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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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VIERTES KAPITEL

Die Grenze - das sind zwei Pfähle. Schweigsam und feindlich stehen sie einander gegenüber - verkörpern zwei Welten. Der eine Pfahl ist gehobelt und lackiert, rot und weiß gestrichen wie ein Schilderhaus, am oberen Ende ist der einköpfige Raubvogel mit starken Nägeln befestigt. Die Schwingen ausgebreitet, umkrallt der einköpfige Adler mit seinen Fängen gleichsam den gestreiften Pfahl und blickt feindselig auf das gegenüberliegende Metallschild; der gebogene Schnabel ist krampfhaft vorgestreckt. Sechs Schritt von ihm entfernt steht ein anderer Pfosten. Tief in die Erde eingegraben ist der rund behauene Eichenpfahl, an dem ein gusseisernes Schild mit Hammer und Sichel befestigt ist. Zwischen den zwei Welten liegt ein Abgrund, obwohl die Pfähle auf ebener Erde stehen. Diese sechs Schritt darf keiner ohne Erlaubnis tun, wenn er nicht sein Leben riskieren will.
Hier ist die Grenze.
Tausende Kilometer weit, vom Schwarzen Meer bis zum Nördlichen Eismeer, erstreckt sich die reglose Kette dieser stummen Wachposten der Sowjetischen Sozialistischen Republiken, jeder von ihnen trägt das Emblem der Arbeit auf dem gusseisernen Schild. Jener Pfahl, an dem der gefiederte Räuber angenagelt ist, markiert die Grenze des Landes der polnischen Pans.
Es ist eine gottverlassene Gegend, in der sich dieses kleine Städtchen Beresdow verbirgt.
Zehn Kilometer davon entfernt, dem polnischen Flecken Korez gegenüber, verläuft die Grenze. Zwischen Slawuta und Anapol liegt der Bezirk des N-sker Grenzschutzbataillons.
Ein Grenzpfahl neben dem anderen erhebt sich auf den schneebedeckten Feldern, die Pfähle dringen durch die Waldschneisen, steigen die Abhänge hinab, kommen wieder zum Vorschein, ragen auf den Hügeln empor und blicken, am Fluss angelangt, von den hohen Ufern auf die schneeverwehte Ebene des fremden Landes hinunter.
Es herrscht strenger Frost. Der Schnee knirscht unter den Filzstiefeln. Von dem mit Hammer und Sichel beschlagenen Grenzpfahl löst sich eine mächtige Gestalt mit einem Helm auf dem Kopf. Schweren Schrittes schreitet sie ihren Abschnitt ab. Der hochgewachsene Rotarmist trägt Filzstiefel und einen grauen Mantel mit grünen Litzen. Über den Mantel hat er einen riesigen Schafpelz mit
einem breiten Kragen gehängt. Der Kopf ist warm in den Tuchhelm gehüllt, die Hände stecken in Fäustlingen aus Schaffell. Der Pelz ist lang, er reicht bis zu den Fersen, und sogar bei wütendem Schneesturm schützt er vor Kälte. Über den Pelz geschultert liegt das Gewehr. Der Rotarmist schreitet, mit dem Pelz den Schnee streifend, seinen Grenzpfad entlang und zieht voller Behagen den Rauch der selbstgedrehten Machorkazigarette ein. Auf der Sowjetseite stehen die Wachposten auf offenem Feld in einer Entfernung von einem Kilometer, damit sie einander noch mit bloßem Auge erkennen können. Auf polnischer Seite stehen auf derselben Strecke zwei Posten.
Auf dieser Strecke kommt dem Rotarmisten ein polnischer Soldat auf seinem Pfad entgegen. Er trägt kurze grobe Soldatenstiefel und eine graugrüne Uniform, darüber einen schwarzen Mantel mit zwei Reihen glänzender Knöpfe. Auf dem Kopf hat er eine polnische Mütze mit einem weißen Adler; auf den Schulterklappen und auf dem Kragen sind ebenfalls Adler, aber davon wird dem Soldaten nicht wärmer. Der Frost durchdringt ihn bis auf die Knochen. Er reibt sich die erstarrten Ohren, schlägt im Gehen die Absätze gegeneinander. Die in grünen Handschuhen steckenden Hände sind völlig durchfroren. Der polnische Soldat kann nicht eine Minute stehen bleiben; sofort lässt der Frost seine Gelenke erstarren, und deshalb geht er die ganze Zeit auf und ab, manchmal sogar im Laufschritt. Die Posten sind jetzt auf gleicher Höhe angelangt, der Pole macht kehrt und geht nun in derselben Richtung wie der Rotarmist.
An der Grenze darf nicht gesprochen werden, aber wenn ringsum kein Lebewesen ist, wenn erst einen Kilometer weiter menschliche Gestalten sichtbar sind - wer soll da erfahren, ob die beiden ihre Strecke schweigend abschreiten oder die internationalen Vorschriften verletzen?
Der Pole möchte rauchen, hat aber seine Streichhölzer in der Kaserne liegenlassen, und wie zum Trotz weht ihm auch noch ein leichter Wind den verführerischen Machorkageruch herüber. Der Pole hat aufgehört, das angefrorene Ohr zu reiben, und schaut nach rückwärts. Es kommt vor, dass sich Reiterpatrouillen unter Führung des Wachtmeisters oder gar des Herrn Oberleutnants an der Grenze herumtreiben und unerwartet hinter den Hügeln auftauchen, um die Posten zu inspizieren. Aber ringsum keine Menschenseele.
Blendendweiß glitzert der Schnee in der Sonne. Am Himmel ist nicht eine Schneeflocke.
»Genosse, gib mir bitte Feuer«, bricht der Pole als erster die Heiligkeit des Gesetzes und zieht, während er das französische Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett über die Schulter wirft, mit den erstarrten Händen mühsam ein Päckchen Zigaretten aus der Manteltasche hervor. Der Rotarmist hört die Bitte des Polen, aber die Felddienstordnung für den Grenzschutz verbietet den Posten, sich mit jemandem von jenseits der Grenze zu unterhalten; außerdem hat er auch nicht ganz verstanden, was der andere wollte, der ja polnisch gesprochen hatte. Er setzt seinen Weg fort und tritt fest mit den weichen Filzstiefeln in den knirschenden Schnee.
»Genosse Bolschewik, gib Feuer, schmeiß mir deine Streichholzschachtel herüber.« Diesmal sagt es der Pole schon russisch.
Der Rotarmist mustert sein Gegenüber. Es scheint, dass der Frost dem »Pan« bis an die Leber gegangen ist. Er ist zwar ein Bourgeoissoldat, führt aber ein jämmerliches Leben. In so einem dünnen Mäntelchen hat man ihn in die Kälte hinausgejagt, und nun hopst er wie ein Hase umher, lechzt nach einer Zigarette. Und ohne sich umzudrehn, wirft ihm der Rotarmist eine Streichholzschachtel hinüber. Der Soldat fängt sie im Flug auf. Erst nachdem er mehrere Streichhölzer zerbrochen hat, gelingt es ihm schließlich anzurauchen. Die Schachtel wandert den gleichen Weg über die Grenze zurück, und jetzt verstößt der Rotarmist unerwartet gegen die Vorschrift:
»Behalt sie, ich habe noch mehr.«
Da schallt es über die Grenze herüber:
»Nein, danke, für diese Schachtel würde man mir zwei Jahre Gefängnis aufbrummen.«
Der Rotarmist betrachtete die Schachtel. Ein Flugzeug ist darauf abgebildet. Statt des Propellers ist da eine mächtige Faust, und die Aufschrift lautet:
»Unsere Antwort.«
Ja, tatsächlich, das passt nicht so recht für die dort. Der polnische Soldat schreitet noch immer mit ihm in gleicher Richtung. Ihm ist es langweilig, so allein in dieser verlassenen Gegend zu sein.

Rhythmisch knarren die Sättel. Der regelmäßige Trab der Pferde wirkt einschläfernd. Auf der Schnauze des Rappen, um seine Nüstern und auf seiner Mähne liegt Reif. Der Atem des Tieres steigt als weißer Dampf empor. Graziös setzt die scheckige Stute des Bataillonskommandeurs die Hufe auf, beugt den schlanken Hals und spielt mit der Trense. Beide Reiter tragen graue Feldmäntel mit roten Quadraten auf den Ärmeln und Koppel mit Schulterriemen. Die Litzen des Bataillonskommandeurs Gawrilow sind grün, die seines Begleiters hingegen rot. Gawrilow steht im Grenzdienst. Sein Bataillon hat auf einer Strecke von siebzig Kilometern Grenzposten aufgestellt, hier ist er der Herr. Sein Begleiter ist ein Gast aus Beresdow, Kriegskommissar eines Ausbildungsbataillons, Kortschagin.
In der Nacht ist Schnee gefallen. Er liegt da, flaumig und weich, unberührt von Pferdehufen und Stiefeln. Die Reiter sind aus dem Jungholz herausgeritten und traben jetzt über das Feld. Vierzig Schritt weiter ragen abermals zwei Pfähle auf.
Plötzlich zieht Gawrilow die Zügel straff. Kortschagin lenkt den Rappen zur Seite, um die Ursache der Störung zu erfahren. Gawrilow beugt sich hinunter und betrachtet aufmerksam die seltsamen Spuren, die in den Schnee eingedrückt sind. Es sieht aus, als wäre ein Zahnrad über den Schnee gerollt. Hier ist ein schlaues Tierchen vorbeigefegt, das seinen Fuß in die Spur des anderen gesetzt und seine Spuren durch allerhand erfinderische Schnörkel zu verwischen gesucht hat. Es ist schwer festzustellen, woher die Spur kommt. Aber nicht diese Tierspur ist es, die den Bataillonskommandeur bewegen hat, seinen Ritt zu unterbrechen. Zwei Schritt von dieser Fährte entfernt sind andere vom Schnee verwehte Spuren zu sehen. Hier ist ein Mensch gegangen. Er hat seine Spuren nicht verwischt, sondern ist direkt auf den Wald losgesteuert! Und die Spur zeigt deutlich, dass dieser Mensch aus Polen gekommen ist. Der Bataillonskommandeur gibt seinem Pferd die Sporen, und die Spur führt ihn zum Grenzposten. Auf polnischer Seite sind zehn Schritte weit ebenfalls Fußspuren zu sehen.
»In der Nacht hat jemand die Grenze überschritten«, brummt der Bataillonskommandeur.
»Sie haben das beim dritten Zug wieder verschlafen, und im Morgenbericht ist nichts gemeldet worden. So eine Bande!« Gawrilows leicht ergrauter Schnurrbart hängt, vom Reif versilbert, borstig über die Lippen.
Den Reitern kommen zwei menschliche Gestalten entgegen. Die eine ist klein, schwarz, der Stahl des französischen Bajonetts funkelt in der Sonne. Die andere ist riesenhaft groß und trägt einen gelben Schafspelz. Die Stute spürt die Sporen, ihr Trab wird immer schneller, und die Reiter nähern sich rasch den zwei Gestalten. Der Rotarmist rückt seinen Schulterriemen zurecht und spuckt die zu Ende gerauchte Zigarette in den Schnee.
»Guten Tag, Genosse, wie steht es auf Ihrem Abschnitt?« Und ohne sich sonderlich zu bücken, da der Rotarmist groß ist, reicht ihm der Bataillonskommandeur die Hand. Der Riese reißt sich rasch den Fausthandschuh herunter.
Der Pole beobachtet das von weitem. Zwei rote Offiziere begrüßen den Wachposten wie einen nahen Freund. Einen Augenblick stellt er sich vor, was wohl passieren würde, wenn er seinem Major Zakrzewski die Hand reichen wollte. Bei diesem unsinnigen Gedanken blickt er sich unwillkürlich um.
»Ich habe soeben Wache bezogen, Genosse Batailionskommandeur«, meldet der Soldat.
»Haben Sie die Spuren dort gesehen?«
»Nein, noch nicht.«
»Wer stand nachts von zwei bis sechs Uhr Posten?« »Surotenko, Genosse Bataillonskommandeur.«
»Schon gut, geben Sie nur ordentlich acht.« Und während er dem Pferd die Sporen gibt, warnt er streng:
»Marschiere weniger neben dem dort drüben daher.« Während dann die Pferde die breite Landstraße entlangtraben, die sich zwischen der Grenze und der Ortschaft Beresdow hinzieht, erzählt der Bataillonskommandeur:
»An der Grenze muss man stets auf der Hut sein. Passt du einmal nicht auf, musst du es bitter büßen. Das ist ein ruheloser Dienst. Am Tage kommen die nicht so leicht über die Grenze, um so mehr heißt es aber in der Nacht aufpassen. Urteilen Sie selbst, Genosse Kortschagin: Auf meinem Abschnitt zieht sich die Grenze mitten durch vier Dörfer. Da ist es sehr schwer, aufzupassen. Wie du die Posten auch aufstellen magst, bei jeder Hochzeit und an jedem Feiertag erscheint dir die ganze Verwandtschaft. Und wie sollten sie auch nicht? Zwanzig Schritt stehen die Bauernhütten voneinander entfernt, und das Flüsschen kann eine Henne zu Fuß passieren. Ohne Schmuggel geht es dabei auch nicht ab. Es handelt sich zwar meist um Kleinigkeiten. Da bringt ein Weib ein paar Flaschen polnischen vierzigprozentigen Schnaps. Es gibt aber auch allerlei Schmuggler großen Stils, die mit viel Geld arbeiten. Und weißt du, was die Polen machen? In allen Grenzdörfern haben sie richtige Warenhäuser eröffnet - dort kannst du einkaufen, was du willst. Natürlich sind die nicht für ihre eigenen bettelarmen Bauern bestimmt.«
Interessiert hört Kortschagin den Worten des Bataillonskommandeurs zu. Das Leben an der Grenze gleicht einem Spähgang ohne Ende.
»Sagen Sie, Genosse Gawrilow, beschäftigen sich die Grenzschmuggler ausschließlich mit dem Herüberschmuggeln von Waren?« Der Bataillonskommandeur antwortet mürrisch:
»Da liegt eben der Hund begraben.«

Beresdow ist ein kleiner Flecken, ein ödes Provinznest in der ehemaligen jüdischen Siedlungszone. Zwei- bis dreihundert Häuschen stehen in wirrem Durcheinander, jedes von ihnen dort, wo es der Zufall hingestellt hat. In der Mitte des Nestes, auf einem riesigen Marktplatz, wirken die zwei Dutzend Buden wie verloren. Der Platz ist schmutzig und voller Mist. Rings um den Ort liegen Bauernhöfe. Im Zentrum der jüdischen Siedlung, auf dem Weg zum Schlachthaus, steht die alte Synagoge. Ein Hauch von Trostlosigkeit geht von diesem baufälligen Gebäude aus. Die Synagoge ist zwar an Sonnabenden nicht gerade schwach besucht, jedoch kein Vergleich dazu, wie es früher war, und auch das Leben des Rabbiners ist nicht mehr so, wie er es wünscht. Anscheinend muss doch etwas sehr Schlimmes im Jahre 1917 passiert sein, wenn die Jugend sogar hier in diesem Krähwinkel dem Rabbiner nicht mehr mit dem gebührenden Respekt begegnet. Zwar halten sich die Alten noch immer an die religiösen Vorschriften und verschmähen »treife«, das zum Genuss Verbotene, aber wie viele der Jungen essen schon das von Gott verfluchte Schweinefleisch! Pfui Teufel, der Ekel steigt einem hoch, wenn man nur daran denkt. Reb Boruch stößt mit dem Fuß zornig ein Schwein beiseite, das eifrig in einem Misthaufen nach etwas Genießbarem sucht. Ja, der Rabbi ist nicht gerade erbaut darüber, dass Beresdow zum Bezirkszentrum geworden ist. Es sind da plötzlich eine Menge Kommunisten hergekommen, und jedes Mal passiert etwas Neues, jeden Tag gibt es neue Unannehmlichkeiten. Erst gestern hat der Rabbi an dem Haus des Popen ein neues Schild entdeckt mit der Aufschrift: »Beresdower Bezirkskomitee des Kommunistischen Jugendverbandes der Ukraine«. Dieses Schild verhieß nichts Gutes.
In solche Gedanken vertieft, schritt der Rabbi dahin, bis er an der Tür seiner Synagoge eine kleine Bekanntmachung entdeckte:
»Heute findet im Klub eine öffentliche Versammlung der werktätigen Jugend statt. Referenten: Genosse Lissizyn, Vorsitzender des Exekutivkomitees, und Genosse Kortschagin, stellvertretender Sekretär des Bezirks-Jugendkomitees. Nach der Versammlung: Konzert der Schüler der Mittelschule.«
Wütend riss der Rabbiner den Zettel ab. »Da haben wir's schon!«

Das Kirchlein des Ortes ist ringsum von einem großen Garten umgeben. In diesem Garten steht auch das geräumige, altmodische Haus des Popen. In den Zimmern herrscht stets muffig-öde Leere. Hier wohnen der Pope und seine Frau. Sie sind ebenso langweilig und alt wie ihr Haus und einander längst überdrüssig. Die Langeweile verschwand aber, seit die neuen Herren ins Haus eingezogen sind. Der große Saal, in dem der ehrwürdige Hausherr nur an den Kirchweihfesten Gäste zu empfangen pflegte, ist jetzt immer voller Menschen. Das Popenhaus ist zum Sitz des Parteikomitees von Beresdow geworden. An der Tür des kleinen Zimmers, rechts vom Haupteingang, steht mit Kreide geschrieben: »Bezirkskomitee des Jugendverbandes.«
Hier verbrachte Kortschagin, der neben seiner Funktion als Kriegskommissar des Ausbildungsbataillons auch den Posten des stellvertretenden Sekretärs des soeben geschaffenen Bezirkskomitees des Kommunistischen Jugendverbandes bekleidete, einen Teil seiner Tage.
Acht Monate waren seit dem Abend vergangen, als Pawel an dem geselligen Beisammensein bei Anna teilgenommen hatte. Und doch kam es ihm vor, als sei es gestern gewesen.
Kortschagin schob einen Haufen Schriftstücke beiseite, lehnte sich im Sessel zurück und versank in Nachdenken.
Im Haus ist alles still geworden. Die Räume des Parteikomitees sind um diese späte Stunde leer. Vor wenigen Minuten hat auch Trofimow, der Sekretär des Bezirks-Parteikomitees, Kortschagin verlassen, und jetzt ist er allein geblieben. Phantastische Eisblumen blühen an den Fenstern. Auf dem Tisch steht eine Petroleumlampe, der Ofen ist glühend heiß. Kortschagin denkt an das vor kurzem Erlebte.
Im August schickte ihn die Belegschaft seiner Werkstatt als Jungorganisator mit dem Reparaturzug nach der Stadt Jekaterinoslaw. Hundertfünfzig Menschen fuhren bis zum späten Herbst von Station zu Station, um die Folgen von Krieg und Zerstörung zu beseitigen und die Strecke von verbrannten, zerstörten Eisenbahnwagen zu säubern.
Ihr Weg führte sie auch über die Strecke von Sinelnikowo nach Pologi. Hier, im ehemaligen Reich des Banditen Machno, begegnete man auf Schritt und Tritt Spuren der Zerstörung und Vernichtung. In Guljai-Polje blieben sie eine Woche, um das Steingebäude des Pumpwerks wieder in Ordnung zu bringen und auf die mit Dynamit gesprengte Wasserzisterne eiserne Flicken aufzusetzen. Der Elektromonteur beherrschte zwar nicht die Kunst des Schlosserhandwerks, doch hatte er, mit dem Schraubenschlüssel bewaffnet, mehrere tausend rostige Muttern befestigt.
Im Spätherbst kehrte der Zug in die heimatlichen Werkstätten zurück, und die Werkabteilungen hatten wieder hundertfünfzig Paar kräftige Hände mehr…
Jetzt konnte man Kortschagin immer häufiger bei Anna treffen. Die tiefe Falte in seiner Stirn hatte sich geglättet, und nicht selten war sein ansteckendes Lachen zu hören.
Wieder leitete er einen Zirkel, und die Jungen aus der Werkstatt lauschten seinen Erzählungen von den längst vergangenen Tagen des Kampfes. Pawel berichtete ihnen von den Aufständen Stepan Rasins und Pugatschows, von den Versuchen des rebellischen, versklavten, rückständigen Russlands, den gekrönten Tyrannen zu stürzen.
Eines Abends, als bei Anna viel junges Volk versammelt war, sagte sich Pawel plötzlich von einer alten, gesundheitsschädigenden Gewohnheit los. Schon fast von Kindheit an gewöhnt zu rauchen, erklärte er entschlossen und bestimmt:
»Ich werde nicht mehr rauchen.«
Das war ganz unerwartet gekommen. Irgend jemand hatte behauptet, dass die Gewohnheit stärker sei als der menschliche Wille, und als Beispiel auf das Rauchen hingewiesen. Die Meinungen gingen auseinander. Pawel hatte nicht die Absicht, sich in den Streit einzumischen, aber Talja forderte ihn heraus, seine Ansicht zu äußern. Da sagte er:
»Der Mensch ist Herr über seine Gewohnheiten, und nicht umgekehrt. Wohin sollte denn das sonst führen?«
Zwetajew rief aus einer Ecke herüber:
»Lauter schöne Redensarten. Kortschagin liebt das. Geht man jedoch der Sache auf den Grund - was stellt sich dann heraus? Dass er selber raucht. Weiß er etwa nicht, dass das Rauchen schädlich ist? Jawohl, es aber aufzugeben, dazu ist er zu willensschwach. Erst vor kurzem hat er in den Zirkeln ›Kultur gepfropft‹.« Und in völlig verändertem Ton setzte Zwetajew höhnisch hinzu: »Und dann soll er uns mal erzählen, wie es bei ihm mit dem Fluchen steht? Wer Pawka kennt, weiß, dass aus seinem Mund Schimpfworte zwar selten, aber dann röcht kräftig herausplatzen. Es ist natürlich leichter, Predigten zu halten, als selber ein Heiliger zu sein.«
Stille trat ein. Die Anwesenden waren von Zwetajews schroffer Art unangenehm berührt. Der Elektromonteur antwortete nicht sogleich. Er nahm ruhig die Zigarette aus dem Mund, zerdrückte sie und sagte leise:
»Ich werde nicht mehr rauchen.«
Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu:
»Das tue ich meinetwegen und auch ein wenig um Dimkas willen. Ein Mensch, der seine schlechten Gewohnheiten nicht ablegen kann, ist keinen Heller wert. Mit dem Fluchen wird das freilich so schnell nicht gehen. Es stimmt, Kinder, die schlimme Angewohnheit bin ich noch nicht ganz losgeworden. Aber sogar Dimka muss zugeben, dass ich jetzt selten fluche. Ein Wort entschlüpft leichter, als man eine Zigarette anraucht. Und deshalb verspreche ich heute noch nicht, dass ich auch mit dem Fluchen bereits Schluss machen werde. Es wird aber gleichfalls dazu kommen.«

Kurz vor Ausbruch des Winters blockierten Holzflöße den Fluss. Das Hochwasser riss sie auseinander, und viel Heizmaterial ging verloren und schwamm flussabwärts. Und abermals entsandte der Arbeiterbezirk Solomenka seine Brigaden, um die Holzreichtümer zu retten.
Kortschagin, der hinter seinen Kameraden nicht zurückstehen wollte, verheimlichte vor den Genossen seine starke Erkältung, und als eine Woche später an den Ufern der Anlegestelle Berge von Rundholz emporwuchsen, da hatten das eisige Wasser und die ungesunde herbstliche Nässe in Kortschagins Körper den alten, im Blut schlummernden Feind wiedererweckt. Er wurde von starkem Fieber gepackt. Zwei Wochen lang durchwühlten furchtbare rheumatische Schmerzen seinen Körper. Nachdem er aus dem Krankenhaus entlassen worden war, konnte er bloß sitzend am Schraubstock arbeiten. Der Meister schüttelte den Kopf. Einige Tage darauf erklärte eine Ärztekommission Pawel für arbeitsunfähig. Er bekam seinen Lohn ausgezahlt und erhielt das Recht auf Invalidenrente, auf die er jedoch ärgerlich verzichtete.
Schweren Herzens nahm er von der Werkstatt Abschied. Auf einen Stock gestützt, mit furchtbaren Schmerzen, zog er langsam von dannen. Die Mutter hatte ihn in ihren Briefen immer wieder angefleht, sie zu besuchen. Und jetzt fielen ihm ihre Abschiedsworte ein:
»Man bekommt euch nur zu sehen, wenn ihr kaum noch kriechen könnt.«
Im Gouvernementskomitee übergab man ihm in einer Rolle seine Papiere: die vom Jugendverband und von der Parteiorganisation. Und damit es ihm nicht allzu schwer ums Herz wurde, verabschiedete er sich kaum und fuhr zu seiner Mutter. Zwei Wochen hindurch massierte und erwärmte die alte Frau seine geschwollenen Beine, und schon nach einem Monat konnte er ohne Stock gehen. Sein Herz klopfte freudig, und die Dämmerung ging wieder in Morgenrot über. Der Zug brachte ihn ins Gouvernementszentrum, und nach drei Tagen händigte man ihm in der Organisationsabteilung ein Schreiben aus, mit
dem er von dem Gouvernements-Kriegskommissariat als Politleiter für die im Zuge der allgemeinen militärischen Ausbildung aufgestellten Einheiten bestimmt wurde.
Wieder eine Woche später traf er bereits in der verschneiten Ortschaft Beresdow als Kriegskommissar des 2. Ausbildungsbataillons ein. Das Kreiskomitee des Kommunistischen Jugendverbandes beauftragte ihn, die vereinzelten Komsomolzen aufzusuchen und in dem neuen Bezirk eine Organisation des Jugendverbändes zu schaffen. So hatte sein Leben einen ganz neuen Lauf genommen.

Draußen herrscht drückende Hitze. Bis an das weit geöffnete Fenster im Büro des Vorsitzenden des Exekutivkomitees streckt ein Kirschbaum seine knorrigen Zweige. Das vergoldete Kreuz am gotischen Turm der polnischen Kirche, gegenüber dem Gebäude des Exekutivkomitees, glüht in der Sonne. In dem Gärtchen vor dem Fenster suchen die zartflaumigen gelbgrünen Gänschen der Wächterin nach Futter.
Der Vorsitzende des Exekutivkomitees überfliegt die soeben eingetroffene Depesche. Ein Schatten huscht über sein Gesicht. Die große knochige Hand fährt durch die üppigen Locken und bleibt in ihnen stecken.
Nikolai Nikolajewitsch Lissizyn, der Vorsitzende des Beresdower Exekutivkomitees, ist erst vierundzwanzig Jahre alt, aber weder seine Mitarbeiter noch die Parteifunktionäre wissen das. Er ist ein großer, kräftiger, strenger und zuweilen sogar furchterregender Mann, der wie ein Fünfunddreißigj ähriger aussieht. Er hat einen muskulösen Körper, auf einem kräftigen Hals sitzt ein großer Kopf mit dunklen, kühlen, durchdringenden Augen. Sein Kinn ist scharf geschnitten und energisch. Er trägt blaue Reithosen und einen grauen Soldatenrock, der schon allerhand mitgemacht hat. Auf der linken Brusttasche ist der Orden des Roten Banners befestigt.
Bis zur Oktoberrevolution »befehligte« Lissizyn nur eine Drehbank in der Tulaer Waffenfabrik, in der sein Großvater, sein Vater und er selbst von Kindesbeinen an als Schlosser und Dreher gearbeitet hatten.
Seit jener Herbstnacht aber, in der er zum ersten Mal die Waffe, die er bis dahin nur hergestellt hatte, in die Hand nahm, war Kolja Lissizyn in den Strudel gerissen worden. Revolution und Partei schleuderten ihn aus einer Feuersbrunst in die andere.
Der Tulaer Waffenschmied ging den Ruhmesweg vom Rotarmisten zum Kommandeur und schließlich zum Regimentskommissar.
Feuersbrünste und Kanonendonner sind in die Vergangenheit gerückt. Jetzt befindet sich Nikolai Lissizyn hier im Grenzbezirk. Das Leben verläuft friedlich. Bis spät in die Nacht hinein sitzt er über Ernteberichten.
Diese Depesche jedoch lässt für einen kurzen Augenblick die Vergangenheit Wiederaufleben. In kurzem Telegrammstil signalisiert sie:

Streng vertraulich.
An den Vorsitzenden des Beresdower Exekutivkomitees, Lissizyn. Von der Grenze wird gemeldet, dass die Polen lebhafte Anstalten treffen, eine größere Bande über die Linien zu bringen. Die Bande wird womöglich die Grenzbezirke zu terrorisieren versuchen. Treffen Sie Vorsichtsmaßregeln. Wertsachen abliefern. Steuerbeträge nicht zurückhalten.

Lissizyn kann durch das Fenster seines Kabinetts jeden sehen, der das Gebäude des Exekutivkomitees betritt. Auf der Außentreppe steht Kortschagin. Bald darauf klopft er an die Tür.
»Nimm Platz, wir haben miteinander zu sprechen.« Lissizyn drückt Kortschagin die Hand.
Eine ganze Stunde lang empfängt der Vorsitzende des Exekutivkomitees niemanden. Als Kortschagin das Zimmer verlässt, ist es bereits Mittag. Aus dem Garten kommt ihm Njura, Lissizyns kleine Schwester, entgegengelaufen. Pawel nennt sie Anjutka. Sie ist zu ernst für ihre Jahre. Wenn das Mädchen Kortschagin sieht, lächelt es ihn jedes Mal freundlich an. Jetzt grüßt es ihn kindlich unbeholfen und wirft mit hastiger Bewegung die kurzen Haare aus der Stirn zurück.
»Ist jemand bei Kolja? Maria Michailowna erwartet ihn zum Mittagessen.«
»Geh nur, Anjutka, er ist allein.«

Am nächsten Tag, lange vor Morgengrauen, fuhren drei von kräftigen Pferden gezogene Fuhrwerke am Gebäude des Exekutivkomitees vor. Leise flüsterten die Kutscher miteinander. Aus der Finanzabteilung wurden mehrere versiegelte Säcke herausgetragen und auf die Wagen geladen, und schon nach wenigen Minuten hörte man das Rollen der Räder auf der Chaussee. Die Fuhrwerke wurden von einer Abteilung bewacht, die unter Kortschagins Kommando stand. Die vierzig Kilometer bis zur Kreisstadt (fünfundzwanzig davon führten durch dichte Wälder) wurden ohne Zwischenfälle zurückgelegt und die Wertsachen in den Safes der Kreisfinanzabteilung untergebracht. Wenige Tage später kam von der Grenze her nach Beresdow ein Kavallerist gesprengt. Mit verständnislosen Blicken verfolgten die Ortsbewohner den Reiter und sein schweißbedecktes Pferd.
Vor dem Tor des Exekutivkomitees angelangt, sprang der Kavallerist vom Pferd, hielt seinen Säbel fest und polterte mit den schweren Stiefeln geräuschvoll die Stufen hinauf. Mit zusammengezogenen Brauen nahm Lissizyn das Schreiben entgegen. Er öffnete es und quittierte den Empfang auf dem Umschlag. Ohne dem Pferd Zeit zum Verschnaufen zu lassen, sprang der Grenzarmist wieder in den Sattel und sprengte im Galopp davon.
Niemandem außer dem Vorsitzenden des Exekutivkomitees war der Inhalt des Schreibens bekannt. Die Einwohner solch eines Nestes haben jedoch Spürnasen wie Hunde. Unter drei Krämern sind zwei immer unbedingt Schmuggler, und dieses Gewerbe entwickelt in ihnen den Instinkt, mit tödlicher Sicherheit Gefahren zu wittern.
In diesem Augenblick gingen zwei Männer schnellen Schrittes den Fußweg entlang, der zum Stab des Ausbildungsbataillons führte. Einer von ihnen war Kortschagin. Ihn kannten die Einwohner: Er war immer bewaffnet. Dass jedoch Trofimow, der Sekretär des Parteikomitees, eine Pistole trug, hatte etwas zu bedeuten.
Einige Minuten später kamen aus dem Stabsgebäude anderthalb Dutzend Menschen gelaufen. In den Händen Gewehre mit aufgepflanztem Bajonett, rannten sie zur Mühle, die an der Straßenkreuzung stand. Die übrigen Kommunisten und Komsomolzen erhielten die Waffen im Gebäude des Parteikomitees ausgehändigt. Es war ganz klar - etwas nicht ganz Geheures war im Anzug. Der große Platz und die stillen Nebengassen waren plötzlich wie ausgestorben - keine Menschenseele ließ sich blicken. Im Handumdrehen hingen an den Türen der kleinen Verkaufsläden und Buden riesige mittelalterliche Schlösser. Alle Fensterläden wurden geschlossen, und nur furchtlose Hühner und von der Hitze ermattete Schweine durchwühlten auch weiterhin eifrig die Misthaufen.
Die Feldwache hatte in den Gärten am Dorfrand Stellung bezogen. Hier begannen die Felder, und von hier aus konnte man die schnurgerade Linie der Straße weithin überblicken.
Die Lissizyn zugegangene Mitteilung lautete kurz und bündig:

Im Raum Poddubzy ist heute Nacht nach kurzem Gefecht eine berittene Bande über die Grenze auf Sowjetterritorium vorgedrungen. Sie verfügt über ungefähr hundert Säbel und zwei leichte Maschinengewehre. Sofort Schutzmaßnahmen treffen. Die Spur der Bande führt in die Slawutsker Wälder. Mache ferner darauf aufmerksam, dass tagsüber eine Rote Kosakenhundertschaft in Verfolgung der Bande Beresdow passieren wird. Achten Sie darauf, dass keine Verwechslungen vorkommen.
KOMMANDEUR DES GRENZBATAILLONS
Gawrilow

Schon nach einer Stunde tauchte auf der Straße ein Reiter auf, und einen Kilometer hinter ihm war eine Gruppe Berittener zu sehen. Kortschagin blickte unverwandt in diese Richtung. Vorsichtig kam der Reiter näher, ohne jedoch die Feldwache in den Gärten zu bemerken. Er war ein ganz junger Rotarmist aus dem 7. Kosakenregiment, für den der Erkundungsdienst etwas Neues war. Als plötzlich aus den Gärten Menschen stürzten, die das Abzeichen der Kommunistischen Jugendinternationale auf ihren Blusen trugen und ihn umringten, lächelte er verlegen. Nach kurzer Unterredung machte er kehrt und sprengte der im Trab heranreitenden Hundertschaft entgegen. Die Feldwache ließ die Roten Kosaken vorüber und verkroch sich abermals in den Gärten.
So vergingen mehrere unruhige Tage. Lissizyn wurde mitgeteilt, dass es den Banditen nicht gelungen war, ihre Diversionstätigkeit zu entwickeln. Von der Roten Kavallerie unablässig verfolgt, war die Bande gezwungen, sich schleunigst über die Grenze zurückzuziehen.
Die kleine Gruppe der Bolschewiki - neunzehn Mann im ganzen - war eifrig um den Aufbau der Sowjetordnung in ihrem Bezirk bemüht. In diesem eben erst gebildeten Bezirk musste alles von neuem begonnen werden. Die Nähe der Grenze zwang sie, auf der Hut zu sein.
Die Neuwahlen in die Sowjets, der Kampf mit den Banditen, die Kulturarbeit, der Kampf gegen den Schmuggel, die militärischen Aufgaben, die Partei- und Komsomolarbeit - das war der Kreis, der das Leben Lissizyns, Trofimows, Kortschagins und der von ihnen zusammengefassten zahlenmäßig geringen Gruppe von Kommunisten vom Morgengrauen bis spät in die Nacht hinein umschloss.
Vom Pferd zum Schreibtisch, vom Schreibtisch zum Exerzierplatz, auf dem die Jungen ausgebildet wurden; dann der Klub, die Schule, zwei oder drei Sitzungen und nachts wieder aufs Pferd, die Mauserpistole an der Hüfte, und der strenge Ruf der Posten:
»Halt, wer da?« - und das verdächtige Rädergerassel eines davoneilenden Fuhrwerkes, das ausländische Waren über die Grenzen schmuggelte, das alles füllte die Tage und viele Nächte des Kriegskommissars des 2. Bataillons aus.
Das Bezirks-Jugendkomitee von Beresdow bestand aus Kortschagin, Lida Polewych, einem Mädchen mit schmalen Augen - sie stammte aus dem Wolgagebiet und war Leiterin der Frauenabteilung -, und dem ehemaligen Gymnasiasten Shenka Raswalichin, einem hochgeschossenen hübschen Burschen. Raswalichin, ein noch ganz junger, aber frühreifer Kerl, ein Liebhaber waghalsiger Abenteuer und eifriger Verehrer von Sherlock Holmes und der Bücher von Louis Boussenard, war Geschäftsleiter des Bezirks-Parteikomitees gewesen. Erst vor vier Monaten war er dem Jugendverband beigetreten. Aber unter den Komsomolzen benahm er sich wie ein »alter Bolschewik«. Im Kreiskomitee hatte man lange überlegt, wen man nach Beresdow schicken sollte. Da man aber keinen anderen fand, entschloss man sich schließlich, Raswalichin als Leiter für politische Bildungsarbeit dorthin zu schicken.

Die Sonne stand hoch im Zenit, ihre heißen Strahlen drangen in die verborgensten Winkel. Alle Lebewesen suchten irgendwo Schutz. Sogar die Hunde schlüpften unter die Speicher und lagen dort faul und schläfrig, von der Hitze ermattet. Das ganze Dorf schien wie ausgestorben, nur in der Nähe des Brunnens wälzte sich ein Schwein im Schmutz und grunzte behaglich.
Kortschagin band das Pferd los und schwang sich in den Sattel. Er biss sich in die Lippen, da sein Knie heftig schmerzte. Auf der Vortreppe der Schule stand die Lehrerin und schützte mit der Hand die Augen vor der Sonne.
»Auf Wiedersehen, Genosse Kriegskommissar«, rief sie lächelnd.
Das Pferd stampfte ungeduldig mit den Hufen, reckte den Hals und zerrte an den Zügeln.
»Auf Wiedersehen, Genossin Rakitina. Also abgemacht, morgen geben Sie Ihre erste Stunde.«
Das Pferd spürte die gelockerten Zügel und holte sogleich zum Trab aus. Plötzlich drang gellendes Geschrei an Pawels Ohr. So schreien die Frauen, wenn im Dorf Feuer ausgebrochen ist. Schroff riss der Kriegskommissar das Pferd herum und sah eine junge Bäuerin, die keuchend vom Dorfrand hergelaufen kam. Die Rakitina trat in die Mitte der Straße und hielt sie an. An den Türschwellen der benachbarten Bauernhäuser zeigten sich Leute, zumeist alte Männer und Frauen. Das gesunde junge Volk arbeitete auf den Feldern.
»Ach, ihr lieben Leute - was sich dort tut! Oh, ich kann nicht, ich kann nicht mehr …!«
Als Kortschagin an sie herantrat, rannten schon von allen Seiten Menschen herbei. Sie umringten die Frau, zerrten sie an den Ärmeln ihres weißen Kittels und bestürmten sie mit ängstlichen Fragen. Aus ihren zusammenhanglosen Worten konnte man jedoch nicht klug werden:
»Sie morden! Sie schlagen einander tot!« rief sie nur immer wieder. Irgendein alter Mann sprang ungelenk um sie herum und versuchte etwas aus ihr herauszubekommen:
»Brüll doch nicht wie 'ne Wahnsinnige! Wo schlagen sie sich? Weshalb? Hör doch auf zu kreischen! Verdammt noch mal!«
»Unser Dorf schlägt sich mit den Poddubzern … wegen der Feldraine! Die Poddubzer prügeln unsere Leute tot!«
Alle begriffen sofort das Unglück.
Auf der Straße begannen die Frauen zu heulen, die alten Männer knirschten wütend mit den Zähnen. Und durch das Dorf, durch alle Bauernhöfe tönte gleich Sturmgeläut der Ruf:
»Wegen der Feldraine mähen die Poddubzer unsere Leute mit Sensen nieder!« Alles, was Beine hatte, sprang auf die Straße und lief, mit Heugabeln, Beilen oder einfach mit einem Pfahl bewaffnet, hinter den Einfriedungen hinaus zu den Feldern, auf denen die beiden Dörfer in blutigem Kampf ihren alljährlichen Streit wegen der Feldraine austrugen.
Kortschagin versetzte seinem Pferd einen so starken Hieb, dass es sofort zu galoppieren begann. Angetrieben durch die Zurufe des Reiters, stürzte der Rappe unaufhaltsam vorwärts und überholte die Dahineilenden. Mit fest anliegenden Ohren jagte das Pferd kräftig ausgreifend immer schneller und schneller dahin. Auf dem Hügel streckte eine Windmühle ihre Flügel weit aus, als wollte sie den Vorübereilenden den Weg versperren. Rechts von der Windmühle zogen sich Wiesen im Flusstal entlang. Links bedeckten, so weit das Auge reichte, Roggenfelder die Hügel und Abhänge. Der Wind streifte über den reifen Roggen dahin, als liebkose er die Ähren. Grellrot leuchtete am Straßenrand der Mohn. Hier war es still und unerträglich heiß. Nur aus der Ferne, von dort, wo sich der Fluss wie eine silbrige Schlange in der Sonne wand, drang Geschrei herüber.
Tollkühn jagte das Pferd zu den Wiesen hinunter. Wenn es jetzt mit einem Huf hängen bleibt, so ist es um uns beide geschehen, schoss es Pawel durch den Kopf. Das Pferd war jedoch nicht mehr zum Halten zu bringen. Über seinen Hals gebeugt, spürte Pawel, wie ihm der Wind um die Ohren pfiff.
Unaufhaltsam sprengte er auf die Wiese hinaus. Mit dumpfer, tierischer Wut schlugen sich hier die Menschen. Manche lagen bereits blutüberströmt auf der Erde.
Das Pferd warf in seinem Lauf einen bärtigen Bauern zu Boden, der, mit einem Sensenstumpf bewaffnet, einem jungen Burschen mit blutendem Gesicht nachlief. Dicht daneben trampelte ein sonnverbrannter kräftiger Bauer mit seinen großen schweren Stiefeln auf einem niedergeworfenen Gegner herum, eifrig bemüht, ihm immer wieder eins in die Magengegend zu versetzen.
Das Pferd Kortschagins sprengte mitten in den Menschenknäuel hinein und trieb die Raufenden auseinander. Ohne sie auch nur eine Minute lang zur Besinnung kommen zu lassen, riss Pawel wütend das Pferd herum und ritt wieder auf die tobende Menge zu. Er spürte, dass dieser in Raserei geratene blutende Menschenhaufen nur durch ebensolche Raserei und durch Schreck
getrennt werden konnte, und so schrie er wütend auf die Kämpf enden ein:
»Auseinander, ihr verdammten Hunde! Sonst knall ich euch alle übern Haufen, Banditengesindel!«
Er zog seine Mauserpistole aus der Tasche und feuerte über irgendein wutverzerrtes Gesicht hinweg. Jedes Mal, wenn das Pferd hochschnellte, krachte ein Schuss. Einige ließen die Sensen fallen und rannten davon. Wie ein Rasender sprengte er über die Wiese, während er ununterbrochen mit der Mauserpistole knallte. So erreichte der Kriegskommissar sein Ziel. Die Menschen stoben nach allen Seiten auseinander, um der Verantwortung und diesem plötzlich aufgetauchten, furchterregenden Menschen mit dem unaufhörlich schießenden »Teufelsmechanismus« zu entgehen.
Bald darauf kam das Bezirksgericht nach Poddubzy. Lange mühte sich der Richter mit dem Verhör der Zeugen ab. Die Rädelsführer konnten jedoch nicht ermittelt werden. Bei der Rauferei war niemand getötet worden, alle Verwundeten erholten sich wieder. Beharrlich und mit bolschewistischer Geduld versuchte der Richter den vor ihm stehenden, finster dreinblickenden Bauern die Barbarei und Unzulässigkeit der von ihnen hervorgerufenen Schlägerei klarzumachen.
»Die Feldraine sind daran schuld, Genosse Richter. Unsere Feldraine sind durcheinander gekommen. Deswegen schlagen wir uns auch jedes Jahr.«
Eine Woche später bereits schritt eine Kommission den Heuschlag ab und rammte an den strittigen Stellen kleine Pfähle in den Boden. Der schweißtriefende alte Feldmesser, von der Hitze und dem weiten Weg ermüdet, sagte beim Aufrollen des Messbandes zu Kortschagin:
»Schon dreißig Jahre arbeite ich als Feldmesser, und immer werden die Feldraine zum Zankapfel. Schauen Sie sich nur die Grenzlinie der Wiesen an. Einfach unvorstellbar. Ein Betrunkener könnte nicht so krumm gehen. Und wie schaut es denn auf den Feldern aus? Streifen, nicht breiter als drei Schritt, verwirren sich ineinander, und will man sie auseinandertrennen, so ist es einfach zum Verrücktwerden. Und jedes Jahr werden sie mehr und mehr zerstückelt. Der Sohn macht sich selbständig - und schon teilt man das Streifchen in zwei Hälften. Ich versichere Ihnen, in zwanzig Jahren werden die Felder bloß Raine darstellen, und es wird keine Saatfläche mehr bleiben. Schon jetzt liegen zehn Prozent des Bodens wegen dieser Raine brach.«
Kortschagin lächelte nur:
»In zwanzig Jahren wird es bei uns keinen einzigen Feldrain mehr geben, Genosse Feldvermesser.« Herablassend blickte der Alte auf sein Gegenüber.
»Sie meinen wohl die kommunistische Gesellschaft? Aber die liegt, wissen Sie, noch in weiter Ferne.«
»Und haben Sie noch nichts von der Kollektivwirtschaft in Budanowka gehört?«
»Ach, Sie meinen den Kolchos?«
»Jawohl.«
»In Budanowka war ich natürlich … Das ist aber doch nur eine Ausnahme, Genosse Kortschagin.«
Die Kommission setzte die Vermessungen fort. Zwei Burschen schlugen Pfähle ein, und auf beiden Seiten der Wiese standen die Bauern und wachten sorgsam darüber, dass die Pfähle ja in die ehemaligen, durch alte, halbverfaulte Pfahlstummel kaum erkennbaren Grenzlinien eingeschlagen wurden.

Der Fuhrmann hieb mit der Peitsche auf das träge Deichselpferd ein, wandte sich seinen Fahrgästen zu und erzählte gesprächig:
»Weiß der Kuckuck, wie es gekommen ist, dass bei uns jetzt die Komsomolzen wie Pilze aus dem Boden schießen. Früher gab's so was nicht. Das scheint alles von der Lehrerin ausgegangen zu sein. Rakitina ist ihr Name, vielleicht kennen Sie sie? Ist noch ein junges Frauenzimmer, aber man kann wohl sagen, ein ganz gefährliches. Die hetzt bei uns im Dorf alle Weiber auf, setzt ihnen Flöhe ins Ohr, hält Versammlungen ab, und das bringt nichts als Unruhe. Manchmal haust du deinem Weib in der Wut eine runter - ohne das geht's ja nicht.
Früher wischte sie sich stillschweigend die Tränen ab. Jetzt aber rühr sie nicht an, sonst gibt's ein Geschrei, dass dir schlecht wird. Dann kommt sie gleich mit dem Gericht, die Jüngeren reden dabei sogar von Scheidung und plappern dir alle Gesetze auswendig her. Meine Hanka, die doch immer so zahm war, ist jetzt zu einer Delegierten geworden, das ist so was Ähnliches wie eine Älteste unter den Weibern. Vom ganzen Dorf kommen sie zu ihr gelaufen. Zuerst wollte ich sie mir gründlich vornehmen, aber dann hab ich's mir überlegt. Hol sie der Teufel! Sollen sie keifen. Sie ist doch ein rechtes Weib für die Wirtschaft und überhaupt auch so.«
Der Kutscher kratzte sich die behaarte Brust, die durch das offene Hemd sichtbar war, und versetzte dem Pferd gewohnheitsmäßig einen Peitschenhieb. Auf dem Wagen saßen Raswalichin und Lida. Beide hatten in Poddubzy etwas zu erledigen. Lida wollte eine Beratung der Frauendelegierten abhalten, und Raswalichin sollte die Arbeit in der Komsomolzelle in Gang bringen.
»Gefallen Ihnen die Komsomolzen nicht?« fragte Lida den Fuhrmann scherzend. Dieser zupfte an seinem Bärtchen und erwiderte gemächlich:
»Nein, warum denn. Solange man jung ist, kann man schon mal über die Stränge hauen, ein Theaterstück aufführen oder so was Ähnliches. Ich sehe mir selbst gern eine Komödie an, wenn es etwas Rechtes ist. Zuerst haben wir geglaubt, dass die Jungen da was Schlimmes anstellen würden, es ist aber ganz anders gekommen. Man sagt, dass sie Sauferei, Schlägerei und ähnliches nicht zulassen. Sie sind alle mehr fürs Lernen. Aber sie sind gegen Gott, und aus der Kirche wollen sie einen Klub machen. Das ist nicht recht, deshalb sehen die Alten die Komsomolzen scheel an und sind auf sie nicht gut zu sprechen. Aber sonst? Falsch ist allerdings, dass sie nur Habenichtse bei sich aufnehmen, wie Bauernknechte oder runtergekommene Bauern. Söhne von Großbauern lassen sie nicht zu.«
Das Fuhrwerk rollte den Hügel hinab und hielt an der Schule.

Die Wächtersfrau machte ihnen das Lager in ihrem Zimmer zurecht und ging selbst auf den Heuboden, um dort zu schlafen. Lida und Raswalichin waren eben erst von einer Versammlung zurückgekehrt, die bis spät in die Nacht gedauert hatte. In der Stube war es dunkel. Lida zog rasch ihre Schuhe aus, legte sich aufs Bett und schlief sofort ein.
Grob weckten sie Raswalichins Hände, die ihren Körper in unverkennbarer Absicht betasteten.
»Was willst du?«
»Sei doch still, Lidka. Was machst du für'n Theater? Mir ist es langweilig, so allein dazuliegen. Verdammt noch mal! Kannst du dir denn wirklich nichts Interessanteres vorstellen als Pennen?«
»Hände weg, und scher dich sofort von meinem Bett!« Brüsk stieß ihn Lida von sich.
Sie hatte Raswalichins schmieriges Lächeln schon früher nicht ausstehen können. Jetzt wollte sie ihm irgend etwas Verletzendes, Höhnisches sagen, aber sie war zu müde und schloss wieder die Augen.
»Was zierst du dich so? Wozu bloß dieses vornehme Getue? Bist du vielleicht aus einem Jungfernstift? Denkst wohl, ich nehm dich ernst? Spiel dich doch nicht so auf. Wenn du vernünftig bist, so stelle mich zuerst mal zufrieden, und dann kannst du schlafen, soviel du willst.«
Wahrscheinlich hielt er weitere Worte für überflüssig, denn er ließ sich wiederum auf Lidas Bett nieder und legte seine Hand herrisch auf ihre Schulter.
»Scher dich zum Teufel!« sagte Lida, die sofort wach wurde.
»Ehrenwort, ich erzähle es morgen Kortschagin.«
Raswalichin griff nach ihrer Hand und flüsterte gereizt:
»Ich pfeif auf deinen Kortschagin. Zier dich also nicht lange, denn ich krieg dich sowieso.«
Zwischen ihm und Lida entspann sich ein kurzes, heftiges Ringen. Durch die nächtliche Stille der Stube schallte eine, dann eine zweite und noch eine dritte Ohrfeige … Raswalichin flog zur Seite. Lida tastete sich im Finstern zur Tür,
stieß sie auf und rannte in den Hof hinaus. Dort stand sie nun ganz empört im Mondlicht.
»Geh ins Haus, dumme Gans!« rief Raswalichin wutschnaubend.
Er trug sein Bett auf den Hof hinaus, um dort zu übernachten. Lida rollte sich, nachdem sie die Tür verriegelt hatte, wie ein Igel in ihrem Bett zusammen.
Auf der Rückfahrt am nächsten Morgen hockte Shenka auf dem Fuhrwerk neben dem greisen Kutscher und rauchte eine Zigarette nach der anderen.
Dieses Fräulein Rührmichnichtan ist wahrhaftig noch imstande, sich bei Kortschagin zu beschweren. So 'ne Zimperliese! Wenn sie wenigstens noch nach was aussähe, aber so - vorne nichts und hinten nichts. Ich muss mich aber mit ihr aussöhnen, sonst gibt's noch Scherereien. Kortschagin ist sowieso nicht gut auf mich zu sprechen.
Raswalichin setzte sich zu Lida. Er tat verlegen, seine Augen heuchelten Traurigkeit. Er stammelte einige zusammenhanglose Worte der Entschuldigung und kroch zu Kreuze.
Und Raswalichin erreichte schließlich, was er wollte: Als die ersten Häuser von Beresdow in Sicht waren, versprach Lida, niemandem etwas über den Vorfall zu erzählen.

In den Grenzdörfern entstanden immer neue Komsomolzellen. Die Funktionäre aus dem Bezirkskomitee widmeten diesen ersten Keimen der kommunistischen Bewegung viel Zeit und Kraft. Kortschagin und Lida weilten tagelang in diesen Dörfern.
Raswalichin fuhr nur ungern aufs Land. Er verstand es nicht, den jungen Bauernburschen näher zu kommen und ihr Vertrauen zu gewinnen. So richtete er nur Unheil an. Lida und Kortschagin dagegen gaben sich einfach und natürlich. Lida sammelte die Mädchen um sich, freundete sich mit ihnen an, blieb ständig in Verbindung mit ihnen und lenkte deren Interessen auf das Leben und die Arbeit des Komsomol. Und Kortschagin war allen Jugendlichen im Bezirk bekannt. Das 2. Ausbildungsbataillon erfasste eintausendsechshundert Vordienstpflichtige zum Militärunterricht. Niemals noch hatte die Ziehharmonika eine so große Rolle bei der Propaganda gespielt wie bei diesen Abendzusammenkünften auf dem Lande.
Dank seiner Ziehharmonika war Kortschagin überall gern gesehen. Diese Zauberklänge, die die Herzen bald in temperamentvollem Marsch leidenschaftlich hinrissen, bald durch schwermütige ukrainische Weisen liebkosend und sanft erfassten, sie waren es, die so manchen Bauernburschen den Weg zum Komsomol wiesen. Die Jungen lauschten der Harmonika und den Worten ihres Meisters, der noch vor kurzem ein einfacher Arbeiter und jetzt Kriegskommissar und Jugendsekretär war.
Harmonisch verflocht sich die Melodie der Ziehharmonika mit dem, was ihnen der junge Kommissar erzählte, schlich sich in ihre Herzen ein. Neue Lieder erklangen in den Dörfern, und in den Bauernhütten tauchten außer den Psalmen- und den Traumbüchern auch andere Bücher auf.
Beschwerlich wurde auch das Handwerk der Schmuggler. Nun mussten sie sich nicht nur vor den Grenzwächtern in acht nehmen, sondern auch vor den jungen Freunden und sorgsamen Gehilfen der Sowjetmacht. Zuweilen gingen die Mitglieder der Jugendzellen an der Grenze in ihrem Eifer, den Feind allein zu fassen, zu weit, und dann musste Kortschagin seine Schützlinge aus manchen schwierigen Situationen befreien.
So war es einmal geschehen, dass Grischa Chorowodko, der blauäugige Sekretär der Poddubzer Jugendzelle, ein Hitzkopf und leidenschaftlicher Atheist, auf besonderem Wege die Nachricht erhalten hatte, dass dem Dorfmüller in der Nacht Schmuggelware zugehen werde. Er brachte die ganze Zelle auf die Beine. Mit einem Übungsgewehr und zwei Bajonetten bewaffnet, umzingelten die Komsomolzen nachts in aller Stille die Mühle und lauerten den Banditen auf. Aber auch die Grenzposten der GPU hatten von dem Schmuggel erfahren und ein besonderes Fahndungskommando ausgeschickt. Im Dunkel der Nacht gerieten die beiden Gruppen aneinander, und nur dank der Disziplin der Grenzposten wurden die Komsomolzen nicht über den Haufen geschossen. Die Jungen wurden entwaffnet, in das vier Kilometer entfernt gelegene Nachbardorf abgeführt und hinter Schloss und Riegel gesetzt.
Kortschagin war zu dieser Zeit bei Gawrilow. Morgens ließ ihm der Bataillonskommandeur den soeben eingetroffenen Bericht zukommen, und der Bezirks Jugendsekretär sprang aufs Pferd, um den Jungen aus der Patsche zu helfen.
Schmunzelnd berichtete ihm der Bevollmächtigte der GPU über den nächtlichen Vorfall.
»Machen wir es so, Genosse Kortschagin: Wir werden den Jungen nichts anhängen, sie sind ja gute Kerle. Damit sie uns jedoch nicht mehr ins Handwerk pfuschen, wollen wir ihnen einen Schreck einjagen.«
Der Wachposten öffnete die Tür des Schuppens, und elf junge Burschen erhoben sich vom Boden und traten verlegen von einem Fuß auf den anderen.
»Da, schau sie nur an«, sagte der Bevollmächtigte und zuckte bekümmert die Schultern.
»Die haben da was Schönes angestellt, und ich muss sie jetzt in die Kreisstadt befördern.«
Grischa erwiderte aufgeregt:
»Aber, Genosse Sacharow, was sollen wir denn nur verbrochen haben? Wir wollten doch nur der Sowjetmacht helfen. Wir waren schon lange hinter diesen Kulaken her, und Sie lassen uns dafür einsperren wie gewöhnliche Banditen.« Gekränkt wandte er sich ab.
Nach langen und ernsten Verhandlungen zwischen Kortschagin und Sacharow, bei denen beide nur mit Mühe ernst blieben, hörten sie schließlich auf, den Jungen einen »Schreck einzujagen«.
»Wenn du für sie die Verantwortung übernimmst und versprichst, dafür zu sorgen, dass sie sich nicht mehr an der Grenze herumtreiben, sondern uns in anderer Weise behilflich sind, lasse ich sie frei«, wandte sich Sacharow an Kortschagin.
»Gut, ich übernehme die Verantwortung und hoffe, dass sie mich nicht enttäuschen werden.«
Singend kehrten die Komsomolzen nach Poddubzy zurück. Der Vorfall wurde verschwiegen. Kurz darauf überführte man den Müller seiner Verbrechen, diesmal aber auf gesetzlichem Weg.

In den Waldmeiereien von Maidan-Villa führten die deutschen Kolonisten ein wohlhabendes Leben. Je einen halben Kilometer voneinander entfernt lagen die großen Gehöfte mit ihren Häusern und Nebengebäuden, die an kleine Festungen erinnerten. Nach Maidan-Villa führten die Spuren der Bande Antonjuks. Dieser zaristische Feldwebel hatte sieben seiner Verwandten zu einer Bande zusammengefasst und machte die ganze Gegend unsicher. Er scheute dabei auch vor Mord nicht zurück, beunruhigte Spekulanten, verschonte aber auch keinen Sowjetfunktionär. Antonjuks Bande war außerordentlich beweglich. Heute überfiel sie zwei Konsumgenossenschaftler, morgen entwaffnete sie etwa zwanzig Kilometer weiter einen Briefträger und plünderte ihn bis zur letzten Kopeke aus.
Ein Rivale Antonjuks war sein Kollege Gordi. Einer gab dem anderen nichts nach, und beide machten der Kreismiliz sowie der GPU nicht wenig zu schaffen.
Antonjuk wagte es, in unmittelbarer Nähe von Beresdow sein Unwesen zu treiben. Die Fahrt auf den Landstraßen, die zur Stadt führten, wurde unsicher. Es war äußerst schwierig, den Banditen zu fassen. Sobald ihm der Boden zu heiß wurde, ging er über die Grenze, hielt sich dort eine Zeitlang auf, tauchte aber stets dann, wenn man ihn am allerwenigsten erwartete, wieder auf. Jedes Mal, wenn Lissizyn ein neuer blutiger Überfall dieses nicht zu fassenden und deshalb so gefährlichen Räubers zu Ohren kam, biss er sich nervös auf die Lippen.
»Wie lange wird uns dieses Gezücht noch angreifen? Die Kanaille wird es bald erleben, dass ich selbst die Sache in die Hand nehme«, stieß er durch die Zähne hervor. Zweimal verfolgte der Vorsitzende des Exekutivkomitees die Banditen auf frischer Spur. Er nahm Kortschagin und noch drei andere Kommunisten mit sich. Antonjuk gelang es jedoch immer wieder, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen.
Aus der Kreisstadt wurde eine Abteilung Rotarmisten zur Bekämpfung des Banditentums nach Beresdow entsandt. Sie stand unter dem Befehl des geckenhaften Filatow. Hochnäsig wie ein junger Hahn, hielt er es für überflüssig, sich beim Vorsitzenden des Exekutivkomitees zu melden, wie es die Grenzvorschriften verlangten, und führte seine Abteilung in das nahe gelegene Dorf Semaki. Dort langte er nachts an und ließ sich mit seiner Abteilung in einem der ersten Bauernhäuser gleich am Dorfrand nieder. Die Ankunft von unbekannten bewaffneten Leuten, die noch dazu geheimnisvoll taten, zog die Aufmerksamkeit eines Komsomolzen aus dem Nachbarhaus auf sich, der sofort den Vorsitzenden des Dorfsowjets benachrichtigte. Der Vorsitzende des Sowjets, der von dieser Abteilung nichts wusste, hielt sie daher für eine Bande und schickte den Komsomolzen sofort zu Pferde mit einer Meldung in das Bezirks-Exekutivkomitee. Es fehlte nicht viel, und das tölpelhafte Treiben Filatows hatte vielen Menschen das Leben gekostet. Lissizyn, dem noch in derselben Nacht über die »Bande« Mitteilung gemacht wurde, mobilisierte gleich die Miliz und ritt mit einem Dutzend seiner Leute nach Semaki. Sie näherten sich geräuschlos dem Hof, sprangen von ihren Pferden, kletterten über den Zaun und stürmten gegen das Haus vor.
Der Wachposten vor der Tür erhielt mit dem Pistolengriff einen Schlag ins Genick und sackte zu Boden. Unter dem stürmischen Druck von Lissizyns Schultern sprang die Tür auf, und seine Leute drangen in den Raum ein, der von einer an der Decke hängenden Lampe spärlich beleuchtet wurde. Die eine Hand mit der Handgranate zum Wurf erhoben, in der anderen die Mauserpistole, brüllte Lissizyn, dass die Fensterscheiben klirrten:
»Ergebt euch, oder ich reiße euch in Stücke!«
Es fehlte nicht viel - und die Eindringlinge hätten die vom Fußboden aufspringenden verschlafenen Menschen mit einem Kugelregen überschüttet. Aber der schreckenerregende Anblick des Mannes mit der Handgranate zwang automatisch Dutzende Hände in die Höhe. Und schon nach einer Minute, als die Leute bereits in Unterkleidung auf den Hof getrieben worden waren, löste der Orden auf Lissizyns Militärrock Filatows Zunge.
Lissizyn spuckte wütend aus und schleuderte ihm nur vernichtend entgegen: »Schlafmütze!«

Der Widerhall der deutschen revolutionären Bewegung war sogar hier im Bezirk zu spüren. Das Echo des Gewehrgeknatters auf Hamburgs Barrikaden drang bis in den kleinsten Ort. An der Grenze begann es unruhig zu werden. Mit gespannter Erwartung las man die Zeitungen, denn es waren Oktoberwinde, die aus dem Westen wehten. Das Bezirks-Jugendkomitee wurde mit Gesuchen um Aufnahme in die Rote Armee überschüttet. Kortschagin bemühte sich lange, die Vertreter der Komsomolzellen davon zu überzeugen, dass die Politik des Sowjetlandes eine Politik des Friedens sei und dass es nicht im Interesse des Landes läge, mit einem Nachbarstaat Krieg zu führen. Das hatte jedoch wenig Wirkung. An jedem Sonntag kamen die Komsomolzen aller Zellen in Beresdow zusammen und hielten in dem großen Garten des ehemaligen Popenhauses Bezirksversammlungen ab.
Eines Tages gegen Mittag erschienen in dem geräumigen Hof des Bezirkskomitees die Mitglieder der Poddubzer Komsomolzelle. Sie kamen vollzähliganmarschiert. Kortschagin sah sie durchs Fenster und ging vors Haus. Elf junge Burschen - in Stiefeln, mit dicken Rucksäcken -, allen voran Chorowodko, machten vor dem Eingang halt.
»Was ist denn los, Grischa?« erkundigte sich Kortschagin verwundert.
Chorowodko zwinkerte ihm jedoch zu und ging mit ihm ins Haus. Als Lida, Raswalichin und noch zwei andere Komsomolzen Chorowodko umringten, schloss der die Tür und berichtete, seine Augenbrauen runzelnd:
»Ich mache da einen Probeappell, Genossen. Habe heute meinen Jungen erklärt, aus dem Bezirk sei ein Telegramm eingetroffen, streng geheim natürlich, aus dem hervorgehe, dass der Krieg gegen die deutsche Bourgeoisie beginne und dass man auch bald gegen die Pans ziehen werde. Aus Moskau sei der Befehl gekommen, alle Komsomolzen an die Front zu schicken. Wer aber Angst habe, der möge ein Gesuch schreiben, dann werde man ihn zu Hause lassen. Ich habe befohlen, dass kein Wort über den Krieg verlauten darf. Jeder soll einen Laib Brot und ein Stück Speck mitnehmen, und wer keinen Speck hat, Knoblauch oder Zwiebeln. Nach einer Stunde haben sich alle ganz unauffällig hinterm Dorf einzufinden. Wir gehen zum Bezirks- und dann zum Kreiskomitee, wo man uns Waffen aushändigen wird. Das hat auf die Jungen mächtigen Eindruck gemacht. Sie versuchten mich auszufragen, aber ich sagte: ›Kein Geschwätz, und damit basta! Und wer sich weigert, der mag sein Gesuch schreiben: Der Feldzug ist freiwillig.‹ Meine Jungen gingen auseinander, und mir klopfte mächtig das Herz. Wie, wenn nun niemand kommt, was dann? Dann bleibt mir nur eins - die Zelle aufzulösen und selbst von hier zu verschwinden. Ich warte nun außerhalb des Dorfes und halte Ausschau. Einer nach dem andern rücken sie heran. Manche von ihnen sehen reichlich verheult aus, aber sie lassen sich nichts anmerken. Alle zehn sind gekommen, kein einziger hat sich gedrückt. Da habt ihr sie, unsere Poddubzer Zelle!« schloss Grischa begeistert und schlug sich stolz mit der Faust an die Brust.
Als ihn dann Lida entrüstet ins Gebet nahm, schaute er sie verständnislos an.
»Was willst du nur? Das ist doch die allerbeste Prüfung! So lernt man seine Leute richtig kennen. Ich wollte sie, um die Sache noch gewichtiger aufzuziehen, bis zum Kreiskomitee schleppen. Aber die Jungen sind schon müde. Sollen sie nach Hause gehen. Aber du, Kortschagin, musst ihnen noch unbedingt eine Ansprache halten. Ohne die geht es nicht … Sag ihnen, dass die Mobilisierung widerrufen sei, ihr Heldenmut gereiche ihnen jedoch zu Ehre und Ruhm.«

Kortschagin kam nur selten ins Kreiszentrum. Solche Fahrten nahmen jedes Mal mehrere Tage in Anspruch, die Arbeit erforderte jedoch seine ständige Anwesenheit im Bezirk. Raswalichin dagegen suchte immer wieder nach einem Anlass, in die Stadt zu gelangen. Wie ein Held aus Coopers Abenteuerromanen machte er sich jedes Mal, vom Kopf bis zu den Füßen bewaffnet, höchst vergnügt auf den Weg. Im Wald begann er dann auf Krähen oder Eichhörnchen zu schießen, hielt einzelne Fußgänger an und verhörte sie wie ein echter Untersuchungsrichter: wer sie seien, woher sie kämen und wohin sie gingen. In der Nähe der Stadt angelangt, entledigte sich Raswalichin seiner Waffen, schob das Gewehr ins Heu, steckte die Pistole in die Tasche und betrat die Räume des Kreisjugendkomitees wie gewöhnlich.
»Nun, was gibt's Neues bei euch in Beresdow?« Das Zimmer des Sekretärs des Kreiskomitees, Fedotow, war immer voller Menschen, die alle durcheinander redeten. Es gehörte schon etwas dazu, unter solchen Umständen zu arbeiten. Man musste vier Menschen auf einmal zuhören, dabei Notizen machen und einem fünften antworten. Fedotow ist noch sehr jung, aber sein Parteibuch trägt das Eintrittsdatum 1919. Nur in jenen stürmischen Tagen hatte ein Fünfzehnjähriger Parteimitglied werden können.
Lässig beantwortete Raswalichin die Frage Fedotows.
»Man kann doch nicht alle Neuigkeiten gleich auf einmal erzählen. Ich rackere mich von früh bis spät ab. Überall soll man zurechtkommen. Man muss hier ja alles ganz von neuem aufbauen. Hab dieser Tage wieder zwei neue Zellen organisiert. Wozu habt ihr mich hergerufen?« Er setzte eine geschäftige Miene auf und ließ sich in den Lehnstuhl fallen.
Krymski, der Leiter der Wirtschaftsabteilung, blickte für einen Augenblick von dem Haufen Schriftstücke auf, die den Tisch bedeckten, und sah sich um.
»Wir haben Kortschagin rufen lassen und nicht dich.«
Raswalichin stieß eine dicke Rauchwolke aus.
»Kortschagin liebt es nicht hierher zufahren. Sogar darum muss ich mich kümmern … Manche Sekretäre haben es überhaupt gut. Sie rühren keinen Finger und lassen solche Esel wie mich schuften. Sobald Kortschagin an die Grenze fährt, lässt er sich zwei bis drei Wochen lang nicht blicken, und dann habe ich die ganze Arbeit auf dem Buckel.« Raswalichin gab unzweideutig zu verstehen, dass eben nur er der geeignete Sekretär für das Bezirks-Jugendkomitee sei.
»Mir gefällt dieser Kerl nicht«, sagte Fedotow offen zu seinen Genossen, als Raswalichin aus dem Zimmer gegangen war.
Raswalichins Quertreibereien wurden ganz zufällig aufgedeckt. Eines Tages erschien Lissizyn bei Fedotow, um die Post abzuholen. Jeder, der aus dem Bezirk kam, nahm die Post für alle anderen mit. Fedotow hatte eine eingehende Unterredung mit Lissizyn, und Raswalichin wurde entlarvt.
»Schick uns aber trotzdem Kortschagin her. Wir kennen ihn ja fast gar nicht«, sagte Fedotow beim Abschied.
»Gut. Aber nur unter einer Bedingung. Lasst euch nicht einfallen, ihn uns wegzuschnappen. Dagegen werden wir ganz energisch protestieren.«

In diesem Jahr wurde im Grenzgebiet die Oktoberfeier mit besonderer Begeisterung begangen. Kortschagin war zum Vorsitzenden der Oktoberkommission der Grenzdörfer gewählt worden. Nach einem Meeting in Poddubzy zog eine fünftausendköpfige Menge von Bauern und Bäuerinnen, die aus drei Nachbardörfern zusammengeströmt waren, mit einem Blasorchester und dem Ausbildungsbataillon an der Spitze, unter wehenden roten Fahnen zur Grenze. In strenger Ordnung marschierte, auf sowjetischem Boden, die einen halben Kilometer lange Kolonne von hier aus in die von der Grenze in zwei Teile getrennten Dörfer. Noch niemals hatten die Polen hier einen solchen Aufmarsch gesehen. An der Spitze des Zuges ritten der Bataillonskommandeur Gawrilow und Kortschagin, ihnen folgte dröhnend und schmetternd das Blasorchester, Fahnen wehten, und Lieder erschollen ohne Ende. Die Dorfjugend trug Feiertagskleidung, überall herrschte Fröhlichkeit, erklang silberhelles Lachen der jungen Bäuerinnen. Ernst waren die Gesichter der Erwachsenen und feierlich die der Greise. So weit das Auge reichte, ergoss sich dieser Menschenstrom - und das Ufer dieses Stromes war die Grenze. An keiner Stelle wurde die verbotene Zone auch nur von einem einzigen betreten.
Kortschagin ließ die Menschen an sich vorübermarschieren.
Trotzig erklang das Komsomolzenlied:

Von Sibiriens Urwald bis zur britischen See
ist niemand so stark wie die Rote Armee!

Und dann setzte der Mädchenchor ein:

Auf dem Berge oben mäht die Schnitterschar …

Mit freudigem Lächeln wurden die Kolonnen von den Sowjetposten begrüßt, und verwirrt schauten die polnischen Posten herüber. Obgleich das polnische Grenzkommando rechtzeitig von der Demonstration in Kenntnis gesetzt worden war, rief sie doch jenseits der Grenze Beunruhigung hervor. Die berittenen Patrouillen der polnischen Grenzwache begannen geschäftig herumzuschnüffeln. Die Wachposten wurden um das Fünffache verstärkt und in den Schluchten für alle Fälle Reserven bereitgehalten. Die Kolonne marschierte jedoch weiter auf heimatlichem Boden, lärmend und fröhlich, und weithin erklangen ihre Lieder.
Auf einem Erdhügel stand ein polnischer Wachposten. Gemessenen Schrittes bewegte sich der Zug vorüber. Die ersten Töne eines Marschliedes erklangen. Der Pole nahm das Gewehr von der Schulter und leistete, Gewehr bei Fuß, die
Ehrenbezeigung, Kortschagin vernahm deutlich:
»Es lebe die Kommune!«
Die Augen des Soldaten bestätigten, dass er diese Worte gesagt hatte. Unverwandt schaute Pawel ihn an.
Ein Freund! Unter dem Soldatenmantel schlägt ein mit uns sympathisierendes Herz. Kortschagin erwiderte leise in polnischer Sprache:
»Grüß dich, Genosse!«
Der Wachposten blieb zurück. Er ließ die Kolonnen an sich vorübermarschieren und hielt das Gewehr immer noch in derselben Stellung. Pawel drehte sich noch einige Male nach der kleinen dunklen Gestalt um. Aber da stand schon ein anderer Pole, einer mit ergrautem Schnurrbart. Unter dem vernickelten Schirm seiner Mütze schauten unbeweglich trübe Augen hervor. Kortschagin, der noch immer unter dem Eindruck des soeben Vernommenen stand, murmelte in polnischer Sprache vor sich hin:
»Sei gegrüßt, Genosse!«
Aber es kam keine Antwort.
Gawrilow lächelte. Er hatte alles mit angehört.
»Du verlangst zuviel auf einmal«, sagte er.
»Außer den einfachen Infanteristen gibt es hier ja noch die Feldgendarmerie. Hast du seine Armeetressen gesehen? Das war ein Gendarm.«
Die Spitze der Kolonne stieg bereits in das durch die Grenze halbierte Dorf hinunter. Auf der sowjetischen Seite bereitete man den Ankommenden einen festlichen Empfang. Am Ufer des Flüsschens, dicht an der Grenzbrücke, hatte sich das ganze Sowjetdorf versammelt. Mädchen und Burschen hatten am Wegrand Aufstellung genommen. Auf polnischer Seite beobachteten die Menschen, dicht aneinandergedrängt, von Hausdächern und Schuppen herab unverwandt die Vorgänge jenseits des Flusses. Auf den Schwellen der Hütten und an den Zäunen standen viele Bauern. Als der Zug durch den von Menschen gebildeten Korridor marschierte, spielte das Orchester die »Internationale«. Von einer provisorisch errichteten, mit grünen Zweigen geschmückten Tribüne hielten sowohl die Jungen als auch die Alten feurige Ansprachen. Kortschagin redete in seiner ukrainischen Muttersprache. Die Worte schallten über die Grenze und waren auch auf dem jenseitigen Ufer hörbar. Dort aber wollte man verhindern, dass seine Worte die Herzen der Bewohner entflammten. Eine Gendarmeriepatrouille raste durchs Dorf, jagte die Einwohner mit Peitschenhieben in die Häuser und schoss auf die Dächer.
Die Straßen leerten sich rasch. Die Kugeln hatten die Jugend von den Dächern verjagt. Am Sowjetufer sahen die Menschen diesem Treiben mit finsterer Miene zu. Gestützt von jungen Burschen, kletterte ein alter Hirt auf die Tribüne und begann ganz empört zu sprechen:
»Da habt ihr's! Schaut nur hin, Kinder! So hat man einst auch uns geprügelt. Aber heute wird niemand im Dorf erleben, dass unsere Sowjetmacht zulässt, einen Bauern mit der Peitsche zu züchtigen. Wir haben mit unseren Pans Schluss gemacht - und damit ist es auch mit der Peitsche vorbei. Haltet diese Macht fest in euren Händen, Jungen. Ich bin alt, ich kann keine Reden halten. Aber sagen möchte ich euch viel: über unser früheres Leben, als wir unter dem Zaren schuften mussten wie die Ochsen im Joch. Jetzt will einem schier das Herz brechen, wenn man das da drüben sieht …!« Er wies mit der knochigen Hand über den Fluss und fing an zu weinen wie ein kleines Kind.
Nach dem Alten sprach Grischa Choworodko. Gawrilow, der seiner zornigen Ansprache lauschte, riss sein Pferd herum und schaute aufmerksam zum anderen Ufer hinüber, um zu sehen, ob drüben die Rede mitgeschrieben wurde.
Doch das Ufer war menschenleer, sogar der Brückenposten war zurückgezogen worden.
»Scheint diesmal ohne eine Note an das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten abzugehen«, scherzte er.
In einer regnerischen Herbstnacht, gegen Ende November, wurde dem Banditen Antonjuk und seinen sieben Spießgesellen das blutige Handwerk gelegt. Man erwischte die Räuberbande auf der Hochzeit eines reichen Kolonisten in Maidan-Villa. Die Chrolinsker Kommunarden räumten hier endgültig mit diesem Gesindel auf.
Geschwätzige Weiberzungen hatten die Nachricht von den Gästen auf der Kolonistenhochzeit in Umlauf gebracht. Augenblicklich hatte sich die Zelle -insgesamt zwölf Mann - versammelt und mit allem, was nur aufzutreiben war, bewaffnet. Sie kamen auf Fuhrwerken nach Maidan-Villa, während ein Bote Hals über Kopf nach Beresdow jagte. In Semaki stieß er auf die Abteilung Filatows, der sich mit seinen Leuten sogleich in Trab setzte und nach Maidan-Villa ritt, um der Spur des Banditen zu folgen. Die Chrolinsker Kommunarden hatten inzwischen das Gehöft umzingelt, und dann begannen die Waffen sich mit der Bande Antonjuks zu unterhalten. Dieser verschanzte sich mit den Seinen in einem kleinen Seitenflügel und empfing jeden, der ihm vors Korn kam, mit einem Bleihagel. Er versuchte einen Ausfall zu machen, aber die Chrolinsker Burschen jagten ihn wieder ins Seitengebäude zurück, wobei einer der acht, von einer Kugel durchbohrt, liegen blieb. Mehr als einmal war Antonjuk in derartige Situationen geraten, aber bisher war er stets mit heiler Haut davongekommen. Handgranaten und die nächtliche Dunkelheit hatten ihm immer wieder aus der Patsche geholfen. Vielleicht wäre er auch diesmal wieder entwischt, denn schon hatten zwei Kommunarden ihr Leben lassen müssen, aber da kam Filatow mit seiner Gruppe gerade im rechten Augenblick angesprengt, und Antonjuk begriff, dass er diesmal endgültig festsaß. Bis zum Morgengrauen pfiffen die Kugeln aus allen Fenstern des Seitenflügels, bei Tagesanbruch jedoch wurde der Flügel genommen und die Räuberbande ausgerottet. Von den acht hatte sich keiner ergeben.
Vier Genossen kostete dieser Kampf das Leben, drei davon hatte die junge Chrolinsker Komsomolzelle geopfert.

Kortschagins Bataillon nahm an den Herbstmanövern der Territorialtruppen teil. Die vierzig Kilometer bis zum Lager der Division bewältigte die Truppe an einem Tag bei strömendem Regen. Der Marsch begann am frühen Morgen und endete spätabends. Bataillonskommandeur Gussew und sein Kommissar legten die Strecke zu Pferd zurück. Die achthundert Vordienstpflichtigen, die sich kaum noch in die Kaserne schleppen konnten, fielen sofort in tiefen Schlaf. Der Stab der Territorialdivision hatte das Bataillon zu spät hinbeordert, denn schon für den nächsten Morgen waren die Manöver angesetzt. Das neueingetroffene Bataillon nahm auf dem Exerzierplatz Aufstellung und wurde einer Musterung unterzogen. Bald darauf sprengten aus dem Divisionsstab mehrere Berittene heran. Das Bataillon, das bereits mit Uniform und Gewehren ausgerüstet worden war, machte einen prächtigen Eindruck. Sowohl Gussew, ein erfahrener Kommandeur, als auch Kortschagin hatten viel Kraft und Zeit auf ihr Bataillon verwandt und konnten sich auf die ihnen anvertrauten Truppen verlassen.
Als die offizielle Musterung zu Ende war und das Bataillon seine Manövrierfähigkeit gezeigt hatte, fuhr einer der Kommandeure, der ein schönes, jedoch aufgedunsenes und verlebtes Gesicht hatte, Kortschagin schroff an:
»Weshalb sind Sie zu Pferd? Bei uns ist das den Kommandeuren und Kriegskommissaren der Ausbildungsbataillone nicht gestattet. Ich befehle Ihnen, das Pferd im Stall einzustellen und die Manöver zu Fuß mitzumachen!«
Kortschagin wusste, dass er nicht imstande sein würde, ohne Pferd das Manöver durchzuhalten, er würde nicht einen einzigen Kilometer zu Fuß zurücklegen können. Aber wie sollte er das diesem gezierten Laffen beibringen, der geschniegelt und gebügelt vor ihm stand?
»Ohne Pferd kann ich an den Manövern nicht teilnehmen.«
»Weshalb?«
Da er einsah, dass er seine Weigerung nicht anders begründen konnte, erwiderte Kortschagin mit dumpfer Stimme:
»Ich habe geschwollene Füße und kann deshalb nicht eine ganze Woche lang umherlaufen. Außerdem weiß ich nicht, wer Sie sind, Genosse.«
»Erstens bin ich der Stabschef Ihres Regiments, und zweitens wiederhole ich nochmals meinen Befehl, abzusitzen. Wenn Sie Invalide sind, so trage nicht ich die Schuld, dass Sie Militärdienst leisten.«
Kortschagin zuckte wie unter .einem Peitschenhieb zusammen. Er riss sein Pferd an den Zügeln, Gussews feste Hand hielt ihn aber zurück.
Einige Minuten lang kämpften in Pawel zwei Gefühle: Kränkung und Selbstbeherrschung. Pawel Kortschagin war jedoch nicht mehr jener Rotarmist, der ohne Bedenken von einem Truppenteil zum anderen hinüberwanderte. Er war Kriegskommissar eines Bataillons, und dieses Bataillon stand hinter ihm. Was für ein Beispiel an Disziplin würde er durch sein Benehmen den Jungen geben? Hatte er doch sein Bataillon nicht für diesen Laffen erzogen! Er nahm seine Füße aus den Steigbügeln, saß ab und schritt, einen jähen Schmerz in den Gelenken unterdrückend, zum rechten Flügel.
Einige Tage lang herrschte außergewöhnlich schönes Wetter. Die Manöver gingen ihrem Ende entgegen. Am fünften Tag wurden sie in der Umgebung von Schepetowka durchgeführt, wo sie auch ihren Abschluss finden sollten. Das Beresdower Bataillon erhielt den Auftrag, den Bahnhof vom Dorf Klimentowitschi her zu nehmen.
Kortschagin, der die Gegend ausgezeichnet kannte, zeigte Gussew alle Anmarschwege. Das Bataillon wurde in zwei Gruppen geteilt, fiel in einem weit ausholenden Umgehungsmanöver, das vom Gegner unbemerkt blieb, diesem in den Rücken und erstürmte unter Hurrarufen den Bahnhof. Laut Gutachten des Schiedsrichters war diese Operation glänzend durchgeführt worden. Der Bahnhof blieb in den Händen der Beresdower, und das ihn verteidigende Bataillon, dem der Verlust von fünfzig Prozent seines Mannschaftsbestandes gebucht wurde, musste sich in den Wald zurückziehen.
Kortschagin, der das Kommando über die eine Bataillonshälfte übernommen hatte, stand mitten auf der Straße mit dem Kommandeur und dem Politleiter der dritten Kompanie und erteilte Befehle über die Aufstellung der Schützenlinie.
»Genosse Kommissar«, rief ihm ein herbeieilender Rotarmist zu, »der Batallionskommandeur lässt fragen, ob die Bahnübergänge mit MG-Schützen besetzt sind. Gleich wird eine Kommission eintreffen«, berichtete er ganz außer Atem.
Pawel ging sofort mit den Kommandeuren zum Bahnübergang.
Dort war schon der ganze Regimentsstab versammelt. Man gratulierte Gussew zu der gelungenen Operation. Die Vertreter des geschlagenen Bataillons traten verlegen von einem Fuß auf den anderen, ohne auch nur den Versuch zu machen, sich zu rechtfertigen.
»Das ist nicht mein Verdienst. Kortschagin stammt aus dieser Gegend und hat uns geführt.«
Der Stabschef ritt dicht an Pawel heran und sagte spöttisch:
»Sie können ja fabelhaft laufen, Genosse. Und zu Pferd kamen Sie wohl aus bloßer Wichtigkeit angeritten, wie?«
Er wollte noch etwas hinzufügen, aber Kortschagins Blick brachte ihn zum Schweigen. Als der Stab davongeritten war, erkundigte sich Kortschagin leise bei Gussew: »Weißt du, wie der heißt?«
Gussew klopfte ihm auf die Schulter.
»Ach lass das, schenk doch diesem Gecken keine Aufmerksamkeit. Tschushanin heißt er, ein ehemaliger Fähnrich, glaube ich.«
Kortschagin überlegte den ganzen Tag, woher er diesen Namen kannte, aber er kam nicht darauf.

Die Manöver waren zu Ende. Das Bataillon, das die Bewertung »Ausgezeichnet« erhalten hatte, marschierte nach Beresdow zurück. Kortschagin, der völlig erschöpft war, blieb zwei Tage bei seiner Mutter. Das Pferd ließ er Artjom zur Pflege. Pawel schlief täglich zwölf Stunden hintereinander, am dritten Tag suchte er Artjom im Depot auf. In diesem verräucherten Gebäude fühlte er
sich zu Hause. Gierig sog er den Kohlendunst ein. Alles hier zog ihn unwiderstehlich an, alles, was ihm früher so nah und vertraut, womit einst seine Kindheit und Jugend verbunden gewesen war. Es war ihm, als habe er irgend etwas Teures verloren. Wie viele Monate schon hatte er das Pfeifen der Lokomotiven nicht mehr gehört. Und wie der Seemann nach langer Trennung jedes Mal beim Anblick des tiefblauen endlosen Meeres wieder in Erregung gerät, so schlug jetzt auch dem ehemaligen Heizer und Monteur inmitten der ihm so vertrauten Umgebung das Herz rascher. Lange konnte er diese Empfindung nicht überwinden.
Mit dem Bruder sprach er wenig. Auf Artjoms Stirn bemerkte er eine neue tiefe Furche. Artjom arbeitete jetzt am Schmiedefeuer. Daheim war unterdessen ein zweites Kind angekommen. Sein Leben schien schwer zu sein. Artjom sprach darüber kein Wort, doch es war auch ohne Worte klar.
Ein, zwei Stunden arbeiteten sie miteinander; dann trennten sie sich. Am Bahnübergang hielt Pawel sein Pferd an und blickte lange nach dem Bahnhof zurück. Unvermittelt gab er dem Rappen die Sporen und jagte den Waldweg entlang.
Die Waldwege waren jetzt ungefährlich. Es gab keine Überfälle mehr. Die Bol-schewiki hatten mit den kleinen und großen Banditen aufgeräumt und ihre Nester ausgehoben. In den Dörfern des Bezirks war das Leben wieder ruhiger geworden.
Gegen Mittag traf Kortschagin in Beresdow ein. Am Eingang des Bezirkskomitees kam ihm Lida Polewych freudig entgegen.
»Endlich bist du wieder da! Wir haben schon Sehnsucht nach dir gehabt.« Sie legte den Arm um seine Schultern und ging mit ihm ins Haus.
»Wo ist denn Raswalichin?« erkundigte sich Kortschagin, als er seinen Mantel ablegte.
Lida antwortete widerwillig:
»Weiß nicht, wo der steckt. Ah, jetzt entsinne ich mich! Am Morgen sagte er mir, er gehe in die Schule, um dort für dich Unterricht in Gesellschaftskunde zu geben. ›Das ist überhaupt meine Aufgabe,‹ sagte er, ›und nicht die Kortscha-gins.‹«
Diese Neuigkeit berührte Pawel unangenehm. Raswalichin hatte ihm niemals besonders gefallen. Was wird dieser Kerl nur in der Schule anstellen? dachte er missvergnügt.
»Nun gut. Erzähl mir, was bei euch los ist, warst du in Gruschonka? Wie geht es den Jungen dort?«
Lida berichtete ihm alles. Kortschagin legte sich auf den Diwan und streckte die müden Beine aus.
»Die Rakitina ist vorgestern als Kandidat in die Partei aufgenommen worden. Das wird unsere Poddubzer Zelle noch mehr festigen. Sie ist ein feiner Kerl und gefällt mir sehr. Siehst du, auch bei der Lehrerschaft beginnt jetzt ein beachtlicher Umschwung. Einige von ihnen gehen ganz zu uns über.«
An manchen Abenden saßen in Lissizyns Zimmer drei Menschen bis spät in die Nacht um den großen Tisch herum. Es waren Lissizyn, Kortschagin und der neue Sekretär des Bezirks-Parteikomitees, Lytschikow.
Die Schlafzimmertür war geschlossen. Anjutka und Lissizyns Frau schliefen schon längst. Die drei jedoch saßen über ein kleines Buch gebeugt: »Russische Geschichte« von Pokrowski. Sie fanden nur in der Nacht Zeit zum Lernen.
Die Abende, an denen Pawel nicht in den Dörfern zu tun hatte, verbrachte er bei Lissizyns und musste jedes Mal betrübt feststellen, dass Lytschikow und Nikolai ihn schon wieder überholt hatten.

Aus Poddubzy kam die Hiobsbotschaft, Grischa Chorowodko sei nachts von unbekannten Tätern ermordet worden. Ungeachtet der Schmerzen in seinen Füßen, eilte Kortschagin auf diese Nachricht hin zum Pferdestall des Exekutivkomitees: In fieberhafter Hast sattelte er ein Pferd und sprengte, die Flanken
des Tieres mit der geflochtenen Peitsche striegelnd, in Richtung der Grenze davon.
In dem geräumigen Haus des Dorfsowjets lag Grischa, von Tannengrün umgeben und mit der Fahne des Dorfsowjets bedeckt. Bis zum Eintreffen der Behörde hatte man niemanden an ihn herangelassen. Ein Rotarmist der Grenztruppen und ein Jungkommunist hielten Ehrenwache. Kortschagin betrat den Raum, näherte sich dem Tisch und schlug das Fahnentuch zurück.
Wachsbleich, mit weitgeöffneten Augen, aus denen noch die Todesqual starrte, lag Grischa mit zur Seite geneigtem Kopf da. Der von einem scharfen Gegenstand zerschmetterte Hinterkopf war mit einem Tannenzweig bedeckt.
Wer erschlug diesen Jungen, den einzigen Sohn der Witwe Chorowodko, die schon ihren Mann, einen Mühlenarbeiter, der Mitglied des Komitees der Dorfarmut gewesen war, in der Revolution verloren hatte?
Die Nachricht von der Ermordung ihres Sohnes hatte der alten Frau die Besinnung geraubt. Nachbarinnen waren herbeigeeilt und hatten sich um die Ohnmächtige bemüht. Und der Sohn lag mit stummen Lippen und wahrte das Geheimnis seines Todes.
Grischas Tod brachte das ganze Dorf in Aufruhr. Es erwies sich, dass der junge Sekretär der Komsomolzen und Beschützer der Landarbeiter im Dorf mehr Freunde als Feinde gehabt hatte.
Erschüttert von diesem plötzlichen Todesfall, saß die Rakitina weinend in ihrem Zimmer und hob nicht einmal den Kopf, als Kortschagin eintrat.
»Was meinst du, Genossin Rakitina, wer hat ihn ermordet?« fragte Kortschagin mit dumpfer Stimme und ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen.
»Wer denn anders als diese Müllerbande! Grischa war ja diesen Schmugglern ein Dorn im Auge.« -
An Grischas Begräbnis nahmen die Einwohner zweier Dörfer teil. Kortschagin traf mit seinem ganzen Bataillon ein, und auch die gesamte Jugendorganisation des Bezirkes erschien, um ihrem Genossen die letzte Ehre zu erweisen. Gawrilow ließ zweihundertfünfzig Grenzarmisten auf dem Platze des Dorfsowjets Aufstellung nehmen. Unter den wehmütigen Klängen des Trauermarsches wurde der rot geschmückte Sarg hinausgetragen und auf dem Platz aufgestellt, wo neben den Gräbern der gefallenen Bolschewiki, der Partisanen des Bürgerkrieges, ein frisches Grab ausgehoben worden war.
Grischas Tod schloss die Reihen derer, für die er sich immer eingesetzt hatte, nur noch fester zusammen. Die Landarbeiterjugend und die arme Bauernschaft gelobten der Zelle ihre Unterstützung, und alle, die voller Zorn an Grischas Grab sprachen, forderten den Tod der Mörder, verlangten, dass man sie ausfindig machen und hier auf dem Dorfplatz neben seinem Grabe richten solle, damit jedermann das Antlitz des Feindes sehen könne. - Drei Salven erdröhnten, und das frische Grab wurde mit Tannenzweigen geschmückt.
Am selben Abend noch wurde Genossin Rakitina zum neuen Sekretär der Zelle gewählt.
Von dem Grenzposten der GPU erhielt Kortschagin die Mitteilung, dass man dort den Mördern auf die Spur gekommen sei.

Eine Woche später wurde im Theater des Ortes die zweite Tagung des Bezirkssowjets eröffnet. Ernst und feierlich begann Lissizyn sein Referat.
»Genossen, voller Genugtuung kann ich euch berichten, dass wir alle im vergangenen Jahr eine große Arbeit durchgeführt haben. Wir haben die Sowjetmacht in unserem Bezirk gefestigt, das Banditenunwesen mit der Wurzel ausgerottet und die Schmuggelei unterbunden. Die Organisationen der Dorfarmut haben sich gut entwickelt. Die Jugendorganisation ist um das Zehnfache gewachsen, und auch die Parteiorganisation hat sich verstärkt. Das jüngste Verbrechen der Kulaken in Poddubzy, deren Opfer unser Genosse Chorowodko geworden ist, wurde von uns aufgedeckt. Die Mörder - der Müller und sein Schwiegersohn - sind verhaftet und werden in den nächsten Tagen durch das Gouvernementsgericht zur Verantwortung gezogen. Zahlreiche Delegationen aus den Dörfern haben dem Präsidenten die Forderung übermittelt, sich durch
einen speziellen Beschluss dafür einzusetzen, dass diesen Banditen und Terroristen gegenüber unbedingt das höchste Strafmaß angewandt wird.«
Der Saal dröhnte von Zurufen:
»Wir unterstützen diesen Antrag. Tod den Feinden der Sowjetmacht!« In einer Seitentür erschien Lida Polewych. Sie winkte Pawel zu sich. Im Korridor überreichte ihm Lida ein Kuvert mit der Aufschrift »Eilig«. Er öffnete den Umschlag.

An das Bezirksskomitee des Kommunistischen Jugendverbandes Beresdow, Kopie an das Bezirkskomitee der Partei. Laut Beschluss der Leitung des Gouvernementskomitees wird Genosse Kortschagin aus dem Bezirk abberufen und dem Gouvernementskomitee für eine verantwortliche Arbeit im Jugendverband zur Verfügung gestellt.

Kortschagin nahm Abschied von dem Bezirk, in dem er ein Jahr lang gearbeitet hatte. Auf der letzten Sitzung des Bezirks-Parteikomitees wurden zwei Fragen behandelt: erstens die Aufnahme des Parteikandidaten Genossen Kortschagin in die Partei, und zweitens die Bestätigung seiner Charakteristik und seine Befreiung von der Arbeit als Sekretär des Bezirks-Jugendkomitees.
Lissizyn und Lida drückten Pawel fest und herzlich die Hand.
Freundschaftlich umarmten sie einander, und als Pawels Pferd vom Hof in die Straße einbog, feuerten ein Dutzend Pistolen Salutschüsse in die Luft.

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