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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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DRITTES KAPITEL

Die Jugend trug den Sieg davon. Kortschagin hatte den Typhus überwunden. Zum vierten Mal hatte er an der Schwelle des Todes gestanden und war wieder zum Leben zurückgekehrt. Erst nach einem Monat erhob er sich von seinem Lager, noch unsicher auf den Beinen, mager und bleich, und versuchte, sich an den Wänden haltend, durchs Zimmer zu gehen. Von der Mutter gestützt, erreichte er das Fenster und schaute lange auf die Straße hinaus. Die Sonnenstrahlen spiegelten sich in den Schneepfützen. Draußen war Tauwetter, der Frühling kündete sich an. Dicht vor dem Fenster, auf den Zweigen eines Kirschbaums, schaukelte ein graubäuchiger Spatz und schielte hie und da mit unruhigen schelmischen Augen zu Pawel herüber.
»Nun haben wir also beide den Winter überlebt«, sagte Pawel leise und trommelte gegen die Scheibe.
Erschrocken blickte ihn die Mutter an.
»Mit wem unterhältst du dich denn?«
»Mit dem Spatz dort … Nun ist er weggeflogen, der Spitzbube …«, antwortete Pawel mit einem schwachen Lächeln.
Es war ein schöner Frühling geworden. Kortschagin begann an seine Rückkehr in die Stadt zu denken. Er fühlte sich wieder so weit bei Kräften, dass er schon ganz sicher gehen konnte. Und doch schien in seinem Organismus irgend etwas nicht zu stimmen. Als er einmal im Garten spazierenging, streckte ihn ein jäher stechender Schmerz im Rückgrat zu Boden. Mühsam schleppte er sich ins Zimmer. Am nächsten Tag wurde er aufmerksam vom Arzt untersucht. Der entdeckte, als er ihm das Rückgrat abtastete, eine ausgeprägte Vertiefung in einem Wirbel und fragte verwundert:
»Woher haben Sie denn das?«
»Das stammt von einem Pflasterstein, Doktor. Bei Rowno ist hinter mir mitten auf der Chaussee ein dreizölliges Geschoß krepiert…«
»Aber wie konnten Sie denn die ganze Zeit damit herumgehen? Haben Sie denn keine Beschwerden gehabt?«
»Nein. Etwa zwei Stunden habe ich damals gelegen, und dann ging's weiter, zu Pferd. Jetzt spüre ich zum ersten Male etwas.« Der Arzt untersuchte stirnrunzelnd die Vertiefung.
»Das ist aber eine recht unangenehme Geschichte, mein Lieber. Die Wirbelsäule hat solche Erschütterungen nicht gern. Hoffen wir, dass sie sich in Zukunft nicht bemerkbar machen wird. Ziehen Sie sich an, Genosse Kortschagin.« Mit schlecht verhehlter Besorgnis blickte er seinen Patienten an.
Artjom wohnte bei der Familie seiner jungen, unscheinbaren Ehefrau Stjoscha. Es waren verarmte Bauern. Pawel stattete Artjom einmal einen Besuch ab. Ein kleiner, verdreckter, schieläugiger Junge lief auf dem winzigen, schmutzigen Hof umher. Als er Pawel gewahrte, glotzte er ihn mit seinen frechen Äuglein an, bohrte eifrig mit dem Finger in der Nase und fragte:
»Was suchst du denn hier? Bist wohl stehlen gekommen? Mach lieber, dass du wegkommst, denn mit unserer Mutter ist nicht zu spaßen!«
In dem alten niedrigen Bauernhaus wurde ein Fensterchen geöffnet, und Artjom rief:
»Komm nur herein, Pawluscha!«
Am Ofen stand eine Alte mit pergamentgelbem Gesicht und hantierte mit einer Topfgabel. Flüchtig streifte ihr missmutiger Blick Pawel, und nachdem sie den Gast an sich vorbeigelassen hatte, klapperte sie wieder mit ihrem gusseisernen Kochgeschirr.
Zwei halbwüchsige Mädchen mit kurzen Zöpfen kletterten bei Pawels Eintreten rasch auf den breiten russischen Ofen und guckten mit der Neugier kleiner Wilder von dort herab.
Artjom saß ein wenig verlegen am Tisch. Seine Heirat war weder von seiner Mutter noch vom Bruder gebilligt worden. Artjom, der doch selbst aus proletarischem Haus stammte, hatte plötzlich aus unbekannten Gründen seine drei Jahre währende Freundschaft mit der schönen Konfektionsarbeiterin Galja, der Tochter eines Steinmetzen, abgebrochen und war zu der unscheinbaren Stjoscha gezogen. Nun wohnte er im Haus seiner Schwiegermutter, mit noch fünf hungrigen Mäulern und ohne Arbeitskräfte. Nach Beendigung seiner Arbeit im Depot rackerte er sich noch tüchtig auf dem Feld ab, um die heruntergekommene Wirtschaft wieder hochzubringen.
Artjom wusste sehr gut, dass Pawel seinen Übergang »ins kleinbürgerliche Milieu« - wie er es nannte - nicht billigte, und jetzt beobachtete er, wie der Bruder alles, was er hier sah, aufnahm.
Sie saßen eine Weile beieinander, tauschten nichts sagende Worte aus, wie man das gewöhnlich bei Besuchen zu tun pflegt, und Pawel schickte sich schon wieder an zu gehen. Artjom hielt ihn zurück.
»Warte doch, wirst mit uns zu Mittag essen. Gleich bringt Stjoscha frische Milch. Also morgen willst du fahren? Bist doch eigentlich noch zu schwach, Pawel.«
Stjoscha kam herein, begrüßte Pawel und rief Artjom auf die Tenne hinaus, damit er ihr etwas tragen helfe. Pawel blieb mit der wortkargen Alten allein zurück. Durchs Fenster vernahm man den Klang der Kirchenglocke. Die Alte legte die Topfgabel zur Seite und murmelte unzufrieden vor sich hin:
»Ach, Herr Jesus, bei dieser Teufelsarbeit kommt man nicht einmal zum Beten!« Sie warf dem Besucher einen scheelen Blick zu, löste das um den Hals geknüpfte Tuch und trat in eine Ecke, die mit vergilbten, traurig dreinschauenden Heiligenbildern vollgestellt war. Sie legte drei ihrer knochigen Finger zusammen und bekreuzigte sich.
»Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name«, flüsterten ihre welken Lippen.
Der Junge im Hof nahm Anlauf und sprang auf den Rücken eines langohrigen schwarzen Schweins. Mit den Fersen seiner nackten Füße trat er dem Tier in die Weichen, hielt sich mit beiden Händen an den Borsten fest und schrie auf das herumrennende und grunzende Schwein ein:
»Hott, hott, lauf zu! Brr, halt still!«
Das Schwein jagte mit dem Jungen auf dem Rücken im Hof herum und versuchte ihn abzuschütteln, aber der schieläugige Wildfang hatte sich festgeklammert.
Die Alte unterbrach ihr Gebet und steckte den Kopf zum Fenster hinaus.
»Ich werde dir das Reiten schon austreiben, verfluchter Bengel du! Mach, dass du von dem Schwein herunterkommst! Hol dich der Teufel! Der Erdboden soll dich verschlingen, verrückter Lauser du!«
Schließlich gelang es dem Schwein, seinen Reiter abzuwerfen, und die Alte wandte sich befriedigt wieder den Heiligenbildern zu. Sie setzte eine fromme Miene auf und betete weiter:
»Dein Reich komme... «
In der Tür tauchte der verheulte Junge auf. Er wischte sich die blutende Nase mit dem Ärmel, wimmerte und schluchzte vor Schmerz und bettelte.
»Ma-a-ma, gib mir 'nen Pfannkuchen …« Die Alte wandte sich böse nach ihm um.
»Nicht einmal beten lässt er einen, dieser schieläugige Satan. Ich werde dir gleich etwas zu essen geben, du Halunke...« Sie griff nach einer auf der Bank liegenden Peitsche. Der Kleine verschwand im Nu. Die Mädchen kicherten leise.

Die Alte machte sich zum dritten Mal ans Gebet.
Pawel erhob sich und ging, ohne auf den Bruder zu warten. Während er die Pforte hinter sich schloss, sah er am letzten Fenster den Kopf der Alten. Sie verfolgte ihn mit den Augen.
Wie, zum Teufel, ist Artjom hier hineingeraten? Jetzt wird er bis zu seinem Tode in diesem Jammer stecken. Stjoscha wird natürlich jedes Jahr ein Kind gebären. Er wird sich hier vergraben wie ein Käfer im Mist. Schließlich wird er noch gar das Depot verlassen, dachte Pawel traurig, als er durch die einsamen Straßen des Städtchens schritt … Und ich habe noch geglaubt, dass man ihn zur politischen Arbeit heranziehen könnte.
Pawel freute sich, dass er am nächsten Tag wieder in die große Stadt fahren würde, in der er seine Freunde, die ihm so teuren Menschen, zurückgelassen hatte. Die Großstadt zog ihn an durch ihre unwiderstehliche Kraft, ihr pulsierendes Leben, durch die Geschäftigkeit des unaufhaltsam dahinziehenden Menschenstroms, das Gerassel der Straßenbahnen und das Getöse der Autohupen. Vor allem aber sehnte er sich nach den riesigen Steingebäuden, nach den verrußten Werkstätten seines Betriebes, den Maschinen und dem leisen Surren der Riemen. Es zog ihn dorthin, wo sich die riesigen Räder ungestüm drehten, wo es nach Maschinenöl roch, zu all dem, was ihm ans Herz gewachsen war. Hier jedoch, in dem stillen Städtchen, ergriff Pawel, während er durch die leeren Straßen streifte, eine seltsame Niedergeschlagenheit. Er war nicht besonders verwundert, dass ihm dieses Städtchen fremd und langweilig geworden war. Er empfand es sogar als unangenehm, tagsüber spazierenzugehen.
Wenn er so an den geschwätzigen, vor ihren Haustüren hockenden Klatschbasen vorüberging, vernahm Pawel ihr aufgeregtes Geflüster:
»Schaut nur, wo kommt denn dieses Schreckgespenst her?«
»Der hat, scheint's, die Schwindsucht!«
»Eine feine Pelzjacke, nicht? Ist todsicher gestohlen …«
Und dann kam noch vieles andere, was ihn anwiderte.
Schon seit langem hatte er sich von hier völlig losgelöst.
Die Großstadt mit den energischen und lebensfreudigen Genossen und der brausenden Tätigkeit war ihm näher und vertrauter geworden.
Unmerklich hatte sich Kortschagin dem Fichtenwäldchen genähert und blieb am Kreuzweg stehen. Rechts lag das vom Wald durch einen hohen spitzen Zaun abgegrenzte alte graue Gefängnis, dahinter das weiße Gebäude des Krankenhauses.
Hier, auf dem Platz, hatte man Walja und ihre Genossen erhängt.
Schweigend weilte er an der Stelle, auf der der Galgen gestanden hatte. Dann ging er den steilen Abhang hinunter und gelangte zu den Gräbern der Kameraden.
Unbekannte sorgsame Hände hatten die Gräberreihen mit Tannenkränzen geschmückt und den kleinen Friedhof mit einer grünen Hecke umgeben. Auf dem Hügel ragten schlanke Fichten empor. Wie grüne Seide bedeckte zartes Gras die Hänge der Schlucht.
Hier endete schon das Städtchen. Es war still und traurig ringsum. Leise rauschten die Bäume, und die Frühlingsdüfte der zu neuem Leben erwachten Erde erfüllten die Luft. Hier hatten die tapferen Kameraden ihr Leben gelassen, damit das Leben derer schöner werde, die in Elend und Armut geboren wurden und für die allein die Geburt schon den Anfang der Sklaverei bedeutete.
Pawels Hand zog langsam die Mütze vom Kopf, und Trauer, tiefe Trauer erfüllte sein Herz.
Das Wertvollste, was der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur einmal gegeben, und er muss es so nützen, dass ihn später sinnlos vertane Jahre nicht qualvoll gereuen, die Schande einer unwürdigen, nichtigen Vergangenheit ihn nicht bedrückt und dass er sterbend sagen kann: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft habe ich dem Herrlichsten auf der Welt - dem Kampf für die Befreiung der Menschheit - geweiht. Und er muss sich beeilen zu leben. Denn eine dumme Krankheit oder irgendein tragischer Zufall kann dem Leben jäh ein Ende setzen.
Von diesen Gedanken bewegt, verließ Kortschagin den Friedhof.

Zu Hause packte die Mutter traurig die Sachen des Sohnes. Pawel, der sie beobachtete, sah, wie sie nur mühsam die Tränen verbarg.
»Vielleicht bleibst du doch hier, Pawluscha? Es ist mir bitter, im Alter allein zu sein. So viele Kinder habe ich zur Welt gebracht, und kaum wachsen sie heran, so laufen sie davon. Was zieht dich denn so nach der Stadt? Auch hier lässt sich's leben. Oder hast du dir vielleicht auch so eine kurzhaarige Wachtel ausersehen? Mir, der Alten, erzählt ja doch niemand was. Artjom hat sich verheiratet, ohne mir auch nur ein Wort zu sagen, und von dir ist schon überhaupt nicht zu reden. Man bekommt euch nur zu sehen, wenn ihr kaum noch kriechen könnt«, sagte die Mutter leise, während sie die spärlichen Habseligkeiten des Sohnes in eine saubere Tasche packte.
Pawel nahm sie an den Schultern und zog sie an sich.
»Nein, Mamachen, von einer Wachtel ist nicht die Rede. Weißt du denn nicht, dass sich die Vögel ein Weibchen ihrer Art suchen? Bin ich denn etwa deiner Meinung nach ein Wachtelhahn?« Die Mutter musste lächeln.
»Ich habe mir fest vorgenommen, Mamachen, so lange kein Mädchen zu küssen, bis nicht in der ganzen Welt die Bourgeois ausgerottet sind. Du glaubst, dass man da lange warten muss? Nein, Mamachen, lange werden sich die Bourgeois nicht mehr halten könne .n … Bald wird es nur eine einzige Republik für die Menschheit geben, und euch alte Leute, die ihr euer Leben lang viel geschuftet habt - euch schicken wir nach Italien. Das ist so ein warmes Land,
direkt am Meer; Winter gibt es da überhaupt nicht. Wir quartieren euch dort in die Paläste der Bourgeois ein, und ihr könnt eure alten Knochen in der Sonne wärmen. Wir aber werden nach Amerika fahren, um dort mit den Bourgeois ein Ende zu machen.«
»Ich werde es wohl kaum erleben, mein Söhnchen, dass deine Märchen Wirklichkeit werde n.… Genauso ein Springinsfeld wie du war auch dein Großvater. Ein Seemann war er. Ein wahrhaftiger Räuber, Gott steh mir bei. Er hat am Sewastopoler Krieg teilgenommen und es dort so weit gebracht, dass er mit einem Arm und einem Bein nach Hause zurückkehrte. Zwei Kreuze haben sie ihm an die Brust gehängt und zwei silberne Halbrubelstücke an Bändchen. Gestorben ist er aber in fürchterlicher Armut. Eigensinnig war er, hatte irgendeinem von der Obrigkeit mit der Krücke eins über den Schädel gehauen und hat fast ein Jahr dafür im Gefängnis gesessen. Eingesperrt haben sie ihn, auch die Kreuze halfen nichts. Wenn ich dich so anschaue, mein Söhnchen, scheint es mir, als wärst du ganz nach deinem Großvater geraten.«
»Warum machen wir uns den Abschied so schwer, Mamachen? Gib mir mal die Ziehharmonika. Ich habe sie lange nicht mehr in den Händen gehabt.«
Er beugte den Kopf über die Perlmuttreihen der Tasten. Die Mutter staunte, wie neuartig sein Spiel war. Er spielte anders als früher. In seiner Musik lag jetzt nicht mehr die unbändige Verwegenheit, jenes tolle Jauchzen voller Ausgelassenheit, jener trunkene Übermut, die den jungen Harmonikaspieler Pawka im ganzen Städtchen berühmt gemacht hatten. Seine Musik klang melodisch, war jedoch, ohne ihre Kraft eingebüßt zu haben, ernster und tiefgründiger geworden.

Zum Bahnhof ging er allein.
Die Mutter hatte er überredet, daheim zu bleiben. Er wollte keine Tränen beim Abschiednehmen.
Gewaltsam drängte sich alles in den Zug. Pawel erwischte ganz oben eine freie Bank und beobachtete von dort aus die schreienden und aufgeregten Menschen in den Gängen.
Genauso wie früher wurden auch jetzt Säcke hereingeschleppt und unter die Bänke geschoben.
Als sich der Zug in Bewegung setzte, beruhigten sich alle und machten sich, wie immer auf Eisenbahnfahrten, gierig übers Essen her.
Pawel schlief bald ein.
Das erste Haus, das er aufsuchen wollte, befand sich im Zentrum der Stadt, auf dem Krestschatik. Langsam stieg er die Stufen der Bahnüberführung hinan. Ringsum war alles vertraut, nichts hatte sich verändert. Er überschritt die Brücke, und seine Hand streifte über das glatte Geländer. Er gelangte zu den Stufen, die hinabführten, und blieb stehen - auf der Brücke war keine Menschenseele.
Die Nacht bot dem bezauberten Auge einen großartigen Anblick. Wie schwarzer Samt bedeckte die Finsternis den Horizont, und hoch oben in unerreichbarer Ferne funkelten phosphorartig unzählige Sterne. Und unten, wo die unbestimmbare Grenze der Erde mit dem Horizont zusammenfloss, streute die Stadt Millionen Lichter in die Dunkelheit…
Kortschagin entgegen kamen einige Gestalten die Treppe herauf. Die schroffen Stimmen der hitzig streitenden Menschen verscheuchten die nächtliche Stille; Pawel riss seinen Blick von den Lichtern der Stadt los und begann die Stufen hinabzusteigen.
Auf dem Krestschatik, im Büro der Sonderabteilung des Militärbezirks, wurde Kortschagin vom diensthabenden Kommandanten mitgeteilt, dass Shuchrai schon längst aus der Stadt weg sei.
Der Kommandant forschte Pawel ziemlich lange aus, und erst nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass dieser mit Shuchrai persönlich bekannt war, erzählte er ihm, dass Fjodor bereits vor zwei Monaten nach Taschkent, an die turkestanische Front, kommandiert worden sei. Kortschagins Enttäuschung war so groß, dass er sich nicht einmal nach den Einzelheiten erkundigte.
Schweigend kehrte er um und verließ das Gebäude. Von plötzlicher Müdigkeit überwältigt, ließ er sich auf den Stufen der Freitreppe nieder.
Eine Straßenbahn fuhr vorüber und erfüllte die Straße mit ihrem Gerassel. Auf dem Gehsteig bewegte sich ein endloser Menschenstrom. Die Stadt war belebt - hie und da glückliches Frauenlachen, einzelne Wortfetzen eines männlichen Basses, die Tenorstimme eines Jünglings oder die heisere, krächzende Stimme eines Greises. Die Schritte waren immer eilig. Hell erleuchtete Straßenbahnen eilten vorüber, Scheinwerfer der Autos flammten auf, hell glühten die Lämpchen an dem Reklameplakat des benachbarten Kinos. Und überall waren Menschen, die die Straße mit unablässigem Stimmengewirr erfüllten. So sah der Abend einer Großstadt aus.
Der Lärm und der lebendige Atem der Hauptstraße ließen Kortschagin allmählich den Schmerz vergessen, den die Nachricht von Fjodors Abreise hervorgerufen hatte. Wohin sollte er sich aber jetzt wenden? Nach Solomenka zu gehen, wo seine Freunde wohnten, war zu weit. Wie von selbst kam ihm das Haus an der nahen Kruglo-Universitätskaja-Straße in Erinnerung. Natürlich wird er sich jetzt dorthin wenden. Außer Fjodor war ihm ja Rita der nächste Mensch, den er wieder sehen wollte. Dort, bei Akim, würde er auch übernachten können.
Schon von weitem sah er Licht in dem bekannten Eckfenster oben. Mit Mühe bezwang er seine Aufregung und öffnete die eichene Haustür. Auf dem Treppenabsatz blieb er einige Sekunden stehen. Hinter der Tür von Ritas Zimmer waren einige Stimmen zu hören, jemand spielte auf einer Gitarre.
Aha, sogar Gitarrespielen ist jetzt erlaubt? Die Lebensordnung ist also nicht mehr so streng, dachte Pawel.
Er klopfte leicht mit der Faust an die Tür. Um seiner Erregung Herr zu werden, biss er sich auf die Lippen.
Die Tür wurde von einer unbekannten jungen Frau mit Löckchen geöffnet. Sie schaute Kortschagin fragend an.
»Sie wünschen?«
Die Tür war offen geblieben, und ein flüchtiger Blick auf die fremde Einrichtung ließ ihn die Antwort ahnen.
»Kann ich Genossin Ustinowitsch sprechen?«
»Sie wohnt nicht mehr hier. Sie ist schon im Januar nach Charkow abgereist und von dort, wie man erzählt, nach Moskau.«
»Und wohnt Genosse Akim noch hier, oder ist auch er abgereist?«
»Genosse Akim ist auch nicht mehr da. Er ist jetzt Sekretär des Gouvernements-Jugendkomitees von Odessa.«
Pawel blieb nichts anderes übrig, als umzukehren. Seine Freude über die Rückkehr in die Stadt erlosch allmählich.
Jetzt war es höchste Zeit, ernstlich an eine Unterkunft zu denken.
»So aufs Geratewohl die Freunde abzuklappern hat keinen Zweck, dabei läuft man sich nur die Hacken ab und trifft doch niemanden an«, brummte Kortschagin mürrisch, gegen die Erbitterung ankämpfend. Schließlich entschloss er sich doch, noch einmal sein Glück zu versuchen und zu Pankratow zu gehen. Der Hafenarbeiter wohnte in der Nähe der Schiffsanlegestelle. Zu ihm war es näher als nach Solomenka.
Müde und zerschlagen erreichte er schließlich Pankratows Wohnung, und während er an die einst mit Ocker angestrichene Tür klopfte, dachte er bei sich: Wenn auch der nicht zu Hause ist, werde ich nicht mehr umherrennen. Ich lege mich einfach unter ein Boot und übernachte so.
Die Tür wurde von einer alten Frau in einem schlichten, unterm Kinn zusammengebundenen Kopftuch geöffnet. Es war Pankratows Mutter.
»Ist Ignat zu Hause, Mütterchen?«
»Eben ist er gekommen. Wollen Sie zu ihm?« Sie hatte Pawel nicht erkannt, wandte sich ab und rief:
»Ignat, da ist jemand, der zu dir will!«
Pawel folgte ihr ins Zimmer und legte seine Reisetasche auf den Boden. Pankratow kaute zu Ende und drehte sich vom Tisch aus nach ihm um.
»Wenn du zu mir gekommen bist, dann setz dich her und erzähle. Ich will inzwischen meine Suppe verdrücken. Seit dem Morgen habe ich nur Wasser in den Bauch gekriegt!« Und Pankratow griff nach einem riesigen Holzlöffel.
Pawel ließ sich etwas abseits auf einem alten, kaputten Stuhl nieder, nahm die Mütze ab und wischte sich mit ihr nach alter Gewohnheit den Schweiß von der Stirn. Hab ich mich denn wirklich so verändert, dass mich sogar Ignat nicht mehr erkennt? ging es ihm durch den Sinn. Pankratow aß ein paar Löffel Suppe. Als er jedoch von dem Gast keine Antwort bekam, schaute er sich um.
»Na, schieß los, was willst du denn?«
Pankratows Hand blieb mit einem Stück Brot auf halbem Wege zum Mund in der Luft hängen. Er blinzelte ganz verwirrt.
»He … Warte mal… Teufel noch mal! Was soll denn das bedeuten?«
Als Kortschagin sein vor Aufregung rot gewordenes Gesicht sah, konnte er es nicht mehr aushaken und prustete los.
»Pawka! Wir haben dich doch alle längst tot geglaubt! - Aber halt mal! Wie heißt du denn?«
Auf Pankratows Geschrei kamen die ältere Schwester und die Mutter aus dem Nebenzimmer gelaufen. Alle drei überzeugten sich schließlich, dass es wirklich Kortschagin war, der vor ihnen stand.
Im Haus lag schon längst alles in tiefstem Schlaf, und Pankratow erzählte noch immer von den Ereignissen, die sich während der letzten vier Monate abgespielt hatten.
»Sharki und Dubawa sind bereits im Winter nach Charkow abgereist. Und nicht so einfach abgereist sind sie, diese Teufelskerle, sondern auf die Kommunistische Universität. Sie wurden in den Vorbereitungskursus aufgenommen. Wir wollten - an die fünfzehn Mann - dorthin fahren. In der Hitze des Gefechts habe auch ich ein Aufnahmegesuch geschrieben. Man muss mal, denke ich, das Gehirn 'n bisschen verdichten, denn es ist zu dünnflüssig. Aber, verstehst du, in der Kommission haben sie mich reingelegt.«
Pankratow schnaubte gekränkt, und dann fuhr er fort:
»Zuerst ging meine Sache wie geschmiert. Alles stimmte bei mir: Ein Parteibuch habe ich, bin auch lange genug Mitglied des Jugendverbandes, an meiner sozialen Lage und Herkunft kann keiner was aussetzen. Aber als es zur Prüfung des politischen Wissens kam, gab's plötzlich Unannehmlichkeiten.
Ich bin da mit einem Genossen von der Kommission in Streit geraten. Der stellte mir folgende Frage: ›Sagen Sie, Genosse Pankratow, welche Kenntnisse haben Sie in Philosophie?‹ Aber das war's eben, dass ich davon nicht die geringste Ahnung hatte. Ich entsann mich aber sogleich, dass bei uns mal so ein vagabundierender Gymnasiast als Hafenarbeiter angestellt war. Lastträger war der aus purer Wichtigtuerei geworden. Der hatte uns einmal erzählt, dass es in Griechenland, der Teufel weiß wann, solche Gelehrte gegeben hatte, die sich einbildeten, dass sie alles wüssten. Die nannte man Philosophen. Einer von diesen Typen - ich habe seinen Namen vergessen, Idogenes, glaube ich, hieß er - hauste sein ganzes Leben lang in einer Tonne, und so weiter … Als größter Spezialist galt bei ihnen derjenige, der vierzigmal nachwies, dass weiß schwarz und schwarz weiß sei. Kurz und gut - sie waren alle Schwindler. Nun also, ich erinnerte mich daran, was uns der Gymnasiast erzählt hatte, und dachte: So, der will mich jetzt an der Nase herumführen, dieses Kommissionsmitglied. Und der schaut mich auch verschmitzt von der Seite an. Da habe ich denn losgelegt.
› Philosophie‹, sagte ich, ›das ist einfach leeres Geschwätz und Spiegelfechterei. Ich, Genossen, habe gar keine Lust, mich mit solchem Quatsch abzugeben. Die Parteigeschichte, die studiere ich von ganzem Herzen gern.‹ Da nahmen sie mich gleich ins Gebet, wollten wissen, woher ich denn solche Vorstellungen über die Philosophie hätte. Da habe ich dann noch einiges von dem hinzugefügt, was uns der Gymnasiast erzählt hatte. Die ganze Kommission brach in schallendes Gelächter aus. Ich wurde wütend. ›Was‹, sagte ich, ›ihr wollt mich wohl zum Narren halten?‹, nahm meine Mütze und ging.
Später begegnete mir dieses Kommissionsmitglied im Gouvernementskomitee und unterhielt sich fast drei Stunden lang mit mir. Dabei stellte sich heraus, dass der Gymnasiast alles wie Kraut und Rüben durcheinander gebracht hatte und dass die Philosophie wirklich eine große und ernste Sache ist.
Nun siehst du, Dubawa und Sharki, die kamen durch. Dmitri, der hat in der Schule ordentlich was gelernt, aber Sharki - der weiß auch nicht viel mehr als ich. Wahrscheinlich hat ihm sein Orden dabei geholfen. Kurz und gut, ich hatte das Nachsehen. Man hat mich dann mit der Verwaltung der Dampferanlegestelle betraut. Ich vertrete den Leiter des Frachthafens. Früher hatte ich mit den verschiedenen Chefs wegen der Jugendlichen häufig Differenzen, und jetzt muss ich selbst die Wirtschaft leiten. Manchmal ist es auch so: Jemand erweist sich als Faulpelz oder als unverbesserlicher Dummerjan, und dann nehme ich ihn mir tüchtig vor, sowohl als Betriebsleiter wie als Jugendsekretär. Der wird mir schon kein X für ein U mehr vormachen. Aber von mir später. Was für Neuigkeiten habe ich dir denn noch nicht erzählt? Über Akim weißt du Bescheid. Von den Genossen aus dem Bezirkskomitee ist nur noch Tufta auf dem alten Platz. Tokarew macht den Sekretär des Bezirks-Parteikomitees in Solomenka, und Okunew aus deiner Kommune steckt dort im Bezirks-Jugendkomitee. Die politische Aufklärung leitet Talja. In den Werkstätten ist Zwetajew dein Nachfolger geworden. Ich kenne ihn nur wenig, ab und zu sehen wir uns im Gouvernementskomitee, er ist anscheinend kein dummer Kerl, aber voller Eigenliebe. Wenn du dich noch an Anna Borchardt erinnerst, auch sie ist in Solomenka, sie ist Leiterin der Frauenabteilung im Bezirks-Parteikomitee. Von den anderen habe ich dir schon erzählt. Ja, Pawluscha, viele Leute hat die Partei zum Lernen geschickt. In der Gouvernementsparteischule hockt jetzt das gesamte Aktiv über den Büchern. Man hat versprochen, das nächste Jahr auch mich dorthin zu schicken.«
Es war lange nach Mitternacht, als sie einschliefen. Als Kortschagin am Morgen erwachte, war Ignat schon zur Anlegestelle gegangen. Dussja, seine Schwester, ein kräftiges Mädchen, das dem Bruder sehr ähnlich sah, bewirtete den Gast mit Frühstück und plauderte mit ihm fröhlich über allerlei Kleinigkeiten. Pankratows Vater, ein Schiffsmaschinist, war auf Fahrt.
Als sich Kortschagin auf den Weg machen wollte, erinnerte ihn Dussja:
»Vergessen Sie nicht, dass wir Sie zum Mittagessen erwarten.«

Im Gouvernementskomitee herrschte wie immer reges Leben. Ununterbrochen ging die Tür auf und zu. Die Korridore und Zimmer waren voller Menschen. Hinter der Tür der Geschäftsleitung hörte man das gedämpfte Klappern der Schreibmaschinen. Pawel blieb eine Zeitlang im Gang stehen. Er sah sich lange um, ob ihm kein Bekannter begegnete, da er jedoch niemanden erblickte, trat er ins Zimmer des Sekretärs. Hinter dem großen Schreibtisch saß in einer blauen Russenbluse der Sekretär des Gouvernementskomitees. Er begrüßte Kortschagin mit einem kurzen Kopfnicken und fuhr, ohne aufzublicken, im Schreiben fort.
Pawel setzte sich ihm gegenüber und betrachtete den Nachfolger Akims aufmerksam.
»In welcher Angelegenheit kommen Sie?« fragte der Sekretär, nachdem er hinter die letzte Zeile des vollgeschriebenen Blattes einen Punkt gesetzt hatte.
Pawel erzählte ihm seine Geschichte.
»Ihr müsst mich wiederauferstehen lassen, Genosse, in die Mitgliederliste der Organisation eintragen und in die Werkstätten schicken. Gib bitte eine solche Anweisung.«
Der Sekretär lehnte sich im Sessel zurück. Dann erwiderte er zögernd:
»Deine Mitgliedschaft werden wir natürlich wiederherstellen, das ist gar keine Frage. Jedoch dich in die Werkstätten schicken, ist nicht ganz so einfach, dort arbeitet bereits Zwetajew, ein Mitglied des neuen Gouvernementskomitees. Wir werden dich für eine andere Arbeit verwenden.«
Kortschagins Blick verdüsterte sich.
»Ich will nicht deshalb in die Werkstätten, um Zwetajew bei seiner Arbeit zu stören. Ich will dorthin, um in meinem Fach zu arbeiten, und nicht als Sekretär des Kollektivs, und da ich mich gesundheitlich noch ziemlich schwach fühle, bitte ich, mir keine andere Arbeit zu geben.«
Der Sekretär willigte ein und schrieb einige Worte auf einen Zettel.
»Ü bergeben Sie das dem Genossen Tufta. Er wird schon alles regeln.«
In der Personalabteilung war Tufta gerade damit beschäftigt, seinen Gehilfen, den Kartothekführer, abzukanzeln.
Pawel hörte sich das Gezänk eine halbe Minute lang an, als er jedoch sah, dass sich die Sache in die Länge zog, unterbrach er den außer sich geratenen Personalleiter.
»Kannst etwas später die Schimpferei zu Ende führen, Tufta. Hier hast du einen Zettel, wollen mal meine Papiere in Ordnung bringen!«
Tufta schaute bald auf den Zettel, bald auf Kortschagin. Endlich kapierte er.
»Ach so! Du bist also nicht gestorben? Was soll man aber jetzt machen? Du bist ja aus der Mitgliederliste gestrichen! Ich selbst habe deine Karteikarte ans Zentralkomitee geschickt. Außerdem bist du ja auch nicht von der Unionsvolkszählung erfasst worden, und nach dem Rundschreiben des Zentralkomitees sind alle, die nicht erfasst worden sind, ausgeschlossen. Dir bleibt also nichts anderes übrig, als von neuem dem Jugendverband beizutreten«, erklärte Tufta in einem Ton, der keinen Einspruch zuließ.
Kortschagin runzelte die Stirn.
»Du bist also immer noch der alte! Ein junger Kerl, aber schlimmer als eine alte Ratte aus dem Gouvernementsarchiv. Wann endlich wird mal ein Mensch aus dir werden, Tufta?«
Tufta sprang auf wie von der Tarantel gestochen.
»Lies mir hier gefälligst nicht die Leviten. Meine Arbeit verantworte ich selbst. Rundschreiben werden nicht geschrieben, damit man sie missachtet. Und wegen der ›Ratte‹ werde ich dich noch zur Verantwortung ziehen lassen.« Die letzten Worte brachte Tufta drohend hervor. Demonstrativ zog er einen Haufen ungelesener Briefe zu sich heran und gab durch sein ganzes Verhalten zu verstehen, dass das Gespräch beendet sei.
Langsam wandte sich Pawel zur Tür. Dann fiel ihm jedoch etwas ein, er kehrte zum Tisch zurück und nahm den vor Tufta liegenden Zettel des Sekretärs wieder an sich.
Der Personalleiter beobachtete Pawel. Dieser junge Tufta mit den großen spitzen Ohren war greisenhaft, böse und zanksüchtig, unsympathisch und lächerlich zugleich.
»Schön«, sagte Kortschagin mit spöttischer Ruhe.
»Man kann mich natürlich der ›Desorganisierung der Statistik‹ beschuldigen, aber sag mir, wie du das ausknobeln willst, gegen diejenigen Mitglieder disziplinarisch vorzugehen, die es wagen zu sterben, ohne dir vorher ein entsprechendes Gesuch einzureichen? So was steht doch jedem frei. Er kann erkranken, er kann auch sterben, aber ein Rundschreiben ist für solche Fälle wahrscheinlich nicht vorgesehen.«
»Hahaha!« platzte Tuftas Gehilfe vergnügt heraus. Er hatte es nicht mehr ausgehalten, den Neutralen zu spielen.
Die Spitze des Bleistifts in Tuftas Hand brach ab. Er schmiss ihn hin, konnte aber seinem Gegner nicht mehr antworten. Ein ganzes Rudel lachender und sich laut unterhaltender junger Leute drang ins Zimmer. Unter ihnen war auch Okunew. Das freudige Staunen und das Ausfragen nahm kein Ende. Nach einigen Minuten kam noch eine Gruppe Jugendlicher herein, unter ihnen auch Olga Jurenewa. Lange drückte sie Pawel sprachlos und freudig bewegt die Hand.
Er musste noch einmal alles von Anfang an erzählen. Die aufrichtige Freude der Genossen, ihre unverfälschte Freundschaft und ihr Mitgefühl, ihr kräftiger Händedruck und ihr freundschaftliches, etwas derbes Klopfen auf die Schulter ließen ihn Tufta vergessen.
Am Schluss berichtete Pawel den Genossen von seiner Unterredung mit Tufta. Ringsum wurden Ausrufe der Empörung laut. Olga maß Tufta mit einem vernichtenden Blick und begab sich ins Zimmer des Sekretärs.
»Lass uns zu Neshdanow gehen! Er wird ihm schon eins auf die Schnauze geben.« Mit diesen Worten umfasste Okunew Pawel, und zusammen mit den anderen Genossen folgten sie Olga.
»Man muss ihn absetzen und zur Strafe ein Jahr lang als Lastträger bei Pankra-tow an der Anlegestelle arbeiten lassen. Tufta ist ja durch und durch Bürokrat!« ereiferte sich Olga.
Der Sekretär des Gouvernementskomitees hörte sich die Forderung Okunews, Olgas und der anderen, Tufta abzusetzen, mit nachsichtigem Lächeln an.
»Ü ber Kortschagins Wiedereinstellung braucht man keine Worte zu verlieren. Er bekommt sofort sein Mitgliedsbuch«, sagte er.
»Was Tufta betrifft, so bin ich mit euch einverstanden, dass er ein Formalist ist. Das ist sein Hauptfehler. Man muss aber doch zugeben, dass er seine Sache nicht schlecht macht. Wo ich auch gearbeitet habe, überall war bei den Jugendorganisationen die Statistik ein undurchdringlicher Dschungel. Man konnte keiner Ziffer Glauben schenken. Aber bei uns ist die Statistik in Ordnung. Ihr wisst ja selber, dass Tufta manchmal bis spät in die Nacht in seiner Abteilung sitzt. Ich denke so: Absetzen kann man ihn jederzeit. Wenn aber ein prima Bursche seine Stelle einnimmt, der von der Statistik nichts versteht, so werden wir zwar keinen Bürokratismus haben, aber auch keine Ordnung. Lassen wir ihn also arbeiten. Ich werde ihm schon den Kopf waschen, wie sich's gehört, das wird eine Zeitlang wirken, und nachher werden wir schon sehen.«
»Gut, hol ihn der Teufel«, erklärte sich Okunew einverstanden.
»Los, Pawluscha, fahren wir nach Solomenka. Wir haben heute im Klub eine Versammlung des Jugendaktivs. Niemand weiß bis jetzt was von dir, und plötzlich wird angesagt: ›Das Wort hat Kortschagin.‹ Bist ein Prachtkerl, Pawluscha, dass du nicht gestorben bist. Denn wirklich, welchen Nutzen hätte dabei das Proletariat?« schloss Okunew scherzend, indem er Kortschagin mit beiden Armen umfasste und ihn auf den Korridor hinausschob.
»Olga, wirst du kommen?«
»Aber selbstverständlich.«
Pankratows erwarteten Kortschagin vergebens zum Mittagessen, auch abends kehrte er nicht zurück. Okunew schleppte seinen Freund zu sich in die Wohnung. Er hatte ein Zimmer im Haus des Sowjets.
Hier tischte er auf, was er nur auftreiben konnte. Dann breitete er vor Pawel einen Packen Zeitungen und zwei dicke Hefte mit Protokollen der Sitzungen des Bezirks-Jugendkomitees aus und sagte:
»Schau dir diese ganzen Erzeugnisse durch. Während du deine Zeit mit dem Typhus vertrödelt hast, ist eine Menge Wasser den Berg hinabgelaufen. Lies und mach dich mit allem bekannt, was hier inzwischen los war und was jetzt los ist. Gegen Abend hole ich dich ab, und wir gehen in den Klub, und wenn du inzwischen müde wirst, leg dich hin und schlaf dich aus.«
Okunew steckte einen Haufen Dokumente, Bescheinigungen und andere Papiere in die Taschen (der Sekretär des Bezirks-Jugendkomitees benutzte prinzipiell keine Aktentasche, sie lag unter dem Bett), machte eine letzte Runde durchs Zimmer und ging.
Als er am Abend zurückkehrte, war der Boden des Zimmers mit auseinander gefalteten Zeitungen bedeckt, eine Menge Bücher lagen stoßweise auf dem Tisch aufgeschichtet. Pawel saß auf dem Bett und las die letzten Briefe des Zentralkomitees, die er unter dem Kopfkissen des Freundes gefunden hatte.
»Ach, du Lümmel, was hast du nur aus meinem Zimmer gemacht!« rief Okunew mit gespielter Entrüstung.
»Heda, halt ein, Genosse, du liest ja da ein vertrauliches Schreiben! Man muss bloß so einen Kerl in sein Zimmer lassen!«
Pawel legte den Brief lächelnd beiseite.
»Hierin sind ja nun gerade keine Geheimnisse enthalten. Dafür aber hast du tatsächlich ein vertrauliches Schreiben als Lampenschirm benutzt. Der Rand ist sogar schon etwas angesengt. Siehst du?«
Okunew nahm das angesengte Blatt und schlug sich, nachdem er einen Blick darauf geworfen hatte, mit der Handfläche gegen die Stirn.
»Und ich suche es schon seit drei Tagen, verdammt noch mal! Es war verschwunden, als hätte es der Erdboden verschluckt. Jetzt fällt's mir ein, vorgestern hat Wolynzew daraus einen Lampenschirm gemacht, und dann hat er es selbst im Schweiße seines Angesichts gesucht.« Okunew faltete das Blatt sorgfältig zusammen und steckte es unter die Matratze.
»Später werden wir aufräumen«, sagte er in beruhigendem Ton, »jetzt werden wir erst mal etwas essen, und dann geht's in den Klub. Setz dich, Pawluscha!«
Okunew zog aus der einen Tasche einen in Zeitungspapier eingewickelten langen Dörrfisch hervor und aus der anderen zwei Scheiben Brot. Er schob das Papier an den Rand des Tisches und breitete auf der frei gewordenen Stelle eine Zeitung aus. Dann packte er den Fisch beim Kopf und begann damit gegen den Tisch zu klopfen, damit sich die Haut besser abziehen ließe.
Während Okunew auf dem Tisch saß und energisch mit den Kinnbacken arbeitete, teilte er Pawel, halb scherzend, halb sachlich, die neuesten Nachrichten mit.
Okunew führte Pawel durch den Diensteingang in den Klub, gleich hinter die Kulissen. In einer Ecke des geräumigen Saals, rechts von der Bühne, neben dem Flügel, befanden sich Talja Lagutina und Anna Borchardt im Kreis der Eisenbahnerkomsomolzen. Anna gegenüber, mit seinem Stuhl wippend, saß Wolynzew, der Jugendsekretär des Eisenbahndepots, rotwangig wie ein reifer Apfel, in einer völlig abgetragenen, ehemals schwarzen Lederjacke. Wolynzews Haare und Augenbrauen hatten die Farbe von Weizenähren.
Neben ihm, den Ellbogen nachlässig auf den Klavierdeckel gestützt, saß Zwetajew, ein schmucker Bursche mit kastanienbraunem Haar und scharfgeschnittenen Lippen. Der Kragen seines Hemdes war aufgeschlagen.
Während sich Okunew der Gruppe näherte, hörte er, wie Anna sagte:
»Mancher versucht die Aufnahme neuer Genossen mit allen Mitteln zu erschweren. Auf Zwetajew trifft das bestimmt zu.«
»Der Kommunistische Jugendverband ist kein Durchgangshof«, erwiderte Zwetajew trotzig und in geringschätzigem Ton.
»Schaut her, schaut her! Nikolai strahlt heute wie ein blankgeputzter Samowar!« rief Talja, als sie Okunew gewahr wurde.
Sie zogen ihn in ihren Kreis und bestürmten ihn:
»Wo warst du denn?«
»Wir wollen endlich anfangen!«
Okunew winkte beruhigend mit der Hand ab.
»Nicht so hitzig, Kinder, gleich wird Tokarew kommen, und dann geht's los.«
»Da kommt er ja schon!« rief Anna. Okunew eilte ihm entgegen.
»Komm hinter die Kulissen, Väterchen, ich werde dir einen deiner alten Bekannten zeigen. Wirst aber Augen machen!«
»Wer kann schon dort sein?« brummte der Alte und sog dann an seiner Zigarette. Aber schon führte ihn Okunew mit sich fort.

Die Glocke in Okunews Hand schrillte derart durchdringend, dass sich selbst die eifrigsten Schwätzer beeilten, ihre Gespräche zu unterbrechen.
Hinter Tokarew hing in einem aus Tannengrün geflochtenen Rahmen das Löwenhaupt des genialen Schöpfers des Kommunistischen Manifests. Während Okunew die Versammlung eröffnete, blickte Tokarew auf den hinter den Kulissen stehenden Kortschagin.
»Genossen! Bevor wir zur Tagesordnung übergehen, hat ein Genosse gebeten, ihm das Wort zu erteilen; sowohl Genosse Tokarew wie ich sind damit einverstanden.«
Aus dem Saal hörte man zustimmende Rufe.
Okunew platzte heraus:
»Das Wort zur Begrüßung hat Pawka Kortschagin!«
Unter den hundert im Saal Anwesenden kannten Kortschagin mindestens achtzig Genossen, und als die vertraute Gestalt an der Rampe erschien und der hochgewachsene blasse Bursche zu sprechen begann, wurde er von allen mit frohen Rufen und stürmischen Ovationen begrüßt.
»Liebe Genossen!«
Die Stimme Kortschagins blieb gleichmäßig, aber seine Erregung war doch zu spüren.
»Es ist also Tatsache, Freunde, dass ich zu euch zurückgekehrt bin und meinen Platz in euren Reihen wieder einnehme. Ich bin glücklich, dass ich wieder da bin. Ich sehe hier eine Anzahl meiner Freunde. Bei Okunew habe ich gelesen, dass sich hier bei uns in Solomenka die Zahl der Genossen um ein Drittel vermehrt hat, dass man in den Werkstätten und im Depot mit der Herstellung von Feuerzangen Schluss gemacht hat und dass jetzt die ausrangierten Maschinen vom Lokomotivfriedhof in Generalreparatur genommen werden. Das alles bedeutet, dass unser Land zu neuem Leben erwacht und neue Kräfte sammelt. Da weiß man, wofür man lebt! Wie hätte ich denn in einer solchen Zeit sterben können!« Kortschagins Augen strahlten vor Glück.
Unter stürmischen Zurufen stieg Pawel von der Bühne in den Saal und ging dorthin, wo Anna Borchardt und Talja saßen. Schnell schüttelte er ihnen die Hände. Die Freunde rückten zusammen, und Pawel setzte sich. Taljas Hand legte sich auf die seine und drückte sie fest, sehr fest.
Annas Augen waren weit geöffnet, ihre Wimpern zuckten kaum merklich, und ihr Blick verriet Staunen und Wiedersehensfreude.

Die Tage vergingen. Gewöhnlich konnte man sie wohl kaum nennen. Jeder Tag brachte etwas Neues, und Kortschagin musste, wenn er morgens seine Zeit einteilte, betrübt feststellen, dass der Tag nicht ausreichte und immer etwas von dem Geplanten ungetan bleiben musste.
Pawel wohnte bei Okunew und arbeitete in der Werkstätte als Monteurgehilfe.
Lange stritt er sich mit Nikolai herum, bevor der sich einverstanden erklärte, ihn vorerst von leitender politischer Arbeit zu befreien.
»Bei uns herrscht Mangel an Menschen, und du willst dich in den Betrieb zurückziehen. Rede mir nicht von deiner Krankheit, ich bin selber nach dem Typhus einen Monat lang am Stock ins Bezirkskomitee gegangen. Ich kenne dich doch, Pawka, das ist nicht der wahre Grund. Sag mir lieber, was los ist«, bestürmte ihn Okunew.
»Der wirkliche Grund, Kolja, ist, dass ich lernen möchte.«
Okunew brüllte triumphierend auf:
»Aha …! Darum geht es! Du möchtest lernen, aber glaubst du vielleicht, dass ich das nicht möchte? Ein Egoist bist du, mein Freundchen. Wir also sollen uns hier abschuften, und du wirst studieren. Nein, mein Lieber, gleich morgen gehst du in die Instruktionsabteilung.«
Aber nach langem Hin und Her gab Okunew doch nach.
»Zwei Monate werde ich dich in Ruhe lassen. Sollst meine Gutmütigkeit kennen lernen. Aber mit Zwetajew wirst du nicht zusammenarbeiten können, der ist zu sehr von sich eingenommen.«
Zwetajew nahm die Rückkehr Kortschagins in die Werkstatt mit Zurückhaltung auf. Er war überzeugt, dass mit dessen Erscheinen ein Kampf um die politische Leitung beginnen würde, und bereitete sich, von Ehrgeiz erfüllt, zum Widerstand vor. Aber vom ersten Tag an überzeugte er sich, dass seine Annahme nicht stimmte. Als Kortschagin von der Absicht des Jugendkomitees erfuhr, ihn als Mitglied des Komitees zu kooptieren, ging er selbst zum verantwortlichen Sekretär und überredete ihn, indem er sich auf seine Abmachungen mit Okunew berief, diese Frage von der Tagesordnung abzusetzen. Kortschagin übernahm in der Komsomolzelle seiner Abteilung die Leitung eines politischen Elementarkurses, aber der Arbeit im Komitee wich er aus. Und doch war, obgleich er auf die offizielle Leitung verzichtete, Pawels Einfluss
auf die gesamte Arbeit des Kollektivs deutlich zu spüren. Unauffällig, ganz kameradschaftlich half er Zwetajew mehr als einmal aus schwierigen Situationen.
Eines Tages, als Zwetajew die Werkstatt betrat, bemerkte er höchst erstaunt, wie die gesamte Komsomolzelle und ungefähr dreißig parteilose Jungen die Fenster putzten, Maschinen reinigten, den langjährigen Schmutz von ihnen abkratzten und Alteisen und Gerumpel auf den Hof hinausschleppten. Pawel war gerade dabei, den von Öl beschmutzten Zementboden mit einem Schrubber zu bearbeiten.
»Was scheuert ihr denn da herum?« fragte Zwetajew verständnislos.
»Wir wollen nicht im Dreck arbeiten. Seit zwanzig Jahren ist hier nicht saubergemacht worden. Wir werden unsere Werkabteilung binnen einer Woche vollständig renovieren«, erwiderte ihm Kortschagin kurz.
Zwetajew zuckte mit den Schultern und ging.
Den Elektromonteuren genügte das aber noch nicht - sie räumten nicht nur in der Werkstatt auf, sondern machten sich auch an die Säuberung des Fabrikhofes. Dieser große Hof war von jeher eine Schuttabladestätte gewesen. Was lag da nicht alles umher! Hunderte von Waggonrädern, ganze Berge rostigen Eisens, Schienen, Puffer, Buchsen - mehrere tausend Tonnen Metall rosteten dort unter freiem Himmel. Aber der Angriff auf diese Abladestelle wurde von der Verwaltung gestoppt:
»Wir haben jetzt wichtigere Auf gaben. Der Hof läuft uns nicht davon.«
Da pflasterten die Monteure noch schnell den Vorplatz zum Eingang in ihre Werkabteilung mit Ziegelsteinen und befestigten vor der Tür ein Drahtnetz zum Reinigen der Schuhe. Die Aufräumungsarbeiten in der Werkstatt wurden jedoch abends nach Betriebsschluss fortgesetzt.
Als der Chefingenieur Strish eine Woche später die Abteilung betrat, war die ganze Werkstatt von Licht überflutet. Die riesigen Fenster gaben, gereinigt von uraltem, mit Öl vermischtem Staub, den Sonnenstrahlen den Weg in den Maschinensaal frei, wo sie sich in den blankgeputzten Teilen der Motoren spiegelten. Die schweren Maschinenteile waren grün angestrichen, und auf die Speichen der Räder hatte jemand sorgsam gelbe Pfeile gemalt.
»Hm, ja …«, staunte Strish.
In einer entlegenen Ecke der Abteilung beendeten einige Leute gerade ihre Arbeit. Strish ging auf sie zu. Kortschagin kam ihm entgegen, eine Büchse mit angemischter Farbe in der Hand.
»Einen Augenblick, mein Lieber«, hielt ihn der Ingenieur an.
»Mit dem, was Sie da tun, bin ich einverstanden. Aber woher haben Sie die Farbe? Ich habe doch verboten, ohne meine Erlaubnis Material zu verbrauchen, und Farbe ist sehr knapp. Das Anstreichen der Lokomotivteile ist wichtiger als das, was Sie hier machen.«
»Wir haben weggeworfene Farbenbüchsen gesucht. Zwei Tage lang haben wir uns mit dem alten Gerümpel abgegeben und etwa fünfundzwanzig Pfund zusammengekratzt. Wir halten uns genau an die Vorschriften, Genosse Ingenieur.«
Strish brummte noch ein wenig, aber diesmal schon ganz verlegen.
»Das ist natürlich etwas anderes. Hm, hm … immerhin interessant. Woher kommt denn dieser - sagen wir mal - spontane Sauberkeitsfimmel? Sie haben doch wohl diese Arbeit in Ihrer freien Zeit ausgeführt?«
Kortschagin spürte aus den Worten des Technischen Leiters völlige Verständnislosigkeit.
»Natürlich. Wann denn sonst?«
»Ja, aber…«
»Ja, das ist eben das Aber, Genosse Strish. Wer hat Ihnen denn gesagt, dass sich die Bolschewiki mit diesem Schmutz abfinden würden? Warten Sie nur ab, wir werden die Sache noch viel besser in Schwung bringen. Sie werden noch Ihr blaues Wunder erleben.«
Er wich dem Ingenieur vorsichtig aus, um ihn nicht mit Farbe zu beschmieren, und ging davon.
Bis spätabends steckte Kortschagin gewöhnlich in der öffentlichen Bibliothek. Er freundete sich mit allen drei Bibliothekarinnen an und brachte seine ganze Überredungskunst auf, um schließlich das Recht zu erhalten, alle Bücher durchzusehen. Stundenlang saß Pawel auf der an die riesigen Bücherschränke gelehnten kleinen Leiter und durchblätterte ein Buch nach dem anderen, immer auf der Suche nach etwas, was für ihn interessant und nützlich sein könnte. Es waren meist alte Bücher, die er fand. Die neue Literatur hatte ganz bescheiden in einem kleinen Schrank Platz gefunden. Da standen zufällig hierher geratene Broschüren aus der Zeit des Bürgerkrieges, »Das Kapital« von Marx, »Die Eiserne Ferse« und noch einige andere Bände.
Unter den alten Büchern fand Kortschagin den Roman »Spartakus«. Nachdem er ihn in zwei Nächten verschlungen hatte, stellte er ihn in den kleinen Schrank neben eine Reihe Gorki-Bände.
So gruppierte Pawel die für ihn interessante und wichtige Literatur die ganze Zeit hindurch um. Die Bibliothekarinnen hinderten ihn nicht daran, ihnen war das gleichgültig.

Die im Jugendkollektiv herrschende Eintönigkeit und Ruhe wurde durch einen scheinbar unbedeutenden Vorfall jäh gestört. Kostja Fidin, ein stupsnasiger, phlegmatischer Bursche mit pockennarbigem Gesicht, ein Mitglied der Zellenleitung der mittleren Reparaturwerkstätte, hatte beim Bohren einer Eisenplatte einen teuren amerikanischen Bohrer zerbrochen, und zwar infolge unglaublicher Nachlässigkeit, ja sogar noch schlimmer - es sah fast wie Absicht aus. Der Obermeister der mittleren Werkstatt, Chodorow, hatte Kostja angewiesen, in eine Platte einige Löcher zu bohren. Anfänglich weigerte sich Kostja, aber als der Meister darauf bestand, nahm er die Platte und begann zu bohren.
Chodorow war in der Werkstatt unbeliebt, da er ewig nörgelte und sehr große Ansprüche an die Arbeit stellte. Er war früher einmal Menschewik gewesen. Am gesellschaftlichen Leben beteiligte er sich überhaupt nicht, die Komsomolzen sah er scheel an, er verstand jedoch seine Sache ausgezeichnet und erfüllte seine Pflichten gewissenhaft.
Der Meister bemerkte, dass Kostja »trocken« bohrte, ohne den Bohrer entsprechend geölt zu haben. Hastig ging er zur Bohrmaschine und stellte sie ab.
»Du hast wohl keine Augen im Kopf, oder arbeitest du erst seit gestern hier!« schrie er Kostja an, da ihm klar war, dass der Bohrer durch eine derartige Behandlung unbedingt kaputtgehen musste.
Kostja gab eine freche Antwort und begann erneut zu bohren. Chodorow ging zum Abteilungsleiter, um sich zu beschweren. Kostja hingegen rannte, ohne die Bohrmaschine abzustellen, nach einer Ölkanne, damit, wenn jemand von der Betriebsleitung käme, alles in Ordnung vorgefunden würde. Als er mit dem Öl zurückkehrte, war der Bohrer bereits gebrochen. Der Abteilungsleiter verlangte Fidins Entlassung, Die Leitung der Abteilungsjugendzelle setzte sich jedoch für Kostja ein, mit der Begründung, dass Chodorow das Jugendaktiv unterdrücke. Die Administration bestand auf ihrer Forderung, und die Sache wurde der Leitung der gesamten Betriebsjugend zur Behandlung vorgelegt. Damit nahm die Geschichte ihren Anfang.
Von den fünf Mitgliedern der Jugendleitung waren drei, darunter auch Zwetajew, der Meinung, dass Kostja einen Verweis bekommen und auf eine andere Arbeitsstelle überführt werden müsse.
Die zwei anderen Mitglieder der Leitung hielten Kostja überhaupt für unschuldig.
Die Sitzung fand in Zwetajews Büro statt. Es standen dort ein großer, mit rotem Tuch bedeckter Tisch und einige von den Jungen aus der Tischlerei selber angefertigte lange Bänke und Schemel. An den Wänden hingen die Bilder führender Genossen, und hinter dem Tisch war über die ganze Wand die Fahne des Jugendkollektivs ausgebreitet.
Zwetajew war von der Betriebsarbeit befreit. Er war dank seiner Fähigkeiten im Laufe der letzten vier Monate zu einer führenden Stellung im Komsomol aufgerückt. Man hatte ihn zum Mitglied des Bezirks-Jugendkomitees sowie in das Gouvernementskomitee gewählt. Früher arbeitete er als Schmied im Metallwerk. In den Hauptwerkstätten war er jedoch ein Neuling. Aber gleich vom ersten Tag an hatte er die Zügel fest in die Hand genommen. Durch seine allzu große Überheblichkeit und seine Entschlossenheit dämpfte er die Initiative der Jungen. Er wollte alles selber machen. Da er nicht imstande war, die ganze Arbeit allein zu bewältigen, begann er seinen Mitarbeitern Passivität vorzuwerfen.
Sogar die Ausstattung des Zimmers hatte er beaufsichtigen müssen.
Zwetajew saß in dem einzigen, aus der Roten Ecke hierher gebrachten bequemen Sessel und leitete die Sitzung. Als Chomutow, der Parteiorganisator des Betriebes, ums Wort bat, pochte jemand an die verschlossene Tür. Zwetajew verzog unzufrieden das Gesicht. Es klopfte wieder. Katja Seljonowa stand auf und schob den Riegel zurück. In der Tür stand Kortschagin. Katja ließ ihn eintreten.
Pawel ging schon auf eine der freien Bänke zu, als Zwetajew rief:
»Kortschagin! Wir haben heute eine geschlossene Sitzung!«
Pawel wurde über und über rot und ging langsam zum Tisch.
»Das weiß ich. Mich interessiert jedoch euer Standpunkt zum Fall Kostja Fidin. Ich möchte dazu einen neuen Gesichtspunkt vorbringen. Oder hast du etwas gegen meine Anwesenheit einzuwenden?«
»Ich habe nichts dagegen. Es ist dir jedoch bekannt, dass an geschlossenen Sitzungen nur Komiteemitglieder teilnehmen dürfen. Wenn es zu viele Leute sind, ist die Behandlung der Fragen schwieriger. Aber wenn du nun einmal hier bist, nimm schon Platz.«
Kortschagin erhielt zum ersten Mal eine solche Ohrfeige. Zwischen seinen Augenbrauen bildete sich eine Falte.
»Wozu diese Formalität?« fragte Chomutow missbilligend.
Kortschagin brachte ihn jedoch durch eine Geste zum Schweigen und ließ sich auf einem Schemel nieder.
»Also, was ich sagen wollte«, begann Chomutow. »Was Chodorow betrifft, so stimmt es, dass er ein Fremdkörper ist. Aber bei uns steht es schlecht um die Disziplin. Wenn alle Komsomolzen anfangen, die Bohrer zu zerbrechen, so werden wir bald die Bude zumachen können, und außerdem ist das für die Parteilosen ein sehr schlechtes Beispiel. Ich bin der Ansicht, dass man dem Burschen eine Verwarnung erteilen muss.«
Zwetajew ließ ihn nicht zu Ende reden und widersprach. Zehn Minuten lang hörte Kortschagin zu, dann war er sich über den Standpunkt des Komitees im klaren. Als man schon abstimmen wollte, bat er, eine Erklärung abgeben zu dürfen. Es kostete Zwetajew große Überwindung, Pawel das Wort zu erteilen.
»Genossen, ich möchte zu der Sache mit Kostja einmal meine Meinung sagen.«
Kortschagins Stimme klang schärfer, als es ihm selbst lieb war.
»Die Sache mit Kostja ist ein Signal - aber das wichtigste dabei ist nicht einmal Kostja. Ich habe mir gestern einige Zahlen notiert.« Pawel holte sein Notizbuch hervor.
»Die Zahlen hat mir die Kontrolle im Betrieb gegeben. Hört jetzt nur aufmerksam zu! Dreiundzwanzig Prozent aller Komsomolzen kommen täglich fünf bis fünfzehn Minuten zu spät zur Arbeit. Das ist bereits zur Regel geworden. Siebzehn Prozent aller Komsomolzen schwänzen systematisch ein bis zwei Tage im Monat, während es unter der unorganisierten Jugend nur vierzehn Prozent Bummler gibt. Diese Zahlen sind für uns schlimmer als Peitschenhiebe. Ich habe mir bei dieser Gelegenheit außerdem noch folgendes notiert: Unter den Parteigenossen gibt es vier Prozent Bummler, die allmonatlich einen Tag fehlen, und ebenfalls vier Prozent, die sich verspäten. Von den parteilosen erwachsenen Arbeitern bummeln monatlich elf Prozent einen Tag, zu spät kommen dreizehn Prozent. Werkzeugbruch geht zu neunzig Prozent
auf Kosten der Jugendlichen, davon entfallen nur sieben Prozent auf solche, die erst kurze Zeit im Betrieb arbeiten. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass wir Komsomolzen viel schlechter arbeiten als die Parteimitglieder und die erwachsenen parteilosen Arbeiter. Das ist aber nicht in allen Werkstätten so. In der Schmiede herrscht beneidenswerte Ordnung, bei den Elektromonteuren steht es zufrieden stellend, aber in den anderen Werkstätten haben wir überall so ziemlich die gleiche Lage. Genosse Chomutow hat meines Erachtens zu der Frage der Disziplin nur ein Viertel von dem gesagt, was gesagt werden müsste. Vor uns steht die Aufgabe, diese Lage zu verändern. Ich will hier nicht Agitation treiben und Versammlungsreden schwingen. Wir müssen jedoch gegen diese Lotterwirtschaft und Schlamperei mit aller Schärfe ankämpfen. Die alten Arbeiter sagen es geradeheraus: ›Für den Unternehmer ist besser gearbeitet worden, dem Kapitalisten ist bessere Arbeit geliefert worden.‹ Und jetzt, wo wir unsere eigenen Herren sind, lässt sich so was überhaupt nicht entschuldigen. Nicht so sehr Kostja oder sonst wer ist in erster Linie daran schuld, sondern wir alle sind es, weil wir diese Übel nicht nur nicht bekämpft haben, wie es sich gehört, sondern im Gegenteil solche wie Kostja häufig unter den verschiedensten Vorwänden in Schutz nehmen. Samochin und Butylak haben soeben davon gesprochen, dass Fidin einer von uns ist - wie man sagt, ›einer von uns‹, ein Aktivist, der seine gesellschaftliche Arbeit leistet. Nun ja, ihm ist ein Bohrer gebrochen, was ist schon Besonderes dabei, wem kann das nicht passieren? Dafür ist der Junge unser Mann, der Meister aber ist ein fremdes Element .…. Obwohl sich niemand mit Chodorow beschäftigen will … Dieser Nörgler hat eine dreißigjährige Berufspraxis hinter sich. Von seiner politischen Einstellung wollen wir hier nicht reden. Im Moment ist er im Recht: Er, das fremde Element, bewahrt das Staatseigentum, wir aber vernichten kostbare importierte Instrumente. Ich bin der Ansicht, dass wir jetzt zum ersten Schlag ausholen sollten.
Ich beantrage, Fidin als Schlendrian, als Taugenichts und Desorganisator aus dem Jugendverband auszuschließen, seine Angelegenheit an der Wandzeitung zu behandeln und offen, ohne irgendwelche Beschönigung, die von mir genannten Zahlen im Leitartikel zu veröffentlichen. Wir haben Kräfte genug, wir haben Genossen, auf die wir uns dabei stützen können. Die Mehrheit unserer Jugendgenossen sind gute Betriebsarbeiter. Sechzig von ihnen haben in Bojarka gearbeitet, und das ist die beste Schule gewesen. Mit Hilfe und Unterstützung dieser Genossen werden wir in unserem Betrieb Ordnung schaffen. Nur muss ein für allemal mit einer derartigen Einstellung zur Sache, wie sie jetzt vorherrscht, Schluss gemacht werden.«
Der sonst so ruhige und schweigsame Kortschagin hatte diesmal leidenschaftlich und scharf gesprochen. Zwetajew sah den Monteur zum ersten Mal in seiner wirklichen Gestalt. Er verstand, dass Pawel recht hatte, aber das Misstrauen ihm gegenüber hinderte ihn daran, sich mit ihm einverstanden zu erklären. Er betrachtete Kortschagins Auftreten als eine scharfe Kritik am allgemeinen Zustand der Organisation, als eine Untergrabung seiner - Zwetajews - Autorität und nahm sich vor, mit Pawel gründlich abzurechnen. Er begann seine Widerlegung mit der unverblümten Anschuldigung, dass Kortschagin den Menschewik Chodorow verteidige.
Drei Stunden lang währte die stürmische Debatte. Erst am späten Abend wurde ihr Ergebnis zusammengefasst. Von der unerbittlichen Logik der Tatsachen geschlagen und nachdem sich die Mehrheit auf Pawels Standpunkt gestellt hatte, beging Zwetajew einen Fehler - er verstieß gegen die Demokratie. Vor der entscheidenden Abstimmung forderte er Kortschagin auf, das Zimmer zu verlassen.
»Gut, ich werde hinausgehen, Ehre macht dir das nicht, Zwetajew. Bevor ich gehe, mache ich dich nur auf eins aufmerksam, dass ich, falls du deinen Standpunkt doch durchsetzen solltest, morgen in der allgemeinen Versammlung auftreten werde. Dort wirst du - ich bin fest davon überzeugt - keine Mehrheit bekommen. Du hast unrecht, Zwetajew. Ich denke, Genosse Chomutow, dass du diese Frage noch vor der allgemeinen Versammlung auf der Parteiversammlung behandeln lassen musst.«
Zwetajew rief ihm herausfordernd zu:
»Willst du mich erschrecken? Ich weiß auch ohne dich, was ich zu tun habe. Wir werden dort auch über dich sprechen. Wenn du selbst nicht arbeitest, so hindere wenigstens andere nicht daran.«
Als Pawel die Tür hinter sich ins Schloss geworfen hatte, fuhr er sich mit der Hand über die heiße Stirn und ging durch das leere Büro zum Ausgang. Draußen auf der Straße atmete er tief, zündete sich eine Zigarette an und ging auf das Häuschen auf Batyjewa Gora zu, wo Tokarew wohnte.
Kortschagin traf den Schlosser beim Abendbrot.
»Nun erzähl mal, was gibt's bei euch Neues. Darja, bring ihm doch eine Schüssel Brei.« Tokarew nötigte Pawel, Platz zu nehmen.
Darja Fominischna, Tokarews Frau, die im Gegensatz zu ihrem Mann groß und rundlich war, setzte Pawel einen Teller voll Hirsebrei vor. Sie wischte sich die feuchten Lippen mit der weißen Schürze ab und sagte herzlich:
»Iß, mein Junge.«
Früher, als Tokarew noch in der Werkstatt gearbeitet hatte, war Pawel häufig bis zum späten Abend bei ihm zu Gast gewesen. Aber seit seiner Rückkehr in die Stadt war er heute zum ersten Mal bei dem Alten.
Der Schlosser lauschte aufmerksam Pawels Erzählung. Er selbst sagte kein Wort, löffelte fleißig seinen Brei, nur hier und da ließ er ein leises »Hm« vernehmen. Als er mit dem Essen fertig war, wischte er sich mit dem Taschentuch den Bart ab und räusperte sich.
»Du hast natürlich recht. Wir hätten schon längst diese wichtige Frage behandeln müssen. Das Kollektiv der Werkstätten ist das größte und bedeutendste in unserem Bezirk. Da muss man auch den Anfang machen. Du bist also mit Zwetajew in Streit geraten? Schlimm. Er ist ein rechthaberischer Kerl, aber du hast es doch immer verstanden, mit den Jungen zu arbeiten. Nebenbei, was machst du eigentlich in den Werkstätten?«
»Ich arbeite in meinem Fach. Na, und mache überall ein bisschen mit. Leite in der Zelle meiner Werkabteilung einen Elementarzirkel.«
»Und in der Jugendleitung, was machst du da?« Kortschagin wurde verlegen.
»Ich habe die erste Zeit, da ich mich noch ein bisschen schwach fühlte und außerdem lernen wollte, offiziell an der Leitung nicht teilgenommen.«
»Na ja, da haben wir's!« rief Tokarew missbilligend aus.
»Weißt du, mein Söhnchen, nur eins rettet dich vor einer gründlichen Kopfwäsche: Das ist deine schwache Gesundheit. Und jetzt, wie ist es, hast du dich ein bisschen erholt?«
»Ja.«
»Nun also, dann mach dich jetzt mal richtig an die Arbeit. Hat doch keinen Sinn, dass du weiter so herumwurstelst. Wann ist es schon dagewesen, dass man als fünftes Rad am Wagen was Vernünftiges leisten konnte! Jeder wird dir sagen, du drückst dich vor der Verantwortung - und du kannst dich nicht einmal verteidigen. Bring das alles morgen in Ordnung, und Okunew werde ich den Kopf waschen«, schloss Tokarew, und in seiner Stimme lag Unzufriedenheit.
»Lass ihn in Ruhe, Alter«, bat Pawel, »ich hab ihn selbst gebeten, mir vorläufig keine Funktion zu übertragen.«
Tokarew pfiff verächtlich durch die Zähne.
»Du hast ihn gebeten, und er hat dir nachgegeben? Nun gut, was soll man schon mit euch Komsomolzen anfangen? - Aber jetzt los, Junge, lies mir mal wie in früheren Zeiten die Zeitung vor. Meine Augen wollen nicht mehr so recht.«

Das Büro des Parteikollektivs erklärte sich mit dem Standpunkt der Mehrheit des Jugendkomitees einverstanden. Das Partei- und Komsomolkollektiv erhielt eine wichtige und schöne Aufgabe: durch die eigene Arbeit ein gutes Beispiel an Arbeitsdisziplin zu geben. In der Komiteesitzung wurde Zwetajew ordentlich vorgenommen. Anfangs wollte er sich auflehnen, aber durch das Auftreten
des Parteisekretärs Lopachin, eines älteren Arbeiters mit einem gelblich-blassen mageren Gesicht, in die Enge getrieben, kapitulierte Zwetajew und gab seinen Fehler halbwegs zu.
Am nächsten Tag erschienen an den Wandzeitungen der Hauptwerkstätten Artikel, die die Aufmerksamkeit aller Arbeiter auf sich lenkten. Sie wurden laut vorgelesen und leidenschaftlich diskutiert.
Am Abend, auf der ungewöhnlich stark besuchten Komsomolversammlung, wurde von nichts anderem gesprochen.
Kostja wurde aus dem Jugendverband ausgeschlossen, und in das Komsomolkomitee wurde ein neuer Leiter für Agitations- und Bildungsarbeit gewählt: Kortschagin.
Es herrschte ungewöhnliche Stille, und alle hörten aufmerksam Neshdanow zu. Er sprach über die neuen Aufgaben, über die neue Ära, die jetzt für die Eisenbahnwerkstätten begonnen hatte.
Nach der Versammlung wartete Kortschagin auf der Straße auf Zwetajew.
»Gehen wir zusammen. Wir haben manches miteinander zu besprechen«, sagte Pawel.
»Worum handelt es sich?« fragte Zwetajew dumpf.
Pawel fasste ihn unter und ging einige Schritte mit ihm. Vor einer Bank machte er halt.
»Setzen wir uns ein wenig«, sagte Pawel und nahm als erster Platz.
Zwetajews Zigarette glühte einige Mal auf und erlosch wieder.
»Sag mal, Zwetajew, was hast du eigentlich gegen mich?«
Es folgten einige Minuten Schweigen.
»Ach, darüber willst du reden, und ich dachte, du willst mit mir über die Arbeit sprechen!« sagte Zwetajew etwas unruhig, mit gekünsteltem Erstaunen in der Stimme.
Pawel legte Zwetajew fest die Hand aufs Knie.
»Lass doch diesen Ton, Dimka. So spielen sich doch nur Diplomaten auf. Sag mir ganz offen, was hab ich dir getan?« Zwetajew rückte nervös hin und her.
»Was willst du eigentlich von mir? Was soll ich gegen dich haben! Ich habe dir ja selbst vorgeschlagen mitzuarbeiten. Du hast das abgelehnt, und jetzt sieht es so aus, als hätte ich dich verdrängen wollen.«
Pawel spürte in Zwetajews Stimme Unaufrichtigkeit, und ohne seine Hand vom Knie des anderen zu nehmen, sagte er erregt:
»Du willst mir nicht antworten - dann werde ich es für dich tun. Du glaubst, dass ich dir im Wege bin, glaubst, ich träumte davon, Komsomolsekretär zu werden. Würde das nicht zutreffen, dann wären diese Streitereien wegen Kostja nicht gewesen. Aber solches Misstrauen hemmt doch die ganze Arbeit. Würde das nur uns beide betreffen, dann wäre es ja nicht wichtig, soll jeder von uns denken, was er will. Wir werden aber schon morgen gemeinsam arbeiten müssen. Wie soll das aussehen? Also, hör zu. Hier gibt's nichts zu streiten. Beide sind wir Arbeiterjungen. Wenn dir unsere Sache über alles geht, so gibst du mir jetzt deine Hand, und ab morgen arbeiten wir kameradschaftlich miteinander. Wenn du dir jedoch diesen ganzen Mist nicht sofort aus dem Kopf schlägst und herumstänkerst, dann werden wir wegen jeder Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, hart aneinander rennen. Hier hast du meine Hand, schlag ein, solange sie noch die Hand eines Freundes ist.«
Mit großer Genugtuung spürte Kortschagin die knochigen Finger Zwetajews in seiner Hand.

Eine Woche war vergangen. Im Bezirks-Parteikomitee ging der Arbeitstag zur Neige. In den Zimmern war es still geworden. Aber Tokarew war noch immer bei der Arbeit. Der Alte saß in seinem Sessel und las aufmerksam die neu eingelaufenen Schriftstücke. Da klopfte es an die Tür.
»Herein!« rief Tokarew,
Kortschagin betrat das Zimmer und legte dem Sekretär zwei ausgefüllte Fragebogen hin.
»Was ist das?«
»Das ist das Ende meiner Verantwortungslosigkeit, Väterchen. Ich denke, es wird schon Zeit. Wenn du der gleichen Ansicht bist, bitte ich um deine Unterstützung.« Tokarew warf einen Blick auf die Überschrift und musterte Pawel einige Sekunden lang. Dann nahm er schweigend die Feder zur Hand, und in die Rubrik, in der nach dem Parteialter des Befürwortenden gefragt wird, schrieb er das Jahr 1903 und setzte daneben mit fester Hand seine Unterschrift, durch die er Pawel Andrejewitsch Kortschagin als Kandidaten der KPR(B) empfahl.
»Hier nimm, mein Sohn. Ich hoffe, du wirst meinen grauen Haaren niemals Schande machen.«

Im Zimmer war es drückend schwül, und alle hatten nur den einen Wunsch: schnell wegzukommen, hinaus in die Kastanienalleen beim Bahnhof.
»Mach Schluss, Pawka, ich halt's nicht mehr aus«, flehte der schweißtriefende Zwetajew. Katja und die anderen unterstützten ihn.
Kortschagin schlug das Buch zu. Der Zirkel hatte seine Arbeit beendet.
Während sich alle gleichzeitig von ihren Plätzen erhoben, surrte der altersschwache Telefonapparat »Erikson« an der Wand. Zwetajew nahm den Hörer ab und führte das Gespräch, bemüht, den Lärm im Zimmer zu überschreien.
Dann hängte er den Hörer auf und wandte sich an Kortschagin.
»Auf dem Bahnhof stehen zwei Waggons des polnischen Konsulats. Dort funktioniert das Licht nicht. Der Zug soll in einer Stunde abfahren, die Leitung muss repariert werden. Nimm also deinen Handwerkskasten, Pawel, und geh hin. Die Sache ist dringend.«
Zwei blitzblanke Pullmanwagen standen gleich am ersten Bahnsteig. Der Salonwagen mit den breiten Fenstern war hell erleuchtet. Aber im Nachbarwagen herrschte Dunkelheit.
Pawel trat an den Wagen heran und wollte gerade aufsteigen, als sich von der Wand des Stationsgebäudes rasch eine Gestalt löste und ihn an der Schulter packte.
»Wohin, Bürger?«
Pawel kannte diese Stimme.
Er blickte sich um und sah eine Lederjacke, ein breites Mützenschild, eine dünne Nase mit einem kleinen Höcker und einen wachsamen, misstrauischen Blick: Artjuchin. Der erkannte ihn ebenfalls.
Er nahm die Hand von Pawels Schulter, sein Gesichtsausdruck verlor das Amtliche, aber sein Blick blieb fragend am Handwerkskasten haften.
»Wohin willst du?«
Pawel gab kurz Bescheid. Hinter dem Waggon tauchte eine andere Gestalt auf.
»Ich werde sofort den Zugbegleiter rufen.«
Im Salonwagen, den Kortschagin hinter dem Schaffner bestieg, befanden sich einige Passagiere in eleganten Reisekostümen. Am Tisch, den ein seidenes Tischtuch mit einem Rosenmuster bedeckte, saß, den Rücken zur Tür gekehrt, eine Frau. Sie unterhielt sich mit einem ihr gegenüberstehenden hochgewachsenen Offizier. Kaum hatte sie jedoch den Monteur bemerkt, verstummte das Gespräch.
Kortschagin, der die von der letzten Lampe in den Durchgang führenden Leitungsdrähte rasch untersucht und sie in Ordnung gefunden hatte, verließ den Salonwagen und forschte weiter nach der schadhaften Stelle. Ihm folgte unablässig der behäbige, stiernackige Zugbegleiter in einer Uniform mit einer Menge großer Messingknöpfe, auf denen ein einköpfiger Adler prangte.
»Hier ist alles in Ordnung, der Akkumulator arbeitet. Der Schaden muss im zweiten Wagen liegen.«
Der Zugbegleiter drehte in der Tür den Schlüssel um, und sie betraten den dunklen Korridor. Pawel suchte die Leitung mit seiner Taschenlampe ab und entdeckte sogleich die Stelle, wo der Kurzschluss entstanden war. Nach wenigen Minuten leuchtete die erste Lampe im Durchgang auf und erhellte ihn mit ihrem matten Licht.
»Im Coupe müssen die Lampen ausgewechselt werden. Sie sind durchgebrannt«, sagte Kortschagin zu seinem Begleiter.
»Dann muss ich die gnädige Frau rufen. Sie hat den Schlüssel.« Und der Schaffner, der Kortschagin nicht allein lassen wollte, nahm ihn mit sich.
Die Frau betrat als erste das Coupe. Ihr folgte Kortschagin. Der Zugbegleiter blieb in der Tür stehen, die er mit seiner massiven Gestalt ganz einnahm. Pawel bemerkte zwei elegante Lederkoffer in den Gepäcknetzen, einen nachlässig auf das Polster geworfenen seidenen Mantel, ein Fläschchen Parfüm und eine winzige Puderdose aus Malachit auf dem Tisch. Die Frau setzte sich in die Ecke des Diwans, strich ihr flachsblondes Haar zurecht und beobachtete den Monteur bei seiner Arbeit.
»Gestatten gnädige Frau, dass ich das Coupe einen Augenblick verlasse, der Herr Major wünscht kaltes Bier«, sagte der Schaffner devot und beugte mühsam seinen Stiernacken vor.
»Sie können gehen«, erwiderte die Angeredete.
Das Gespräch wurde in polnischer Sprache geführt. Aus dem Gang fiel ein Lichtstreifen auf die Schulter der Frau. Das elegante, von erstklassigen Pariser Schneidern angefertigte Kleid aus feiner Lyoner Seide ließ Schultern und Arme frei. In dem kleinen Ohr wippte aufblitzend und funkelnd ein tropfenförmiger Brillant. Kortschagin sah nur die wie aus Elfenbein geschnitzten Schultern und Arme der Frau. Das Gesicht war in Schatten getaucht. Flink arbeitete Pawel mit dem Schraubenzieher und wechselte an der Decke die Fassung aus. Nach einer Minute erleuchtete helles Licht das Coupe. Es blieb nur noch die zweite Lampe über dem Diwan, auf dem die Frau saß, zu überprüfen.
»Ich muss auch noch diese Lampe nachsehen«, sagte Kortschagin und blieb vor ihr stehen.
»Ach ja, ich störe Sie hier«, erwiderte die Dame in reinstem Russisch. Sie erhob sich behänd vom Diwan und stand direkt neben Pawel. Jetzt konnte er auch ihr Gesicht sehen. Die schnurgeraden Augenbrauen und hochmütig zusammengepressten Lippen kamen ihm bekannt vor. Jeder Zweifel war ausgeschlossen. Vor ihm stand Nelly Leszczynska. Die Tochter des Advokaten musste seinen verwunderten Blick bemerkt haben. Doch wenn Kortschagin sie auch erkannt hatte, Nelly Leszczynska merkte nicht, dass der Monteur ihr ehemaliger unruhiger Nachbar war.
Als Antwort auf seine erstaunten Blicke zog sie die Augenbrauen lässig zusammen, begab sich zur Coupetür und blieb dort stehen.
Pawel prüfte die andere Lampe. Nachdem er sie losgeschraubt hatte, hielt er sie gegen das Licht und fragte plötzlich, unerwartet für sich selbst, noch mehr aber für Nelly Leszczynska, in polnischer Sprache:
»Ist Viktor auch hier?«
Bei dieser Frage wandte sich Kortschagin nicht um. Er konnte Nellys Gesicht nicht sehen, aber ihr langes Schweigen zeugte von ihrer Verlegenheit.
»Kennen Sie ihn denn?«
»Sehr gut sogar. Wir waren doch Nachbarn.« Pawel blickte sie an.
»Ach, Sie sind ja Pawel, der Sohn der …«, Nelly hielt inne.
»… Köchin«, half ihr Kortschagin aus.
»Wie groß Sie geworden sind! Ich kann mich noch daran erinnern, was für ein wilder Junge Sie waren.«
Nelly musterte ihn unverhohlen vom Kopf bis zu den Füßen.
»Aber weshalb interessiert Sie Viktor? Soweit ich mich entsinne, standet ihr gar nicht so gut miteinander«, sagte Nelly mit singender Sopranstimme, in der Hoffnung, sich durch diese unerwartete Begegnung ein wenig zu zerstreuen.
Der Schraubenzieher drehte flink eine Schraube in die Wand.
»Mit Viktor habe ich noch eine Rechnung zu begleichen. Sollten Sie ihn sehen, sagen Sie ihm, dass ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben habe, mit ihm abzurechnen.«
»Sagen Sie mir doch, wie viel er Ihnen schuldig ist, ich kann Ihnen gleich alles bezahlen.«
Sie wusste genau, welche »Abrechnung« Kortschagin meinte. Die Geschichte mit den Petljura-Leuten war ihr bekannt. Es reizte sie jedoch, sich über diesen »Plebejer« lustig zu machen. Kortschagin würdigte sie keiner Antwort.
»Sagen Sie, stimmt es, dass unser Haus ausgeraubt und zerstört worden ist? Die Laube und die Blumenbeete hat man doch sicher verwüstet?« erkundigte sich Nelly traurig.
»Das Haus gehört jetzt uns und nicht euch, und wir haben gar kein Interesse daran, es zu zerstören.« Nelly lächelte höhnisch.
»Oho, Sie hat man also auch erzogen! Aber ganz nebenbei, das hier ist der Wagen der polnischen Gesandtschaft, und in diesem Coupe bin ich die Herrin, Sie aber sind das geblieben, was Sie waren, ein Sklave. Sie arbeiten auch heute noch, damit ich Licht habe, damit ich hier auf diesem Diwan bequem lesen kann. Früher hat Ihre Mutter für uns Wäsche gewaschen, und Sie haben Wasser getragen. Jetzt treffen wir uns in der gleichen Lage wieder.«
Sie sprach mit triumphierender Schadenfreude. Pawel, der damit beschäftigt war, das Ende des Drahtes mit einem Messer zu spitzen, betrachtete die Polin mit unverhohlenem Spott.
»Ich hätte für Sie persönlich, Bürgerin, auch nicht einen rostigen Nagel in die Wand geschlagen. Da aber die Bourgeoisie die Diplomaten ausgedacht hat, halten wir uns an die Regeln und schlagen ihnen nicht den Kopf ab, nicht einmal Grobheiten sagen wir ihnen, wie Sie es beispielsweise jetzt tun.«
Nelly wurde puterrot.
»Was hätten Sie mit mir angefangen, wenn es Ihnen gelungen wäre, Warschau einzunehmen? Hätten Sie mich auch zu Frikadellen verarbeitet oder zur Konkubine genommen?«
Sie stand in der Tür, graziös vorgeneigt, mit sinnlich bebenden Nasenflügeln. Man sah ihr an, dass der Kokaingenuss ihr nicht fremd war. Die Lampe über dem Diwan gab endlich Licht. Pawel richtete sich auf.
»Wer braucht Sie denn? Auch ohne unsere Säbel werden Sie schließlich an Kokain krepieren. An so einer wie dir würde ich mich nicht einmal vergreifen.«
Den Kasten in der Hand, machte er zwei Schritte zur Tür. Nelly wich zur Seite, und erst am Ende des Korridors hörte er ihre gepresste Stimme:
»Verfluchter Bolschewik!«

Am Abend des nächsten Tages, als sich Kortschagin auf dem Weg zur Bibliothek befand, begegnete er auf der Straße Katja Seljonowa. Sie hielt ihn am Ärmel fest und vertrat ihm scherzhaft den Weg.
»Wohin rennst du denn, Agitpropmann?«
»In die Bibliothek, Tantchen, gib mir den Weg frei«, erwiderte Kortschagin in gleichem Ton, nahm Katja behutsam an den Schultern und schob sie vorsichtig etwas zur Seite.
Katja machte sich los und schritt neben Pawel her.
»Hör mal, Pawluscha! Man muss ja nicht ununterbrochen studieren … Weißt du was? Komm mit mir jetzt zu Sina Gladysch, dort wird heute eine große Gesellschaft sein. Die Mädels haben mich schon lange darum gebeten, dich einzuladen. Du hast nichts als Politik im Kopf. Hast du denn wirklich gar kein Bedürfnis nach Zerstreuung? Einmal etwas ausspannen? Lass heute mal das Lesen sein, davon wird dein Kopf nur freier werden«, überredete ihn Katja hartnäckig.
»Was für eine Gesellschaft ist das? Was wird dort los sein?«
Katja äffte ihn spöttisch nach:
»Was dort los sein wird! Natürlich wird dort nicht gebetet, man amüsiert sich - das ist alles. Du kannst doch Harmonika spielen? Und ich habe dich noch nicht ein einziges Mal gehört. Nun, tu mir schon den Gefallen. Sinas Onkel hat eine Ziehharmonika, aber er spielt schlecht. Die Mädels interessieren sich für dich, und du vergräbst dich hinter den Büchern. Wo steht es geschrieben, dass sich Komsomolzen nicht auch mal amüsieren dürfen? Los. Gehen wir, solange ich es noch nicht satt habe, dich zu überreden, oder wir werden uns
für mindestens einen Monat verkrachen.«
Die Anstreicherin Katja mit den großen Augen war ein guter Kamerad und keine schlechte Komsomolzin. Kortschagin wollte das Mädchen nicht kränken und willigte ein, obwohl ihm das alles ungewöhnlich und etwas seltsam vorkam.
In der Wohnung des Lokomotivführers Gladysch ging es laut und lebhaft her. Die Erwachsenen waren, um das junge Volk nicht zu stören, ins Nebenzimmer gegangen. Im ersten großen Raum und auf der angrenzenden Veranda, die in einen kleinen Garten führte, waren etwa fünfzehn Burschen und Mädchen beisammen. Als Katja und Pawel durch den Garten auf die Veranda kamen, wurde dort gerade »Füttert die Täubchen« gespielt. Das ging so vor sich: Mitten auf der Veranda standen zwei mit den Lehnen gegeneinander gestellte Stühle, auf denen nach Aufforderung der Gastgeberin, die das Spiel leitete, ein Junge und ein Mädchen Platz nahmen. Die Gastgeberin rief:
»Füttert die Täubchen!«, und die beiden drehten sich um, so dass sich ihre Lippen trafen, und sie mussten sich dann in aller Öffentlichkeit küssen. Dann kamen andere Spiele an die Reihe, das »Ringspiel«, der »Briefträger«, und alle waren unbedingt mit Küssen verbunden. Beim »Briefträger« aber ging die Knutscherei nicht in aller Öffentlichkeit vor sich, sondern wurde von der hellerleuchteten Veranda ins Zimmer verlegt, wo dann jedes Mal das Licht ausgemacht wurde. Für diejenigen, denen diese Spiele nicht gefielen, lag auf einem kleinen runden Tisch in der Ecke ein Kartenspiel, »Blumenflirt«, bereit. Pawels Nachbarin, ein Mädchen von sechzehn Jahren, sah ihn mit ihren blauen Augen kokett an, reichte ihm eine Karte hin und sagte leise:
»Veilchen.«
Vor einigen Jahren war Pawel auf solchen Gesellschaften gewesen, und wenn er sich auch nicht unmittelbar daran beteiligt hatte, betrachtete er sie doch als eine normale Erscheinung. Jetzt aber, wo er sich von dem spießbürgerlichen Leben der Kleinstadt für immer losgesagt hatte, kam ihm diese Gesellschaft irgendwie abstoßend und lächerlich vor.
Wie dem aber auch war, er hielt eine Karte des »Blumenflirts« in der Hand.
Dem »Veilchen« gegenüber standen die Worte:
»Sie gefallen mir sehr.«
Pawel blickte das Mädchen an. Gänzlich ungeniert begegnete sie seinem Blick.
»Warum?«
Die Frage kam ungeschickt heraus. Aber das Mädchen hatte sich die Antwort schon vorher ausgedacht.
»Rose.« Sie hielt ihm die zweite Karte hin.
Auf dieser Karte, der »Rose«gegenüber, las er:
»Sie sind mein Ideal.« Kortschagin sah das Mädchen an und fragte, bemüht, nicht grob zu sein:
»Wozu gibst du dich mit solchem Unsinn ab?«
Das Mädchen wurde verwirrt und verlegen.
»Ist Ihnen etwa mein Geständnis unangenehm?« Sie verzog schmollend ihr Mündchen.
Kortschagin ließ ihre Frage unbeantwortet. Es interessierte ihn jedoch, mit wem er es zu tun hatte, und er stellte Fragen, auf die das Mädchen bereitwillig Antwort gab. Bald war er im Bilde, dass sie eine Mittelschule besuchte, dass ihr Vater Kontrolleur im Eisenbahndepot sei, dass sie Pawel schon seit langem vom Sehen kannte und ihn schon immer gern hatte näher kennen lernen wollen.
»Wie heißt du denn?« erkundigte sich Kortschagin.
»Mura Wolynzewa.«
»Dein Bruder ist Zellensekretär im Depot?«
»Ja.«
Jetzt wusste Kortschagin Bescheid. Wolynzew, einer der aktivsten Komsomolzen des Bezirks, kümmerte sich anscheinend überhaupt nicht um seine Schwester, und so wuchs sie denn als eine kleine Spießbürgerin heran. Im letzten Jahr hatte sie angefangen auf derartige Gesellschaften zu gehen, wie sie
ihre Freundinnen ab und zu veranstalteten. Immer und überall diese ewige Küsserei. Sie hatte Kortschagin einige Male bei ihrem Bruder gesehen.
Mura war es klar, dass Pawel ihr Benehmen nicht gefiel, und als man sie aufforderte, »die Täubchen zu füttern«, weigerte sie sich, da sie einen schiefen Blick Kortschagins auffing, entschieden. So saßen sie noch einige Minuten beisammen, und Mura erzählte von sich. Katja Seljonowa kam auf sie zu.
»Soll ich dir die Ziehharmonika bringen? Wirst du spielen?« Und schelmisch mit den Augen zwinkernd, blickte sie Mura an:
»Nun, habt ihr Bekanntschaft miteinander geschlossen?«
Pawel zog Katja auf den neben ihm stehenden Stuhl. Er nahm die Gelegenheit wahr, dass um sie herum gelacht und geschrieen wurde, und antwortete:
»Spielen werde ich nicht, Mura und ich gehen sofort weg.«
»Oho! Ihr habt es hier also schon satt«, sagte Katja vieldeutig.
»Ja, wir haben es satt. Aber sag mir bloß, sind außer uns beiden noch mehr Komsomolzen hier? Oder haben nur wir uns in diesen Taubenschlag verirrt?«
Besänftigend meinte Katja:
»Die Blödelei ist schon zu Ende, jetzt wird gleich getanzt.« Kortschagin stand auf.
»Tanze meinetwegen, Katjuscha, aber Mura und ich, wir gehen trotzdem weg.«
Einmal abends schaute Anna Borchardt zu Okunew herein. Kortschagin war allein.
»Bist du heute sehr beschäftigt, Pawel? Willst du nicht mit mir zur Vollversammlung des Stadtsowjets gehen? Zu zweit ist's angenehmer, und die Versammlung wird sicher spät aus sein.«
Kortschagin machte sich rasch fertig. Über dem Bett hing seine Mauserpistole, aber sie war zu schwer. Er holte aus der Lade Okunews Browning hervor und steckte ihn ein. Dann schrieb er einige Zeilen an Okunew und versteckte den Schlüssel an der vereinbarten Stelle.
Im Theater trafen sie Pankratow und Olga. Sie saßen alle beisammen und gingen in den Pausen auf dem Platz vor dem Theater auf und ab. Die Sitzung zog sich, wie es Anna vorausgesagt hatte, bis spät in die Nacht hin.
»Willst du nicht vielleicht zu mir schlafen kommen? Es ist schon spät, und der Weg ist weit«, schlug Olga vor.
»Nein, danke, Pawel und ich haben verabredet, gemeinsam nach Hause zu gehen«, antwortete Anna.
Pankratow und Olga schritten die Hauptstraße hinunter, und die beiden aus Solomenka begaben sich auf den Heimweg.
Es war eine finstere und schwüle Nacht. Die Stadt lag in tiefem Schlaf. Die Teilnehmer der Plenartagung strebten durch die stillen Straßen in verschiedenen Richtungen auseinander. Ihre Schritte und Stimmen verhallten allmählich in der Ferne. Pawel und Anna entfernten sich rasch vom Stadtzentrum. Auf dem leeren Marktplatz wurden sie von einer Patrouille angehalten, die ihre Dokumente prüfte und die beiden dann weitergehen ließ. Sie überquerten den Boulevard und gelangten auf eine unbeleuchtete, einsame Straße, die über ein freies Gelände führte.
Sie bogen links auf die Chaussee ab und kamen an den Eisenbahnlagern vorüber. Es waren langgestrecke Betonbauten, die düster und grimmig dreinschauten. Anna wurde unwillkürlich unruhig. Forschend blickte sie ins Dunkel und gab Kortschagin nur kurze und zerstreute Antworten. Als sich dann ein verdächtiger Schatten als Telegrafenpfahl entpuppte, lachte Anna auf und gestand Kortschagin, wie ihr zumute war. Sie fasste ihn unter, schmiegte sich an ihn und wurde so allmählich ruhiger.
»Ich bin erst zweiundzwanzig Jahre alt, aber nervös wie ein altes Mütterchen. Du kannst mich für feige halten. Das stimmt aber nicht. Heute sind meine Nerven irgendwie besonders überspannt. Jetzt, da ich fühle, dass du neben mir gehst, schwindet meine Unruhe, und ich schäme mich, dass ich ein Hasenfuß bin.«
Pawels Ruhe, das Aufglimmen seiner Zigarette, die ab und zu für einen kurzen Augenblick sein Gesicht, die kühn geschwungenen Brauen beleuchtete, verscheuchten die Furcht, die die nächtliche Finsternis, die Verlassenheit der Gegend und der im Theater gehörte Bericht über einen grauenhaften Mord, der in der vergangenen Nacht im Stadtteil Podol verübt worden war, wachgerufen hatten.
Sie hatten die Lager bereits hinter sich und passierten die Brücke über dem Flüsschen, gingen dann die Bahnhofschaussee entlang auf den Tunnel zu, der Verbindung dieses Stadtteils mit dem Eisenbahnbezirk.
Den Bahnhof hatten sie weit abseits, rechts liegenlassen. Der Tunnel führte in ein schmales Gässchen hinter dem Depot. Dort waren sie schon fast zu Haus. Oben an den Eisenbahnlinien glitzerten die Lichter an den Weichen und Signalen, und beim Depot hörte man das Schnaufen einer Lokomotive.
Ü ber dem Tunneleingang hing an einem rostigen Haken eine Laterne. Der Wind schaukelte sie kaum merklich hin und her, und ihr trübgelbes Licht glitt die Tunnelwände entlang.
Etwa zehn Schritt vom Tunnel entfernt stand dicht an der Chaussee ein einsames Häuschen. Vor zwei Jahren war da ein schweres Geschoß eingeschlagen und hatte im Innern des Häuschens das Unterste zuoberst gekehrt, seine Fassade in eine Ruine verwandelt, die jetzt als riesiges Loch gähnte und gleich einem Bettler am Straßenrand ihre Armseligkeit preisgab.
Auf dem Damm fuhr ein Zug vorüber.
»Nun sind wir schon fast zu Hause.« Anna seufzte erleichtert.
Pawel versuchte seinen Arm unauffällig frei zu machen. Aber Anna ließ nicht los. Sie hatten soeben das zerstörte Häuschen hinter sich, da stürzte plötzlich etwas hinter ihnen herunter. Sie vernahmen hastige Schritte, ein Keuchen; sie wurden eingeholt.
Kortschagin wollte seinen Arm losreißen, doch Anna presste ihn angsterfüllt nur noch fester. Als sich Pawel dann doch mit Gewalt befreite, war es schon zu spät, eiserne Finger krallten sich in seinen Nacken. Ein Ruck - und Pawels Gesicht wurde dem Angreifenden zugekehrt. Die Hand packte ihn an der Kehle und drehte dabei den Kragen seiner Feldbluse wie einen Strick zusammen. Pawel erblickte eine Pistole vor sich, deren Lauf langsam einen Bogen in der Luft beschrieb und auf ihn gerichtet war.
Mit übermenschlicher Gespanntheit verfolgten seine Augen die Bewegung. Es war der Tod, der ihm in Gestalt der dunklen Mündung ins Angesicht schaute, und Kortschagin brachte nicht die Kraft auf, sein Wille reichte nicht aus, für den hundertsten Teil einer Sekunde den Blick von dieser Mündung abzuwenden. Er erwartete den Tod. Aber der Schuss erfolgte nicht, und Pawels weitgeöffnete Augen sahen das Gesicht des Banditen: einen mächtigen Schädel, einen riesigen Unterkiefer, einen schwarzen, seit langem nicht geschorenen Bart. Die Augen aber blieben im Dunkeln; sie waren von dem breiten Schirm der Sportmütze verdeckt.
Einen Augenblick lang erblickte Kortschagin das kreidebleiche Gesicht Annas, sah, wie das Mädchen von einem der Banditen zu der Hausruine gezerrt wurde. Dort warf er sie nieder und verdrehte ihr dabei die Arme. Noch eine Gestalt flitzte vorbei, die Kortschagin nur als Schatten an der Wand wahrnehmen konnte.
Hinten bei den Ruinen des Hauses fand ein Kampf statt. Anna wehrte sich erbittert, ihr unterdrückter Hilferuf wurde durch eine Mütze erstickt, die ihr den Mund verschloss. Den Kerl, in dessen Händen sich Pawel befand, zog es wie ein wildes Tier zur Beute. Er wollte doch nicht nur als teilnahmsloser Zeuge bei einer Vergewaltigung dabeistehen. Er war allem Anschein nach der Anführer, und eine derartige Rollenverteilung gefiel ihm ganz und gar nicht. Der Bursche, den er da vor sich hatte, war noch ein richtiger Grünschnabel, allem Anschein nach so ein Jammerlappen aus dem Depot. Er war ihnen bestimmt in keiner Weise gefährlich.
Wenn man dem zwei-, dreimal ordentlich mit der Pistole über die Schnauze fährt und dann in Richtung auf das freie Gelände weist, wird er sicher wie ein
geölter Blitz davonsausen und sich bis zur Stadt kein einziges Mal umschauen. Und so ließ er Pawel los.
»Mach, dass du wegkommst …, aber 'n bisschen Volldampf! Und wenn du nur einen Laut von dir gibst, so kriegst du eine ins Genick!« Der Kerl mit dem mächtigen Schädel stieß Kortschagin den Lauf der Pistole gegen die Stirn.
»Los!« presste er heiser hervor und ließ die Waffe sinken, damit der Bursche nicht befürchte, dass er ihm in den Rücken schießen könnte.
Kortschagin stürzte zurück. Die ersten paar Schritte lief er seitwärts, ohne den Banditen aus den Augen zu lassen.
Der begriff, dass der Junge immer noch eine Kugel erwartete, und eilte dem Hause zu.
Kortschagins Hand griff nach der Tasche. Jetzt nur nicht verpassen, nur nicht verpassen. Er wandte sich jäh um, streckte die linke Hand aus, zielte und drückte ab. Das alles war das Werk einer Sekunde.
Der Bandit hatte seinen Fehler zu spät bemerkt. Bevor er noch anlegen konnte, hatte ihn schon eine Kugel in die Seite getroffen.
Der Stoß schleuderte ihn gegen die Tunnelwand, und er sank mit dumpfem Stöhnen langsam zu Boden, während er versuchte, sich an die Wand zu klammern. Aus der Hausruine glitt ein Schatten den steilen Abhang hinunter. Kortschagin jagte ihm eine Kugel nach. Ein zweiter Schatten floh geduckt in die Finsternis des Tunnels. Wieder ein Schuss. Der Schatten sprang zur Seite und verschwand im Dunkel. Drei Browningschüsse durchbrachen die nächtliche Stille.
Anna, von dem Schrecken des Vorgefallenen aufs tiefste erschüttert, blickte, als Pawel ihr aufstehen half, auf den Banditen, der sich an der Mauer wie ein Wurm in den letzten Zügen wand, und konnte an ihre Rettung kaum glauben.
Kortschagin zog sie gewaltsam in die Dunkelheit, heraus aus dem Lichtkreis. Dann rannten sie zurück in die Stadt, auf den Bahnhof zu. Über dem Tunnel, auf dem Bahndamm, sah man bereits Laternen leuchten, und auf dem Gleis knallte dumpf ein Alarmschuss.

Als sie endlich Annas Wohnung erreicht hatten, krähten irgendwo auf Batyjewa Gora schon die Hähne. Anna legte sich ein wenig hin. Kortschagin nahm am Tisch Platz. Er rauchte, und sein Blick folgte aufmerksam der aufsteigenden grauen Rauchwolke .….
Jetzt hatte er zum vierten Mal in seinem Leben einen Menschen getötet.
Existierte denn überhaupt auf der Welt Tapferkeit im reinsten Sinne des Wortes? Pawel rief sich all seine Eindrücke und Empfindungen ins Gedächtnis zurück und musste eingestehen, dass das schwarze Auge der Pistolenmündung sein Herz in den ersten Sekunden hatte erstarren lassen. Und durften sich denn die zwei Schatten so straflos aus dem Staub machen, nur weil er auf einem Auge erblindet war und linkshändig schießen musste? Nein. Er hätte aus einer so geringen Entfernung auch besser schießen können, aber jene Gespanntheit und Hast, zweifellos Anzeichen seiner Verwirrung, hatten ihn daran gehindert.
Das Licht der Taschenlampe beleuchtete seinen Kopf. Anna beobachtete ihn, sie verfolgte jede Bewegung seiner Gesichtsmuskeln. Seine Augen blickten ruhig, und von den ihn quälenden Gedanken zeugte einzig eine Furche auf der Stirn.
»Worüber denkst du nach, Pawel?«
Seine Gedanken verflogen, durch die Frage aufgescheucht, gleich der Rauchwolke hinter die Grenzen des Lichtkreises, und er sagte das erste, was ihm in den Sinn kam: »Ich gehe jetzt sofort zur Kommandantur. Man muss sie von allem in Kenntnis setzen.«
Und schwerfällig, seine Müdigkeit bekämpfend, stand er auf und reichte Anna die Hand.
Anna ließ die Hand nicht gleich los, sie wollte nicht allein bleiben. Sie brachte ihn bis zur Tür und schloss sie erst, als Pawel, der ihr jetzt plötzlich so teuer geworden war, in der Dunkelheit verschwunden war.
Kortschagins Erscheinen in der Kommandantur klärte die Sache mit dem Mord auf, der für die Eisenbahnwache ganz unverständlich war. Die Leiche hatte man sofort identifiziert; es war ein den Kriminalbehörden zur Genüge bekannter, immer wieder rückfälliger Einbrecher und Mörder, der Totenschädel-Fimka.
Der Vorfall am Tunnel wurde tags darauf Stadtgespräch und führte zu einem unerwarteten Zusammenstoß zwischen Pawel und Zwetajew.
Während der Arbeit erschien Zwetajew in der Werkabteilung und rief Pawel beiseite. Er ging mit ihm in den Korridor, blieb dort in einer dunklen Ecke stehen und stieß endlich - denn er wusste nicht, wie anfangen - hervor:
»Erzähl bitte, was gestern passiert ist.«
»Du bist doch im Bilde.«
Zwetajew zuckte nervös mit den Schultern. Der Monteur ahnte nicht, dass der Vorfall am Tunnel Zwetajew schmerzlicher als die anderen berührt hatte; er ahnte nicht, dass dieser Schmied, trotz seiner äußerlichen Gleichgültigkeit, für Anna Borchardt etwas übrig hatte. Nicht nur Zwetajew war Anna sympathisch, aber bei ihm war die Sache viel komplizierter.
Die Begebenheit am Tunnel, von der ihm eben Talja Lagutina erzählt hatte, ließ eine qualvolle Unruhe in ihm zurück. Er konnte dem Monteur die Frage nicht so offen stellen, wollte aber trotzdem eine Antwort darauf haben. Irgendwo im tiefsten Innern war ihm klar, wie egoistisch und kleinlich seine Besorgnis war, aber in dem Kampf der verschiedenartigen Empfindungen trug ein primitives und geradezu tierisches Gefühl den Sieg davon.
»Hör doch, Kortschagin«, sprach er gedämpft, »dieses Gespräch bleibt streng unter uns. Ich verstehe, dass du über die Geschichte nichts erzählen willst, Annas wegen. Aber mir kannst du vertrauen. Sag doch, haben die anderen Kerle, als der Bandit dich festhielt, inzwischen Anna vergewaltigt?« Bei den letzten Worten wandte sich Zwetajew unwillkürlich ab.
Kortschagin gingen allmählich die Augen auf. Wäre Anna dem Zwetajew gleichgültig, dann würde er sich nicht so aufregen, aber wenn er sie lieb hat, dann … Pawel fühlte sich für Anna verletzt.
»Warum willst du das wissen?«
Zwetajew murmelte einige abgerissene Worte, fühlte aber, dass er durchschaut worden war, und das machte ihn plötzlich böse.
»Weshalb drückst du dich um eine Antwort herum? Ich frage dich etwas, und du unterziehst mich da einem Verhör.«
»Liebst du Anna?«
Schweigen. Dann brachte Zwetajew mühsam heraus:
»Ja.«
Kortschagin verbiss nur schwer seine Wut, kehrte ihm den Rücken und schritt, ohne sich umzublicken, den Korridor entlang.

Eines Abends stand Qkunew vor dem Bett des Freundes und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Schließlich setzte er sich auf den Bettrand und legte die Hand auf Pawels aufgeschlagenes Buch.
»Weißt du, Pawluscha, ich muss dir was erzählen. Einerseits ist es zwar eine Lappalie, aber andererseits auch nicht. Zwischen mir und Talja Lagutina ist das so eine ulkige Geschichte. Zuerst, siehst du, da hat sie mir gefallen.« Okunew kratzte sich verlegen hinterm Ohr. Als er jedoch sah, dass der Freund ernst blieb, fasste er Mut:
»Und dann ging es Talja … auch so. Kurz und gut - ich werde dir das nicht erst alles erzählen -, es liegt ja auf der Hand. Wir haben also gestern beschlossen, unser Glück zu versuchen und ein gemeinsames Leben aufzubauen. Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, beide sind wir stimmberechtigt. Wir wollen miteinander nach dem Prinzip der Gleichberechtigung leben. Was hältst du davon?« Kortschagin dachte nach.
»Was kann ich dir darauf erwidern, Kolja? Ihr beide seid meine Freunde, gehört beide zu uns. In allem anderen passt ihr auch zueinander. Und Talja ist ein besonders feines Mädel… Hier ist doch alles klar.«
Am darauf folgenden Tag trug Kortschagin seine Sachen in die Gemeinschaftswohnung des Depots, und kurze Zeit später fand bei Anna eine kommunistische Feier ohne Festmahl zu Ehren des Freundschaftsbundes zwischen Talja und Nikolai statt. Es war ein Abend der Erinnerungen, man las Abschnitte aus Lieblingsbüchern, sang schöne Lieder im Chor. Weit hinaus schallten die Kampflieder. Später brachten Katja Seljonowa und Mura Wolynzewa eine Ziehharmonika, und ein Gemisch aus dunklen und silberhellen Stimmen erfüllte das Zimmer. Selten hatte Pawka so gut wie an diesem Abend gespielt. Und als zum Erstaunen aller sogar der lange Pankratow zu tanzen begann, vergaß der Musikant sich vollständig, und seine Harmonika brauste feurig auf:

Hört es alle! Hört es alle!
Denikin spuckt Gift und Galle:
Die Tscheka hat ungeniert
Koltschak völlig liquidiert.

Die Harmonika erzählte von der Vergangenheit - von den heißen Kriegsjahren und vom Heute -, von Freundschaft, Kampf und Freude. Als Pawel das Instrument Wolynzew übergeben hatte und der Schlosser die temperamentvolle Melodie vom »Äpfelchen« erklingen ließ, stürzte sich niemand anders als Kortschagin in den ungestümen Tanz. Zum dritten und letzten Mal in seinem Leben tanzte Pawel eine tolle ukrainische Tschetschotka.

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