr bereits ein mit Fässern und Säcken beladenes Zweitonnenlastauto vom Haus des Gastwirts ab, von einer Menge Schaulustiger umringt.
An einem heißen Sommertag kehrte Maria Jakowlewna mit einem Bündelchen in der Hand vom Bahnhof heim. Sie weinte, als Artjom ihr von Pawel erzählte. Schwere Tage standen ihr bevor. Es fehlte an allem Notwendigen, und so entschloss sie sich, für die Rotarmisten zu waschen, wofür ihr diese eine Rotarmistenration verschafften.
Eines Abends hörte die Mutter, wie Artjom schneller als gewöhnlich am Fenster vorüber und ins Haus ging. Er öffnete die Tür und rief bereits von der Schwelle:
»Ein Brief von Pawka!«
Lieber Artjom! Ich teile Dir mit, dass ich lebe, obwohl ich nicht ganz gesund bin. Eine Kugel hat mich an der Hüfte verwundet, aber ich erhole mich schon wieder. Der Doktor sagt, dass der Knochen nicht verletzt ist. Mach Dir meinetwegen keine Sorgen, alles wird in Ordnung kommen. Vielleicht erhalte ich Urlaub, dann werde ich Euch nach meiner Entlassung aus dem Lazarett besuchen. Ich bin jetzt Rotarmist in der Kavalleriebrigade des Genossen Kotowski, über dessen Heldentum Ihr sicher gehört habt. Solche Menschen wie ihn habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen; ich verehre meinen Brigadekommandeur sehr. Ist Mutter wieder zu Hause? Wenn ja, so grüße sie herzlichst von mir. Ich lass sie um Verzeihung bitten wegen der Sorgen, die ich ihr gemacht habe.
Dein Bruder Pawel
Artjom, geh zum Oberförster und erzähl dort von dem Brief.
Maria Jakowlewna weinte lange, als sie den Brief gelesen hatte. Pawel hatte nicht einmal angegeben, in welchem Spital er lag.
Serjosha suchte auf dem Bahnhof häufig den grünen Eisenbahnwaggon mit der Aufschrift »Agitations- und Propagandasektor der politischen Abteilung der Division« auf. Hier arbeiteten in einem kleinen Abteil die Genossinnen Ustinowitsch und Ignatjewa, letztere stets mit einer Zigarette im Mund und einem leisen, verschmitzten Lächeln um den Lippen.
Unmerklich freundete sich der junge Komsomolsekretär mit Rita Ustinowitsch an. Außer den Literatur- und Zeitungspaketen nahm er jedes Mal ein unklares Gefühl von Freude über die kurzen Begegnungen vom Bahnhof mit.
Tagtäglich war das von der politischen Abteilung der Division eröffnete Theater voll von Rotarmisten und Arbeitern. Auf dem Gleis stand, mit bunten Plakaten beklebt, der Agitationszug der 12. Armee. Tag und Nacht herrschte in diesem Zug reges Leben und Treiben.
Die Druckerei arbeitete, brachte Zeitungen, Flugblätter, Proklamationen heraus. Die Front war nicht mehr weit. Eines Abends kam Serjosha zufällig ins Theater. Inmitten der Rotarmisten entdeckte er Rita Ustinowitsch. Spätnachts begleitete er sie zum Bahnhof, wo die Funktionäre der politischen Abteilung der Division wohnten. Zu seiner eigenen Überraschung kam es Serjosha plötzlich über die Lippen:
»Genossin Rita, ich weiß selbst nicht, warum möchte ich dich nur immer sehen?« Und nach einer kleinen Pause:
»Es ist so schön, mit dir zusammen zu sein. Immer wenn wir beieinander waren, fühle ich mich wie neu belebt und möchte dann ununterbrochen arbeiten.«
Rita verlangsamte einen Augenblick ihren Schritt.
»Hör mal, Genosse Brusshak. Eins soll für die Zukunft ausgemacht sein. Nämlich, dass du nicht in lyrische Ergüsse verfällst. Ich mag das nicht.«
Serjosha wurde rot wie ein Schuljunge, der vom Lehrer einen Verweis bekommen hat.
»Ich habe mit dir wie mit einem Freund gesprochen«, erwiderte er. »Und du... Was habe ich denn Konterrevolutionäres gesagt? Ich werde in Zukunft natürlich nicht mehr so mit dir reden, Genossin Ustinowitsch.«
Er gab ihr hastig die Hand und rannte im Laufschritt der Stadt zu.
Mehrere Tage lang ließ sich Serjosha nicht auf dem Bahnhof blicken. Als ihn die Ignatjewa rufen ließ, entschuldigte er sich damit, dass er viel zu tun habe. Und er war tatsächlich sehr beschäftigt.
Eines Nachts war auf Schudik geschossen worden, als er sich gerade auf dem Heimweg befand. Das geschah in einer Straße, die vorwiegend von leitenden Angestellten der Zuckerfabrik, von Polen, bewohnt wurde. Man nahm aus diesem Anlass Haussuchungen vor und förderte Waffen und Dokumente der konterrevolutionären Pilsudski-Organisation Strzelec zutage.
Auf der Sitzung des Revolutionskomitees erschien auch Rita Ustinowitsch. Sie nahm Serjosha beiseite und fragte ihn ruhig:
»Was soll denn das heißen? Du spielst den beleidigten Spießer? Wegen eines persönlichen Gesprächs muss die Arbeit leiden? Das ist wirklich keine Art und Weise, Genosse.«
Und wieder schaute Serjosha dann und wann in den grünen Eisenbahnwagen hinein.
Er nahm an der Kreiskonferenz teil. Zwei Tage lang wurden hitzige Diskussionen geführt. Am dritten Tag griff er zusammen mit allen anderen Delegierten zu den Waffen und verfolgte ganze vierundzwanzig Stunden lang die in den Wäldern versteckte Bande Sarudnys, eines noch nicht zur Strecke gebrachten Petljura-Offiziers. Als er in die Stadt zurückgekehrt war, traf er bei der Ignatjewa die Genossin Rita Ustinowitsch. Er begleitete sie zum Bahnhof und drückte ihr beim Abschied fest die Hand.
Rita entzog ihm ärgerlich die Hand. Und wiederum ließ er sich lange Zeit im Agitationswagen nicht blicken. Er vermied es absichtlich, Rita zu begegnen, selbst dann, wenn es notwendig gewesen wäre. Auf ihre eindringliche Forderung, er solle ihr sein Verhalten erklären, antwortete er schroff:
»Was soll ich schon viel mit dir reden? Du wirst mir sicher wieder irgendwas Spießbürgerliches oder Verrat der Arbeiterklasse anhängen.«
Auf der Station trafen Transporte der Kaukasischen Rotbannerdivision ein. Im Revolutionskomitee erschienen drei braungebrannte Kommandeure. Der eine von ihnen, ein hochgewachsener hagerer Mann, fest umschnürt von einem kaukasischen Gürtel, setzte Dolinnik hart zu.
»Verlier nicht viele Worte, sondern verschaff uns hundert Fuhren Heu. Unsere Pferde verrecken.«
Man schickte Serjosha und zwei Rotarmisten aus, Heu zu beschaffen. In einem der Dörfer stießen sie auf eine Kulakenbande. Die Rotarmisten wurden entwaffnet und halbtot geschlagen. Serjosha kam mit einem blauen Auge davon, seine Jugend hatte ihn gerettet. Leute vom Komitee der Dorfarmut brachten die drei in die Stadt.
In das Dorf wurde jetzt eine ganze Abteilung geschickt. Am nächsten Tag war das Heu beschafft.
Serjosha lag im Zimmer der Genossin Ignatjewa, da er seine Familie nicht beunruhigen wollte. Rita Ustinowitsch kam ihn besuchen. Zum ersten Mal spürte er an diesem Abend ihren Händedruck so zärtlich und fest, wie er nie gewagt hätte, ihr die Hand zu drücken.
In einer heißen Mittagsstunde kam Serjosha auf einen Sprung in den Agitationswagen, um Rita einen Brief von Kortschagin vorzulesen. Er erzählte ihr von dem Freund. Beim Aufbrechen sagte er:
»Ich gehe jetzt in den Wald, will im See baden.«
Rita ließ die Arbeit liegen und sagte:
»Wart einen Augenblick. Ich komme mit.«
Am Ufer des spiegelglatten, ruhigen Sees machten sie halt. Die Frische des kühlen, durchsichtig klaren Wassers lockte zum Baden.
»Geh zum Weg und warte. Ich will baden«, kommandierte Rita. Serjosha setzte sich auf einen Stein in der Nähe eines kleinen Steges. Hinter seinem Rücken plätscherte es im Wasser. Durch das Laub der Bäume hindurch erblickte Serjosha auf dem Weg Tonja Tumanowa und den Kriegskommissar des Agitationszuges, Tschushanin. Der schöne Mann in eleganter Uniform, mit einem Portepee, zahlreichen Riemen und knarrenden Chromlederstiefeln, ging Arm in Arm mit Tonja und erzählte ihr etwas.
Serjosha erkannte Tonja; sie war es gewesen, die ihm den Zettel von Pawluscha überbracht hatte. Als die beiden in Serjoshas Nähe kamen, blickte Tonja ihn aufmerksam an, augenscheinlich hatte sie ihn auch wieder erkannt. Er zog den Brief aus der Tasche und hielt Tonja an.
»Einen Augenblick, Genossin. Ich habe einen Brief bekommen, der auch Sie interessieren wird.«
Er reichte ihr den Brief. Tonja machte ihren Arm frei und begann zu lesen. Das Blatt zitterte merklich in ihrer Hand. Als sie Serjosha den Brief zurückgab, fragte sie:
»Und sonst wissen Sie nichts von ihm?«
»Nein«, antwortete Serjosha.
Hinter ihm knirschten unter Ritas Füßen die Kieselsteine. Tschushanin bemerkte die Ustinowitsch und flüsterte Tonja zu:
»Gehen wir lieber.«
Doch Ritas spöttische, verächtliche Stimme hielt ihn zurück:
»Genosse Tschushanin, man sucht Sie schon den ganzen Tag.«
Tschushanin blickte sie ärgerlich von der Seite an:
»Macht nichts. Sie werden auch ohne mich fertig werden.«
Rita schaute Tonja und dem Kriegskommissar nach und meinte:
»Wann wird man diesen Gauner endlich zum Teufel jagen?«
Der Wald rauschte. Die mächtigen Wipfel der Eichen schwankten im Wind. Der See lockte. Es zog Serjosha ins Wasser.
Nach dem Bad fand er Rita nahe der Lichtung auf einem Eichenstumpf sitzen. In das Gespräch vertieft, gingen sie tiefer in den Wald hinein. Bei einer kleinen Lichtung beschlossen sie, sich in dem hohen frischen Gras auszuruhen. Im Wald war es ganz still, nur die Eichen schienen etwas zu flüstern. Rita ließ sich in das weiche Gras fallen und stützte den Kopf auf den Arm. Ihre schlanken Beine, die in alten, abgetragenen Schuhen steckten, verschwanden im hohen Gras. Serjoshas Blick blieb zufällig an ihren Füßen haften, und er sah, dass ihre Schuhe sorgfältig geflickt waren; dann schaute er auf seine Stiefel. Aus dem einen schaute eine Zehe durch ein großes Loch hervor. Er lachte auf.
»Was hast du denn?«
Serjosha wies auf den Stiefel.
»Wie werden wir nur in solchem Schuhzeug Krieg führen?«
Rita antwortete nicht. Sie kaute an einem Grashalm und dachte an etwas anderes.
»Tschushanin ist ein schlechter Kommunist«, sagte sie schließlich.
»Alle unsere politischen Funktionäre laufen abgerissen herum, und der sorgt nur für sich selbst. Er ist ein Konjunkturkommunist … Und an der Front geht es verdammt ernst zu. Unser Land wird lange, harte Kämpfe bestehen müssen.« Nach einem Schweigen fügte sie hinzu: »Sergej, wir werden mit dem Wort und mit dem Gewehr arbeiten müssen. Kennst du den Beschluss des Zentralkomitees, dass der vierte Teil des Jugendverbandes für die Front mobilisiert werden soll? Sergej, ich glaube, dass wir nicht mehr lange hier sein werden.«
Serjosha hörte ihr zu, nahm mit Verwunderung einen ganz ungewöhnlichen Ton in ihrer Stimme wahr. Ihre feuchtschimmernden schwarzen Augen waren auf ihn gerichtet.
Fast hätte er ihr gesagt, dass ihre Augen einem Spiegel glichen, in dem man alles sehen könnte. Er nahm sich aber rechtzeitig zusammen.
Rita richtete sich etwas auf dem Ellbogen hoch.
»Wo hast du deine Pistole?«
Sergej fasste betrübt nach seinem Gürtel.
»Das Kulakenpack im Dorf hat sie mir weggenommen.«
Rita griff in ihre Jackentasche und holte einen glänzenden Browning hervor.
»Siehst du die Eiche dort, Sergej?« Sie wies mit der Pistolenmündung auf einen Baumstamm mit ganz zerfurchter Rinde, der etwa fünfundzwanzig Schritt von ihnen entfernt stand, und schoss, den Arm in Augenhöhe, fast ohne zu zielen. Die abgesplitterte Baumrinde fiel zu Boden.
»Hast du gesehen?« fragte sie befriedigt und schoss noch einmal. Wiederum raschelte Baumrinde ins Gras.
»Na, jetzt wollen wir mal sehen, wie du schießen kannst«, sagte Rita spöttisch und reichte ihm den Browning.
Von drei Schüssen verfehlte nur einer das Ziel. Rita lächelte.
»Ich dachte, du schießt schlechter.«
Sie legte die Waffe nieder und warf sich abermals ins Gras. Das Gewebe ihrer Feldbluse umspannte fest die jugendlichen Brüste.
»Komm her, Sergej!« sagte sie leise.
Er rückte näher.
»Siehst du den Himmel? Er ist ganz blau. Und deine Augen sind genauso blau. Das ist nicht gut. Sie müssen grau sein, stahlgrau. Himmelblaue Augen sind etwas zu Zärtliches.«
Dann packte sie plötzlich den hellblonden Kopf Serjoshas und küsste ihn fest auf den Mund.
Zwei Monate waren vergangen. Der Herbst hielt seinen Einzug.
Der Telegrafist des Divisionsstabes saß über seinen Apparat gebeugt, der emsig ein Morsezeichen nach dem anderen aufnahm; er fing den langen, schmalen Streifen auf, der wie eine kleine Schlange hervorkroch, und schrieb rasch die Sätze, die er aus den Punkten und Strichen entzifferte, auf ein Formular.
An den Stabschef der 1. Division, Kopie an den Vorsitzenden des Revolutionskomitees, Schepetowka. Sämtliche Institutionen sind zehn Stunden nach Eingang dieses Telegramms aus der Stadt zu evakuieren. Ein Bataillon bleibt in der Stadt, untersteht dem Kommandeur des N-sker Regiments, der Befehlsgewalt über den Kampfabschnitt hat. Divisionsstab, politische Abteilung, alle Militärinstitutionen sind nach Station Barantschew zu verlegen. Über Ausführung des Befehls ist dem Divisionskommandeur Bericht zu erstatten. Unterschrift.
Zehn Minuten später ratterte ein Motorrad durch die stillen nächtlichen Straßen des Städtchens und beleuchtete sie einen Augenblick mit dem Licht seiner Azetylenlampe. Vor der Tür des Revolutionskomitees hielt es, der Motorradfahrer überreichte dem Vorsitzenden Dolinnik das Telegramm. Sogleich begann ein Hin und Her. Die Sonderkompanie trat an. Schon nach einer Stunde polterten Fuhrwerke durch die Stadt, beladen mit dem gesamten Gut des Revolutionskomitees. Auf dem Podolsker Bahnhof wurde alles in Waggons verfrachtet.
Serjosha, der das Telegramm mit gelesen hatte, rannte dem Motorradfahrer nach.
»Genosse, können Sie mich bitte bis zur Station mitnehmen?« fragte er den Fahrer.
»Setz dich hinten drauf, aber halt dich fest.«
Einige Schritte von dem grünen Eisenbahnwagen entfernt, der bereits an den Zug angehängt war, umschlang Serjosha ungestüm Ritas Schultern. Übermannt von dem Gefühl, dass er etwas unsagbar Liebes, Kostbares verliere, flüsterte er ihr zu:
»Leb wohl, Rita, liebe Genossin! Wir werden uns noch wieder sehen! Aber vergiss mich nicht.«
Mit Schrecken spürte Serjosha, dass er die Tränen kaum noch zurückhalten konnte. Er war nicht imstande, noch ein Wort zu sagen, und drückte ihr nur schmerzerfüllt die Hand.
Am nächsten Morgen waren Stadt und Bahnhof öde und verlassen. Wie zum Abschied pfiff die Lokomotive des letzten abgehenden Zuges. Hinter der Station, zu beiden Seiten der Schienen, lagen die Schützenketten des in der Stadt zurückgebliebenen Bataillons zur Abwehr bereit.
Gelbes Herbstlaub fiel von den kahl werdenden Bäumen. Der Wind fing die taumelnden Blätter und fegte sie behutsam über den Weg.
Im Soldatenmantel, dicht behängt mit Patronentaschen aus Segeltuch, bewachte Serjosha gemeinsam mit zehn anderen Rotarmisten den Kreuzweg bei der Zuckerfabrik. Sie erwarteten die Polen.
Awtonom Petrowitsch klopfte an die Tür seines Nachbarn Gerassim Leontjewitsch. Dieser lugte, nur halb angezogen, durch den Türspalt.
»Was ist denn los?«
Awtonom Petrowitsch deutete auf die mit schussbereitem Gewehr abziehenden Rotarmisten und sagte mit einem Augenzwinkern:
»Die marschieren ab.«
Gerassim Leontjewitsch sah ihn besorgt an:
»Wissen Sie vielleicht, was für Abzeichen die Polen tragen?«
»Ich glaube, einen einköpfigen Adler.«
»Und wo kann man den bekommen?«
Awtonom Petrowitsch kratzte sich bekümmert den Kopf.
»Denen da ist's egal«, sagte er nach einigem Nachdenken.
»Die hauen einfach ab. Und unsereiner muss sich jetzt den Kopf zerbrechen, wie man mit der neuen Macht auskommt.«
Die morgendliche Stille wurde durch das Geknatter eines Maschinengewehrs unterbrochen. Vom Bahnhof ertönte plötzlich das schrille Pfeifen einer Lokomotive, dann das Donnern eines Geschützes. Ein schweres Geschoß sauste hoch am Himmel heulend durch die Luft. Es schlug auf dem Weg hinter der Fabrik ein und hüllte die am Wegrand stehenden Sträucher in blauen Rauch. Auf der Straße setzten sich, immer wieder einen Blick nach rückwärts werfend, schweigend und finster die Reihen der Rotarmisten ab.
Ü ber Serjoshas Wange rann eine Träne. Hastig wischte er sie ab und schaute sich nach seinen Kameraden um. Nein, sie hatten nichts gemerkt.
Der hochgewachsene, hagere Antek Klopotowski vom Sägewerk ging an Serjoshas Seite. Seine Finger lagen auf dem Gewehrabzug. Antek war finster, besorgt. Seine Augen begegneten Serjoshas Blick, und Antek verriet seine geheimsten Gedanken …
»Verfolgen wird man die Unsrigen, besonders die Meinen. ›Ein Pole‹, wird man sagen, ›und kämpft doch gegen die polnischen Legionen.‹ Man wird meinen Vater aus dem Sägewerk jagen und ihn auspeitschen. Ich bat den Alten, mit uns zu gehen, aber der Vater brachte es doch nicht übers Herz, die Familie im Stich zu lassen. Oh, diese verdammte Bande! Wenn's doch schneller zum Kampf käme!« Antek rückte nervös den Rotarmistenhelm zurecht, der ihm auf die Augen heruntergerutscht war.
Leb wohl, du heimatliches Städtchen mit den schmutzigen, unansehnlichen Häuschen, mit der holprigen Chaussee! Lebt wohl, ihr Lieben, leb wohl, Walja, lebt wohl, Genossen, die ihr in die Illegalität gegangen seid! Immer näher rücken die fremden, hasserfüllten, erbarmungslosen Legionen der weißen Polen.
Mit traurigem Blick begleiten die Depotarbeiter in den ölbeschmierten Arbeitsblusen die Rotarmisten. »Wir kommen wieder, Genossen!« ruft Serjosha ihnen tief erregt zu. |
Hinweis: Für die Korrektheit der Angaben in diesen Versionen und die Identität der Texte mit dem angegebenen Original wird keine Verantwortung übernommen. Eine Vervielfältigung der Dokumente zum Zwecke des Vertriebs ist nicht gestattet.
| |