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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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ACHTES KAPITEL

Unten, an den chaotisch aufgetürmten Steinblöcken, rauscht das Meer. Der trockene, aus der fernen Türkei kommende Wind umweht das Gesicht. Wie ein geknickter Bogen drängt sich, durch eine Mole aus Eisenbeton vom offenen Meer getrennt, der Hafen ins Ufer hinein. Hier am Meer bricht der Gebirgskamm jäh ab. Und hoch oben auf den Berghängen haben sich die winzigen weißen Häuser der Vorstadt eingenistet.
In dem alten Park außerhalb der Stadt ist es still. Gras überwuchert die vernachlässigten Wege, und abgestorbene, vom Herbst gelbgefärbte Ahornblätter fallen langsam zu Boden.
Kortschagin war von einem Droschkenkutscher, einem alten Perser, hierher gebracht worden, der, nachdem er seinen seltsamen Gast abgesetzt hatte, sich nicht enthalten konnte zu sagen:
»Was willst du denn hier? Dämchen gibt es keine, ein Theater auch nicht. Nur Schakale treiben sich hier herum … Was du hier machen willst, verstehe ich nicht! Lass uns wieder zurückfahren, Herr Genosse!«
Kortschagin zahlte, und der Alte fuhr davon.
Ö de und verlassen lag der Park da. Auf einem Felsvorsprung über dem Meer fand Pawel eine Bank. Er setzte sich und wandte sein Gesicht den schon kraftlosen Strahlen der Herbstsonne zu.
Pawel hatte diese Einöde hier aufgesucht, um über sein Leben und darüber, was weiter werden sollte, nachzudenken. Es war Zeit, die Bilanz zu ziehen und einen Entschluss zu fassen.
Seitdem er das letzte Mal hier gewesen war, hatten sich die Gegensätze in der Familie Kützam äußerst zugespitzt. Als der Alte von Kortschagins Ankunft erfuhr, bekam er einen Wutanfall und schlug einen Heidenlärm. Ganz von selbst fiel die Führung des Widerstandes Kortschagin zu. Die energische Abwehr seiner Frau und der Töchter war dem Alten völlig unerwartet gekommen. Vom ersten Tag an teilte sich das Haus in zwei feindliche Lager. Die Tür zu den Räumen, in denen die Alten hausten, wurde vernagelt, und eine der kleinen Kammern war Kortschagin zur Verfügung gestellt worden. Die Miete für dieses Zimmer hatte der Alte im voraus erhalten, und er schien sich bald damit zu beruhigen, dass die Töchter, die sich von ihm abgewandt hatten, auch keine finanzielle Unterstützung mehr verlangen würden.
Albina blieb aus »diplomatischen« Erwägungen beim Alten wohnen. Zu dem Jungen schaute der Alte nicht einmal hinein, weil er dem verhassten Kerl nicht begegnen wollte. Im Hof dagegen fauchte er wie eine Lokomotive, um zu zeigen, dass er Herr im Hause sei.
Vor seiner Anstellung im Konsumladen hatte der Alte zwei Berufe gehabt - er war Schuster und Zimmermann gewesen. In seiner Freizeit konnte er sich daher jetzt etwas hinzuverdienen und hatte sich hierfür in seinem Schuppen eine Werkstatt eingerichtet. Bald stellte er, um den Mieter zu ärgern, seine Werkstatt direkt vor dessen Fenster auf. Während er einen Nagel nach dem anderen verbissen einschlug, war er höchst befriedigt. Er wusste nur zu gut, dass dies Kortschagin beim Lesen störte.
»Warte nur, Bürschlein, ich werde dich schon von hier wegekeln …«, brummelte er vor sich hin.
Weit weg, am Horizont, sah man die rauchige Spur eines Dampfschiffes wie eine dunkle Wolke am Himmel entlanggleiten. Ein Möwenschwarm schrie durchdringend auf und strich über das Meer.
Kortschagin stützte den Kopf in beide Hände und verfiel in Grübeln. Vor seinen Augen zog sein ganzes Leben vorüber, von seiner Kindheit bis in die letzten Tage hinein. Hatte er seine vierundzwanzig Jahre gut oder schlecht ausgenutzt? Wie ein unvoreingenommener Richter sichtete er in seinem Gedächtnis Jahr um Jahr, überprüfte sein ganzes Leben und stellte mit großer Genugtuung fest, dass er es gar nicht so schlecht genutzt hatte. Nicht wenige Fehler hatte er allerdings begangen, manchmal aus Dummheit oder Unreife, meist aber aus Unkenntnis. Die Hauptsache jedoch war, dass er die Tage des Kampfes nicht verschlafen, dass er im eisernen Ringen um ein neues Leben seinen Mann gestanden hatte und dass auf dem purpurroten Banner der Revolution auch einige Blutstropfen von ihm waren.
Solange seine Kräfte nicht versiegt waren, hatte er unerschütterlich in den Reihen der Kämpfer gestanden. Jetzt, da er verwundet war, konnte er die Front nicht mehr halten, und geblieben war ihm nur eins - dahinzuvegetieren in Hinterlandlazaretten. Er entsann sich: Als die roten Regimenter, einer Lawine gleich, gegen Warschau vorstießen, wurde ein Kämpfer verwundet und brach unter den Pferdehufen zusammen. Die Kameraden legten dem Verwundeten eilig einen Verband an, übergaben ihn den Sanitätern und stürmten weiter, dem Feind nach. Um eines verlorenen Kämpfers willen hielt die Schwadron im Vorwärtsstürmen nicht inne. Im Kampf für die große Sache ist es so - und kann es auch gar nicht anders sein. Gewiss, es gab auch Ausnahmen. Er hatte auch schon MG-Schützen ohne Beine gesehen - diese Kämpfer auf den MG-Wagen jagten dem Feind Schrecken ein. Ihre Maschinengewehre säten Tod und Verderben. Ihrer eisernen Ausdauer und ihrer scharfen Augen wegen waren sie zum Stolz der Regimenter geworden. Aber solche Menschen gab es nur wenige.
Wie sollte Pawel jetzt handeln, jetzt, nach dem Zusammenbruch, wo keine Aussicht mehr bestand auf seine Rückkehr in die Kämpferreihen? Hatte er doch der Bashanowa das Geständnis abgerungen, dass ihm in der Zukunft noch Entsetzlicheres bevorstehe. Was blieb ihm zu tun übrig?
Diese ungelöste Frage tat sich vor ihm wie ein tiefer, gähnender Abgrund auf.
Wozu leben, wenn er das Wertvollste - die Fähigkeit zu kämpfen - verloren hatte? Womit sollte er sein Leben rechtfertigen - jetzt und in der noch freudloseren Zukunft? Womit das Leben ausfüllen? Einfach nur essen, trinken und atmen? Als ohnmächtiger Zeuge zusehen, wie die Genossen kämpfend vorwärts schreiten? Ihnen zur Last fallen? Oder sollte er mit seinem Körper, der ihn im Stich gelassen hatte, kurzen Prozess machen? Eine Kugel ins Herz - und Schluss! Hast verstanden, nicht schlecht zu leben, also versteh es auch, rechtzeitig abzuschließen. Kann man denn einen Kämpfer verurteilen, der nicht langsam dahinsiechen will?
Seine Hand tastete in der Tasche nach dem Browning. Mit gewohnter Bewegung umklammerten die Finger den Griff. Langsam zog er die Waffe hervor.
Wer hätte gedacht, dass es einmal so kommen würde?
Die Mündung der Pistole schien ihn verächtlich anzublinzeln. Pawel legte sie aufs Knie und stieß einen wütenden Fluch aus.
Das ist phrasenhaftes Heldentum, weiter nichts, mein Lieber! Sich niederknallen - das kann ja jeder Dummkopf - immer und jederzeit. Das ist der feigste und leichteste Ausweg. Wird es schwer zu leben - so macht man Schluss. Aber hast du versucht, dieses Leben zu besiegen? Hast du alles getan, um dich aus diesem eisernen Ring herauszuwinden? Hast du denn schon vergessen, wie wir bei Nowograd-Wolhynsk siebzehnmal am Tag Attacke geritten und die Stadt trotz alledem schließlich eingenommen haben? Weg mit der Pistole, und niemandem ein Wort darüber! Du musst auch dann zu leben verstehen, wenn das Leben unerträglich wird. Trachte danach, dieses Leben nützlich zu gestalten.
Er erhob sich und ging zum Weg zurück. Ein vorüberfahrender Bergbewohner brachte ihn auf seinem Karren in die Stadt. Dort kaufte er an einer Straßenecke die Lokalzeitung. In ihr wurde eine Versammlung der Parteifunktionäre im Demjan-Bedny-Klub angekündigt. Erst spätnachts kehrte Pawel heim. Er ahnte nicht, dass die Rede, die er dort gehalten hatte, seine letzte Versammlungsrede gewesen sein sollte.
Taja fand keinen Schlaf. Kortschagins lange Abwesenheit beunruhigte sie. Was war mit ihm geschehen? Wo konnte er stecken? Etwas Hartes, Kaltes hatte sie heute in seinen Augen gelesen, die sonst immer so voller Leben waren. Er sprach wenig von sich. Sie fühlte jedoch, dass er Schweres durchmachte.
Die Uhr im Zimmer der Mutter hatte gerade zwei geschlagen, als Taja die Gartenpforte knarren hörte. Sie warf sich eine Jacke über und ging die Tür öffnen. Lolja schlief fest und murmelte irgend etwas im Schlaf.
»Ich war deinetwegen schon unruhig«, flüsterte sie, über Pawels Heimkehr erfreut, als er den Hausflur betrat.
»Bis zu meinem Tode wird mir kein Unglück zustoßen, Tajuscha. Schläft Lolja? Weißt du, ich habe gar keine Lust zu schlafen. Ich möchte dir etwas über den heutigen Tag erzählen. Lass uns in dein Zimmer gehen, damit wir Lolja nicht aufwecken«, sagte er, gleichfalls flüsternd.
Taja zögerte. Durfte sie sich nachts mit ihm unterhalten? Und wenn es die Mutter erfährt, was wird sie von ihr denken? Wie aber soll sie ihm das sagen, ohne ihn zu verletzen? Und was will er ihr sagen? Während sie noch darüber nachdachte, ging sie schon langsam auf ihr Zimmer zu.
»Es handelt sich um folgendes, Taja«, begann Pawel mit gedämpfter Stimme, als sie im dunklen Zimmer einander gegenübersaßen, so dicht, dass sie seinen Atem spürte.
»Mein Leben hat eine solche Wendung genommen, dass es sogar mir ein bisschen sonderbar vorkommt. Die letzten Tage waren nicht leicht für mich. Ich wusste nicht recht, wie ich weiterleben sollte. Noch niemals ist es so dunkel um mich gewesen wie in diesen Tagen. Heute habe ich jedoch mit mir selbst eine ›Politbüro-Sitzung‹ abgehalten und einen sehr wichtigen Beschluss gefasst. Wundere dich nicht, dass ich dich einweihe.«
Er erzählte ihr, was er in den letzten Monaten durchgemacht, und vieles von dem, worüber er draußen im Park so intensiv nachgedacht hatte.
»So steht es also mit mir. Jetzt komme ich aber zum Eigentlichen. Die großen Auseinandersetzungen mit deiner Familie haben erst begonnen. Man muss von hier weg an die frische Luft, möglichst weit weg von diesem Nest. Man muss das Leben von neuem anfangen. Da ich mich nun einmal in diesen Kleinkrieg eingemischt habe, so wollen wir ihn auch zu Ende führen. Du und ich, wir beide haben jetzt ein freudloses Leben. Ich habe mich entschlossen, es wieder auflodern zu lassen. Verstehst du, was ich meine? Willst du meine Freundin, meine Frau werden?«
Taja hatte ihn bisher mit tiefer Erregung angehört. Bei seinen letzten Worten fuhr sie jedoch vor Überraschung jäh zusammen.
»Heute verlange ich keine Antwort von dir, Taja. Überlege dir das alles noch sehr genau. Dir ist wahrscheinlich unverständlich, wie man so mit der Tür ins Haus fallen kann. Alle diese Mätzchen sind überflüssig. Ich gebe dir meine Hand, Mädel, hier hast du sie. Wenn du diesmal vertraust, dann täuschst du dich nicht. Ich habe viel von dem, was du brauchst, und umgekehrt. Ich habe meinen Entschluss bereits gefasst: Unser Bündnis bleibt so lange bestehen, bis du ein fertiger Mensch geworden bist, einer von den Unsrigen. Wenn mir das nicht gelingen sollte, bin ich keinen Heller wert. Bis dahin dürfen wir unser Bündnis nicht lösen. Sobald du dich völlig entwickelt hast, bist du von jeglicher Verpflichtung mir gegenüber frei. Wer weiß, was kommt. Es kann ja möglich sein, dass ich körperlich endgültig zusammenbreche. Vergiss nicht, dass du dann nicht mehr an mich gebunden bist.«
Nachdem er einige Sekunden geschwiegen hatte, fuhr er warm und innig fort:
»Jetzt biete ich dir Freundschaft und Liebe an.« Er hielt ihre Hand fest in der seinen und war so ruhig, als hätte er bereits ihr Einverständnis.
»Und wirst du mich auch nicht verlassen?«
»Mit Worten lässt sich nichts beweisen, Taja. Dir bleibt nur übrig zu glauben, dass Menschen meines Schlages ihre Freunde nicht verraten ….. wenn nur sie mich nicht verraten«, schloss er bitter.
»Ich kann dir heute noch nicht antworten, all das kommt so unerwartet«, erwiderte sie.
Kortschagin erhob sich.
»Leg dich schlafen, Taja, der Morgen naht schon.«
Er ging langsam in sein Zimmer hinüber. Ohne sich auszukleiden, warf er sich auf das Bett und schlummerte sofort ein, kaum dass sein Kopf das Kissen berührt hatte.
In Kortschagins Zimmer lagen auf dem Tisch vor dem Fenster ganze Stapel aus der Parteibibliothek ausgeliehener Bücher, ein Stoß Zeitungen und mehrere voll geschriebene Notizbücher. Im Zimmer standen ein Bett, zwei Stühle und an der Tür, die zu Tajas Zimmer führte, hing eine riesige Karte von China, die mit schwarzen und roten Fähnchen besteckt war. Mit den Genossen aus dem Parteikomitee hatte Kortschagin vereinbart, dass man ihm Parteiliteratur schicken würde, außerdem hatten sie ihm versprochen, dass sich der Leiter der Hafenbibliothek, der größten Bibliothek der Stadt, seiner besonders annehmen würde. Bald erhielt er von dort große Bücherpakete. Lolja sah erstaunt, wie er vom frühen Morgen bis zum Abend, mit kurzen Unterbrechungen nur während des Frühstücks und Mittagessens, las und sich Notizen machte. Den Abend verbrachten sie stets zu dritt in ihrem Zimmer. Kortschagin unterhielt sich dann mit den Schwestern über das Gelesene.
Spät nach Mitternacht sah der Alte, wenn er auf den Hof hinausging, zwischen den Fensterläden des unwillkommenen Mieters stets noch einen Lichtstreifen. Leise, auf den Fußspitzen, schlich er sich dann ans Fenster heran und erspähte durch den Spalt einen über Bücher gebeugten Kopf.
Andere Leute schlafen, und der brennt die ganze Nacht Licht. Geht im Haus herum, als sei er der Herr. Die Mädel sind so gehässig geworden, grübelte der Alte böse und verschwand.
Zum ersten Mal seit acht Jahren hatte Kortschagin so viel freie Zeit und gar keine Pflichten. Und er las mit dem Heißhunger eines Neubekehrten. Acht-
zehn Stunden des Tages saß er über die Bücher gebeugt. Wer weiß, wie sich das auf seine Gesundheit ausgewirkt hätte, wenn Taja nicht eines Tages wie beiläufig gesagt hätte:
»Ich habe meine Kommode an einen anderen Platz geschoben. Die Tür zu deinem Zimmer kann jetzt geöffnet werden. Wenn du mir etwas zu sagen hast, brauchst du nicht erst durch Loljas Zimmer zu gehen.«
Pawel strahlte vor Glück. Taja lächelte ihm freudig zu - der Bund war geschlossen.

Nun sah der Alte in den späten Nachtstunden keinen Lichtschimmer im Eckzimmer seines Mieters mehr, aber der Mutter entging die nur schlecht verhehlte Freude in Tajas Augen nicht. Ein leichter Schatten zeichnete sich unter den von innerem Feuer strahlenden Augen, der von schlaflosen Nächten erzählte. Der Klang der Gitarre und Tajas Lieder waren immer häufiger in der kleinen Wohnung zu hören.
Taja war durch ihre Liebe zur Frau erwacht und litt nun darunter, diese Liebe wie etwas Verbotenes verbergen zu müssen. Jedes Geräusch ließ sie zusammenschrecken, immer vermeinte sie die Schritte der Mutter zu hören. Qualvoll war ihr der Gedanke, was sie der Mutter antworten würde, wenn diese einmal fragen sollte, weshalb sie nachts ihre Zimmertür zuriegle. Pawel merkte, was in ihr vorging, und sprach ihr zärtlich und beruhigend zu:
»Warum fürchtest du dich? Wenn man richtig nachdenkt, sind wir doch eigentlich die Herren hier. Schlafe ruhig. Fremde haben sich in unser Leben nicht einzumischen.«
Sie schmiegte die Wange an Pawels Brust und schlief beruhigt in den Armen des Geliebten ein. Lange lauschte er ihren Atemzügen und lag regungslos da, um ihren ruhigen Schlummer nicht zu stören. Tiefe Zärtlichkeit zu diesem Mädchen, das ihm ihr Leben anvertraut hatte, erfüllte ihn.
Als erste erfuhr die Schwester den Grund für den immerwährenden Glanz in Tajas Augen, und ein Schatten der Entfremdung legte sich zwischen die beiden Schwestern. Auch die Mutter hörte davon, oder eigentlich hatte sie es erraten. Ihr Misstrauen war erwacht. Das hatte sie von Kortschagin nicht erwartet.
»Tajuscha passt nicht zu ihm«, sagte sie eines Tages zu Lolja.
»Was soll daraus werden?«
Unruhige Gedanken quälten sie, doch konnte sie sich nicht entschließen, mit Pawel zu sprechen.
Bei Kortschagin kam viel junges Volk zusammen, so dass es häufig in dem kleinen Zimmer zu eng wurde.
Die Stimmen drangen wie das Gesumm eines Bienenschwarms ans Ohr der Alten. Zuweilen sang man im Chor:

Unwirsch ist's auf unserem Meer,
Stürme brausen Tag und Nacht…..

und Pawels Lieblingslied:

Des Volkes Blut verströmt in Bächen …

Es war ein Zirkel von Arbeiterfunktionären, der sich hier versammelte, mit dessen Leitung Kortschagin beauftragt worden war, nachdem er in einem Brief an das Stadt-Parteikomitee darum gebeten hatte, ihm eine Propagandaarbeit anzuvertrauen.
So verliefen Pawels Tage.
Wieder hielt Kortschagin das Steuer in beiden Händen und gab seinem Leben, das einige scharfe Wendungen vollführt hatte, eine neue Richtung. Er träumte davon, durch sein Studium und die erworbenen Kenntnisse der Literatur wieder einen Platz in den Reihen der Kämpfer einnehmen zu können.
Aber das Leben stellte ihm immer neue Hindernisse in den Weg, und während er ihnen begegnete, dachte er beunruhigt darüber nach, inwieweit sie ihn hindern würden, sein Ziel zu erreichen.
Ganz unerwartet kam aus Moskau der missratene Student George mit seiner Frau an. Er quartierte sich bei seinem Schwiegervater ein, der das Amt eines Notars ausübte, und kam häufig zur Mutter um Geld.
Die Ankunft Georges trug erheblich zur Verschlechterung der Familienbeziehungen bei. Ohne zu zögern, hatte George sofort seines Vaters Partei ergriffen und hetzte, von der sowjetfeindlich gesinnten Familie seiner Frau unterstützt, aus dem Hinterhalt, um Kortschagin - koste es, was es wolle - aus dem Haus hinauszuekeln und Taja von ihm zu trennen.
Zwei Wochen nach Georges Ankunft erhielt Lolja in einem der umliegenden Bezirke Arbeit. Sie verließ mit ihrem Sohn und der Mutter die Stadt. Kortschagin und Taja siedelten in ein abgelegenes Küstenstädtchen über.

Artjom erhielt nur selten von seinem Bruder einen Brief. An den Tagen, an denen er auf seinem Tisch im Stadtsowjet das graue Kuvert mit der bekannten eckigen Handschrift vorfand, verlor er beim Überfliegen der Seiten die ihm eigene Gelassenheit. Und auch diesmal dachte er, während er den Brief öffnete, mit verhaltener Zärtlichkeit:
Ach, Pawluscha, Pawluscha! Wenn wir doch näher beieinander leben könnten; wie gut würden mir deine Ratschläge tun, Bruderherz. Er las:

Artjom, ich möchte Dir erzählen, was ich durchgemacht habe. Solche Briefe wie Dir schreibe ich sonst niemandem. Du kennst mich ja und verstehst meine Worte. Das Leben setzt mir im Kampf um meine Gesundheit recht hart zu.
Mich treffen immer neue Schläge. Kaum habe ich mich von dem einen erholt, da kommt schon ein neuer, noch unbarmherziger als der erste. Das schrecklichste jedoch ist, dass ich machtlos bin, etwas dagegen zu tun. Mein linker Arm versagte den Dienst. Das war ein harter Schlag, doch auch meine Beine wurden immer schlimmer, und ich, der ich mich bisher schon schwer genug innerhalb meiner vier Wände bewegen konnte, schleppe mich jetzt mit Müh und Not vom Bett zum Tisch. Das ist jedoch voraussichtlich noch nicht alles. Was mir das Morgen bringt, weiß ich nicht.
Ich gehe nicht mehr aus dem Haus, sehe nur noch aus dem Fenster ein Stückchen Meer. Kann es denn eine schlimmere Tragödie geben als die eines Menschen, dessen Körper ihm verräterisch den Dienst versagt, eines Menschen mit dem Herzen eines Bolschewiken, der sich danach sehnt zu arbeiten, mit Euch in der an allen Fronten angreifenden Armee zu sein, dort, wo die eiserne Sturmlawine heranrollt? Ich glaube daran, dass ich noch in die Kampfreihen zurückkehren werde, dass in den zum Angriff vorstürmenden Kolonnen auch mein Bajonett nicht fehlen wird. Zweifeln darf ich nicht, habe kein Recht dazu. Zehn Jahre lang haben mich Partei und Jugendverband in der Kunst des Widerstandes erzogen, und auch für mich gelten die Worte: »Es gibt keine Festungen, die die Bolschewiki nicht nehmen könnten.«
Mein Leben besteht jetzt darin, dass ich studiere. Bücher, Bücher und nochmals Bücher. Ich habe viel geschafft, Artjom. Ich habe die Hauptwerke der gesamten klassischen schönen Literatur durchgenommen, habe meine Arbeiten für den ersten Fernkursus der Kommunistischen Universität abgeliefert. Am Abend leite ich einen Zirkel für junge Parteigenossen. Meine Verbindung zur praktischen Arbeit der Organisation geht über diese Genossen. Und dann habe ich Tajuscha, ihr geistiges Wachstum, ihre Entwicklung und dann ihre Liebe, die rührende Zärtlichkeit meiner kleinen Frau. Wir leben sehr gut zusammen. Unsere Wirtschaft ist einfach und unkompliziert - mit den zweiunddreißig Rubel meiner Rente und Tajas Verdienst. Zur Partei geht Taja meinen Weg: Sie hat als Hausangestellte gearbeitet und ist jetzt Geschirrwäscherin in einer Speisehalle (in diesem Städtchen gibt es keine Industrie).
Vor kurzem zeigte mir Taja triumphierend ihre erste Delegiertenkarte von der Frauenabteilung. Das ist für sei kein einfaches Stück Papier. Ich verfolge ihre Entwicklung zum neuen Menschen und helfe ihr dabei, soviel ich kann. Die Zeit wird kommen, da ein Großbetrieb, ein Arbeitskollektiv ihre Ausbildung vollenden werden. Solange wir hier sind, geht sie jedoch den hier einzig möglichen Weg.
Zweimal hat uns Tajas Mutter besucht. Die Mutter zieht, ohne dass sie es selbst weiß, Taja zurück in ein Leben, das aus lauter Kleinigkeiten besteht und das sich nur auf das Persönliche, auf engstirnige Interessen beschränkt. Ich habe mich noch bemüht, Albina zu überzeugen, dass ihre eigenen schweren Erlebnisse keinen Schatten auf den Weg ihrer Tochter werfen dürfen. Aber all dies war vergebens. Ich fühle, dass sich die Mutter eines Tages der Tochter auf ihrem Weg zum neuen Leben in die Quere stellen wird, und dann wird ein Kampf unvermeidlich sein.
Ich drücke Dir fest die Hand.
Dein Pawel

Sanatorium Nr. 5 in Staraja Mazesta. Das zweistöckige Steingebäude steht auf einer in einen Felsen gehauenen Terrasse. Überall ringsum Wald, zickzackartig schlängelt sich der Weg dahin. Die Zimmerfenster sind weit offen, ein leichter Wind bringt den Geruch der Schwefelquellen herauf. Kortschagin ist allein in seinem Zimmer. Morgen werden neue Genossen kommen, dann wird er einen Mitbewohner haben. Er hört hinter dem Fenster Schritte und eine ihm bekannte Stimme. Es unterhalten sich dort einige Leute. Aber wo hat er nur diesen tiefen Bass schon einmal gehört? - Er denkt angestrengt nach und holt dann plötzlich aus der Tiefe seines Gedächtnisses einen längst vergrabenen, jedoch nicht vergessenen Namen hervor: Innokenti Pawlowitsch Ledenew - ja, das ist er und kein anderer. Und fest überzeugt von der Richtigkeit seiner Vermutung, ruft Pawel ihn beim Namen. Eine Minute später sitzt Ledenew bei ihm und schüttelt ihm freudig die Hand.
»Bist also noch am Leben, alter Junge? Nun, was kannst du mir Erfreuliches mitteilen? Du hast also, scheint's, beschlossen, diesmal ernstlich krank zu spielen? Das kann ich nicht billigen, keinesfalls! Du solltest dir an mir ein Beispiel nehmen. Mich wollten die Ärzte auch schon zum alten Eisen werfen, und ich halte mich, ihnen zum Trotz, immer noch auf den Beinen.« Ledenew lachte gutmütig.
Kortschagin fühlte, wie der Freund durch dieses Lachen sein Mitgefühl und seine tiefe Besorgnis verbergen wollte.
Zwei Stunden verbrachten sie in angeregter Unterhaltung. Ledenew erzählte die letzten Moskauer Neuigkeiten. Von ihm erfuhr Kortschagin zum ersten Mal von den wichtigen Beschlüssen, die gerade von der Partei gefasst worden waren - über die Kollektivierung der Landwirtschaft und die Umgestaltung des Dorfes. Gierig sog Pawel seine Worte auf.
»Und ich dachte, dass du irgendwo in deiner Heimat steckst und den Laden schmeißt. Und da plötzlich - so was Dummes! Nun, das hat nichts zu bedeuten, bei mir stand's noch schlimmer, ich war schon ganz ans Bett gefesselt, und, siehst du, ich kann mich wieder bewegen. Es ist jetzt nicht die Zeit für ein geruhsames Leben. Das geht ganz und gar nicht! Ich denke manchmal so bei mir, dass es wohl an der Zeit ist, ein wenig auszuruhen, Atem zu schöpfen. Man ist doch nicht mehr so jung, da kommt's einem schon zuweilen sauer an, so seine zehn bis zwölf Stunden bei der Arbeit zu sitzen. Nun, wenn du dir das so durch den Kopf gehen lässt und dabei beginnst, deine gesamte Tätigkeit zu überprüfen, um wenigstens einen Teil davon ›abzuschieben‹, da ist's immer wieder dieselbe Geschichte. Du fängst an, deine verschiedenen Arbeiten abzuschieben, und versinkst derartig darin, dass du vor zwölf Uhr nachts nicht nach Hause kommst. Je stärker eine Maschine arbeitet, desto schneller drehen sich die Räder, und bei uns kommt alles mit jedem weiteren Tag immer mehr und mehr in Schwung, und so geschieht's also, dass wir Alten jetzt leben müssen wie zu der Zeit, da wir noch jung waren.«
Ledenew fuhr sich mit der Hand über die hohe Stirn und sagte mit väterlichem Interesse:
»Na, und jetzt erzähl mal, was es bei dir gibt.«
Gespannt lauschte er Pawels Erzählung über seine Erlebnisse, und Pawel fing des Öfteren einen verständnisvollen warmen Blick auf.
Im Schatten der weitverzweigten Bäume, in einer Ecke der Terrasse, saß eine Gruppe von Kurgästen. Die buschigen Augenbrauen fest zusammengezogen, las ein Mann an einem kleinen Tisch die »Prawda«. Sein schwarzes Russenhemd, die abgetragene Schirmmütze, das braungebrannte, hagere, seit langem nicht rasierte Gesicht mit den tiefliegenden hellblauen Augen - in alldem erkannte er den alten Kumpel Tschernokossow. Zwölf Jahre waren vergangen, seit dieser Mann, dem man die Leitung eines ganzen Gebietes anvertraute, seinen Hammer beiseite gelegt hatte, und doch schien es, als sei er eben erst aus der Grube gekommen. Das lag an seiner Art, sich zu benehmen, zu sprechen, ja, sogar an seiner Ausdrucksweise.
Tschernokossow war Leitungsmitglied des Gebiets-Parteikomitees und Mitglied der Regierung. Eine qualvolle Krankheit, der Brand im Bein, untergrub seine Kräfte. Tschernokossow hasste sein krankes Bein, das ihn gezwungen hatte, jetzt schon beinah ein halbes Jahr das Bett zu hüten.
Ihm gegenüber saß, nachdenklich rauchend, Alexandra Alexejewna Shigirewa. Sie war siebenunddreißig Jahre alt und schon seit neunzehn Jahren Parteimitglied. Die »Metallarbeiterin Schurotschka«, wie sie einst die Petersburger Illegalen genannt hatten, war schon als ganz junges Mädchen in sibirischer Verbannung gewesen.
Der dritte am Tisch war Pankow. Seinen schönen Kopf mit dem antiken Profil etwas geneigt, las er in einer deutschen Zeitschrift und rückte von Zeit zu Zeit seine große Hornbrille zurecht. Es mutete sonderbar an, wie dieser Dreißigjährige Athlet mühsam sein Bein nachschleppte, das ihm nicht mehr gehorchen wollte. Michail Wassiljewitsch Pankow, Redakteur, Schriftsteller und Mitarbeiter des Volksbildungskommissariats, hatte ganz Europa bereist, beherrschte mehrere Fremdsprachen, besaß ausgedehnte Kenntnisse auf verschiedenen Gebieten der Wissenschaft, und sogar der sonst sehr zurückhaltende Tschernokossow begegnete ihm mit großer Achtung.
»Das ist also der Genosse, mit dem du in einem Zimmer lebst?« fragte die Shigirewa leise Tschernokossow und deutete mit dem Kopf auf den Krankenwagen, in dem Kortschagin saß.
Tschernokossow legte die Zeitung beiseite, sein Gesicht hellte sich plötzlich auf.
»Ja, das ist Kortschagin. Ich muss dich mit ihm bekannt machen, Schura. Seine Krankheit hat ihm allerlei Hindernisse in den Weg gelegt, sonst würde er noch an so manchen Engpässen seinen Mann stehen können. Er ist einer von den Jungkommunisten der ersten Generation. Kurz, wenn wir den Burschen ein wenig, unterstützen - und ich habe die feste Absicht, das zu tun -, so wird er noch arbeiten können.« Pankow lauschte seinen Worten.
»Was hat er denn?« fragte ebenso leise Schura Shigirewa.
»Die Folgen des Jahres zwanzig. Bei ihm ist was mit dem Rückgrat nicht in Ordnung. Ich habe hier mit dem Arzt gesprochen, der befürchtet, dass diese Verletzung zu einer völligen Lähmung führen wird. So eine verfluchte Geschichte!«
»Ich werde ihn sofort herbringen«, sagte Schura. Das war der Anfang ihrer Bekanntschaft. Pawel ahnte damals noch nicht, dass ihm die Shigirewa und Tschernokossow bald nahe und teure Freunde und in den bevorstehenden schweren Krankheitsjahren seine treuesten Stützen werden sollten.

Das Leben ging seinen alten Lauf. Taja arbeitete, Kortschagin lernte. Kaum hatte er die Zirkelarbeit aufgenommen, als sich plötzlich ein neues Unglück heranschlich. Die Paralyse lähmte ihm die Beine. Jetzt gehorchte ihm nur noch der rechte Arm. Er biss sich die Lippen blutig, als er nach vergeblichen Bemühungen begriff, dass er sich nicht mehr werde bewegen können. Tapfer
verbarg Taja vor ihm die Verzweiflung und den Kummer über ihre Ohnmacht, ihm nicht helfen zu können. Schuldbewusst lächelnd sagte er zu ihr:
»Tajuscha, wir müssen uns trennen. Das war in unserer Vereinbarung nicht vorgesehen. Ich werde diese Sache noch heute gründlich überdenken.«
Sie ließ ihn nicht ausreden. Es war schwer, die Tränen zurückzuhalten. Krampfhaft schluchzend drückte sie Pawels Kopf an ihre Brust.
Artjom erfuhr von dem neuen Unglück, das den Bruder betroffen hatte. Er schrieb der Mutter, und Maria Jakowlewna ließ alles im Stich und fuhr zu ihrem Sohn. Sie lebten jetzt zu dritt. Die alte Frau befreundete sich rasch mit Taja. Pawel setzte sein Studium fort.
Eines Abends, an einem unfreundlichen Wintertag, brachte Taja den Beleg ihres ersten Sieges - den Ausweis eines Mitglieds des Stadtsowjets. Von da an sah sie Pawel immer seltener. Von der Sanatoriumsküche, in der sie als Geschirrwäscherin beschäftigt war, ging Taja in die Frauenabteilung, in den Sowjet, und kam erst spätabends müde, jedoch voller Eindrücke nach Hause. Es näherte sich der Tag ihrer Aufnahme als Kandidat in die Partei. In großer Erregung bereitete sie sich darauf vor, als sie ein neuer Schlag traf. Pawels Krankheit tat ihr Werk. Unerträglich brennend, begann ein Entzündungsprozess im rechten Auge, der dann auch auf das linke übergriff. Ein dunkler Schleier bedeckte alles um ihn herum.
Lautlos hatte sich das in seiner Unüberwindlichkeit doppelt schreckliche Hindernis eingestellt und versperrte ihm den Weg. Die Mutter und Taja waren in grenzenloser Verzweiflung, er aber fasste ruhig den Entschluss:
Man muss abwarten. Wenn es wirklich keine Möglichkeit zum Vorwärtskommen gibt, wenn all das, was ich getan habe, um zur Arbeit zurückkehren zu können, durch die Blindheit zunichte gemacht wird und ich mich niemals wieder einreihen kann - dann muss Schluss gemacht werden.
Kortschagin schrieb an seine Freunde. Sie antworteten ihm und ermahnten ihn, stark zu sein und den Kampf fortzusetzen.
In diesen für ihn so schweren Tagen teilte ihm Taja eines Tages freudig erregt mit:
»Pawluscha, ich bin Kandidat der Partei.«
Pawel lauschte ihrem Bericht, wie die Zelle die neue Genossin in ihre Reihen aufgenommen hatte, und erinnerte sich seiner eigenen ersten Schritte in der Partei.
»Und so, Genossin Kortschagina, sind wir zwei jetzt eine kommunistische Fraktion«, sagte er und drückte ihr die Hand.
Am nächsten Tag übermittelte er dem Parteisekretär des Bezirks brieflich die Bitte, ihn zu besuchen. Am Abend hielt vor Kortschagins Haus ein dreckbespritztes Auto, und Wolmer, ein bejahrter Lette mit einem üppigen Backenbart, schüttelte Pawel die Hand.
»Na, wie geht's? Was treibst du denn da für Unfug? Los, steh auf, wir wollen dich sofort zur Landarbeit schicken«, sagte er lachend.
Der Bezirkssekretär verbrachte zwei Stunden bei Kortschagin und vergaß sogar die für den Abend angesetzte Sitzung. Im Zimmer auf und ab gehend, hörte sich der Lette Pawels erregte Worte an und sagte schließlich:
»Red doch nicht immer vom Zirkel. Du musst dich ordentlich ausruhen, und dann muss man sehen, wie es um deine Augen steht. Vielleicht ist noch nicht alles verloren. Wäre es nicht gut, dich nach Moskau zu schicken? Denk mal darüber nach …« Kortschagin unterbrach ihn:
»Ich brauche Menschen, Genosse Wolmer, lebendige Menschen! Ich halte es in der Einsamkeit nicht aus. Mehr als je brauche ich jetzt Menschen um mich. Schick mir die Jungen, möglichst noch ganz unreife Burschen. Ich weiß, die schwenken bei dir in den Dörfern gar zu leicht nach links ab, zur Kommune -in der Kollektivwirtschaft fühlen sie sich beengt. Denn die Jungkommunisten, die schlagen leicht über die Stränge, wenn man nicht aufpasst. Ich kenne das!«
»Woher hast du denn das erfahren?« fragte Wolmer erstaunt.
»Erst heute haben wir derartige Nachrichten aus dem Bezirk bekommen.«
Pawel lächelte.
»Du wirst dich vielleicht an meine Frau erinnern? Man hat sie gestern als Kandidatin in die Partei aufgenommen. Sie hat mir das alles erzählt.«
»Die Geschirrwäscherin Kortschagina? Das ist deine Frau? Und ich habe es gar nicht gewusst!« Er dachte kurz nach und schlug sich plötzlich mit der Hand an die Stirn.
»Jetzt weiß ich, wen wir dir schicken - Lew Bersenew. Einen besseren Genossen kannst du gar nicht bekommen. Ihr werdet gut zueinander passen. Seid beide so etwas wie zwei Hochfrequenz-Transformatoren. Ich war nämlich früher mal Elektromonteur, daher dieser Vergleich. Und dann wird Lew für dich auch einen Radioapparat zusammenbasteln, er ist auf diesem Gebiet ein Meister. Ich hocke selber häufig bis zwei Uhr nachts bei ihm mit den Hörern an den Ohren. Meine Frau hat sogar schon Verdacht geschöpft: ›Wo treibst du dich denn neuerdings nachts immer so lange herum, alter Kunde?‹«
Kortschagin erkundigte sich lächelnd:
»Wer ist denn dieser Bersenew?«
Von dem Hinundherlaufen ermüdet, ließ sich Wolmer auf einen Stuhl fallen und erzählte:
»Bersenew ist unser Notar. Er ist aber grad so ein Notar, wie ich eine Balletttänzerin bin. Vor noch nicht sehr langer Zeit war Lew ein maßgebender Parteiarbeiter. Seit 1912 steht er in der revolutionären Bewegung, und seit der Oktoberrevolution ist er Parteimitglied. In den Bürgerkriegsjahren hatte er einen hohen Posten im Armeestab inne, in der 2. Reiterarmee war er Mitglied des Revolutionstribunals, zermalmte die weiße Brut im Kaukasus. Auch bei Zarizyn war er und an der Südfront. Im Fernen Osten stand er an der Spitze des Obersten Militärgerichts der Republik. Hat so manches durchgemacht. Schließlich packte ihn die Tuberkulose. Er ist vom Fernen Osten hergekommen. Hier im Kaukasus ist er Vorsitzender des Gouvernementsgerichts und stellvertretender Vorsitzender des Landesgerichts. Wegen seiner Lunge ging es mit ihm immer mehr bergab. Jetzt, wo er schon auf dem letzten Loch pfeift, haben ihn die Ärzte hergeschickt. Siehst du, deshalb haben wir auch so einen ungewöhnlichen Notar. Er hat hier eine ruhige Arbeit, da geht's mit ihm einigermaßen. Dann hat man ihm allmählich die Leitung einer Zelle übertragen, dann wurde er ins Bezirkskomitee gewählt, einen Kursus für politischen Unterricht hat man ihm noch aufgehalst, dazu die Kontrollkommission; er ist ein unersetzliches Mitglied aller verantwortlichen Kommissionen für die kompliziertesten und kniffligsten Angelegenheiten. Außerdem ist er Jäger und schließlich, wie gesagt, leidenschaftlicher Radiobastler. Und obgleich ihm eine Lunge fehlt, kann man sich kaum vorstellen, dass er krank ist. Er strotzt vor Energie. Sterben wird er sicherlich auch irgendwo unterwegs vom Bezirkskomitee zum Gericht.«
Pawel unterbrach ihn schroff:
»Warum bürdet ihr ihm derart viel auf? Er arbeitet doch bei euch hier mehr als früher.«
Wolmer kniff die Augen zusammen und schaute Kortschagin von der Seite an:
»Und wenn wir dir jetzt einen Zirkel oder sonst was geben, dann wird Lew sagen: ›Warum halst ihr ihm so viel auf?‹ Er steht auf dem Standpunkt: Besser ein Jahr heißer Arbeit, als fünf Jahre krank dahinzuvegetieren. Die Menschen werden wir erst schonen können, wenn wir den Sozialismus aufgebaut haben.«
»Das stimmt. Auch ich bin dafür, ein Jahr voller Arbeit gegen fünf Jahre Dahinvegetieren einzutauschen. Trotzdem sind wir manchmal zu verschwenderisch mit unseren Kräften. Und darin liegt, wie ich jetzt begriffen habe, weniger Heroismus als Spontaneität und Verantwortungslosigkeit. Erst jetzt habe ich angefangen zu begreifen, dass ich keinerlei Recht hatte, so brutal mit meiner Gesundheit umzugehen. Es hat sich herausgestellt, dass das gar kein Heroismus war. Vielleicht hätte ich ohne dieses Spartanertum noch einige Jahre durchgehalten. Kurz, die Kinderkrankheit, der Radikalismus - das ist eine der Hauptgefahren in meiner Lage.«
So redet er jetzt, aber stell ihn auf die Beine, und er wird alles auf der Welt vergessen, dachte Wolmer, aber er schwieg.
Am Abend des nächsten Tages kam Lew zu Pawel. Sie trennten sich erst um Mitternacht. Lew verließ seinen neuen Freund mit einem Gefühl, als sei er einem Bruder begegnet, den er vor vielen Jahren verloren hatte.
Am nächsten Morgen kletterten Leute auf dem Dach herum und montierten eine Antenne, während Lew drinnen in der Wohnung hantierte und dabei interessante Begebenheiten aus seinem Leben erzählte. Pawel konnte ihn nicht sehen, aus Tajas Schilderung wusste er jedoch, dass Lew blond war, helle Augen hatte, dass er schlank war und sich rasch bewegte. Genauso hatte ihn sich Pawel vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an vorgestellt.
In der Dämmerung leuchteten im Zimmer drei Radioröhren auf. Lew überreichte Pawel feierlich die Kopfhörer. Im Äther herrschte ein Chaos von Tönen. Die Morseapparate aus dem Hafen zwitscherten wie die Vögelchen, irgendwo - offenbar nicht weit von der Küste entfernt - peilte sie der Funker eines Dampfers an. Und in diesem Gewirr von Geräuschen und Tönen fand das Variometer eine ruhige und sichere Stimme und holte sie näher heran.
»Achtung! Achtung! Hier spricht Moskau …«
Der kleine Apparat fing mit seiner Antenne sechzig Sender der Welt auf. Das Leben, das Pawel abseits geschleudert hatte, drang durch die stählerne Membran zu ihm ins Krankenzimmer, und er spürte seinen mächtigen Arm.
Als der ermüdete Bersenew die Freude in Pawels Gesicht sah, lächelte er befriedigt.
In dem großen Haus liegt alles in tiefem Schlaf. Unruhig murmelt Taja irgend etwas im Traum vor sich hin. Sie kommt jetzt immer erst spätabends nach Haus, erschöpft und durchfroren. Je tiefer sie in die Arbeit eindringt, desto seltener hat sie freie Abende, und Pawel erinnert sich an Bersenews Worte:
Wenn ein Bolschewik eine Frau hat, die Parteigenossin ist, so sehen sich beide selten. Das hat zwei Vorteile: Sie werden einander nicht überdrüssig, und zum Zanken bleibt ihnen auch keine Zeit!
Was konnte er dagegen einwenden? Das war zu erwarten. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da Taja ihm all ihre Abende widmete. Damals gab es mehr Wärme, mehr Zärtlichkeit. Aber während sie eben damals nur seine Freundin und seine Frau gewesen war, war sie jetzt seine Schülerin und Parteigenossin.
Er begriff, dass Taja, je weiter sie in ihrer Entwicklung fortschritt, immer weniger Zeit für ihn haben würde, und er nahm das als etwas Selbstverständliches hin.
Pawel wurde die Leitung eines Zirkels übertragen.
Und wieder wurden im Hause die Abende lebhaft. Die Stunden, die Pawel mit der Jugend verbrachte, erfüllten ihn mit neuem und zuversichtlichem Mut.
In der übrigen Zeit konnte ihn die Mutter kaum von den Kopfhörern wegbringen, um ihm die Mahlzeiten zu reichen.
Das Radio gab ihm das, was ihm die Blindheit genommen hatte: die Möglichkeit zu lernen. Und dieser, keine Hindernisse kennende Drang ließ ihn die qualvollen Schmerzen des immer noch fiebernden Körpers, das Brennen in den Augen und das ganze harte, ihm so ungnädige Leben vergessen.
Als Pawel im Rundfunk von den Leistungen der heldenhaften Magnitogorsker Jugend hörte, die unter dem Banner des Komsomol die Kortschaginsche Generation abgelöst hatte, war er überglücklich.
Im Geist erlebte er die bitteren Uralfröste und die Schneestürme mit, die die Menschen wie Rudel toller Wölfe überfielen. Der Wind heulte, aber Nacht und Schneesturm trotzend, setzte ein Trupp Komsomolzen der zweiten Generation beim Schein der Bogenlampen Glasscheiben in die Dächer der Riesenbauten ein, um die ersten Gebäude dieses gigantischen Kombinats vor Schnee und Kälte zu schützen. Winzig klein schien dagegen der Streckenbau im Wald, bei dem die erste Generation der Kiewer Jungkommunisten einst gegen den Schneesturm gekämpft hatte. Das Land war gewachsen, gewachsen waren auch die Menschen.
Am Dnepr durchbrach das Wasser die stählernen Dämme und überflutete Maschinen und Menschen. Abermals waren es Jungkommunisten, die sich den Naturgewalten entgegenstemmten und nach erbittertem zweitägigem Kampf die entfesselten Elemente wieder in ihre stählernen Schranken zurücktrieben. In diesem grandiosen Kampf marschierte die neue Generation der Komsomolzen an der Spitze. Freudig vernahm Pawel unter den Namen der Helden einen ihm vertrauten Namen: Ignat Pankratow.

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