SECHSTES KAPITEL
In dem großen alten Haus war nur ein verhängtes Fenster erleuchtet. Im Hof bellte der Kettenhund Tresor in mächtigem Bass.
Tonja vernahm halb im Schlummer die Stimme der Mutter:
»Nein, sie schläft nicht. Kommen Sie herein, Lisa.« Die leichten Schritte und die stürmische Umarmung der Freundin verscheuchten den Schlaf. Tonja lächelte müde.
»Gut, Lisa, dass du gekommen bist - bei uns herrscht große Freude. Gestern hat Papa die Krise überstanden, und heute schläft er den ganzen Tag ruhig. Mama und ich, wir haben uns ebenfalls nach den schlaflosen Nächten ausgeruht. Erzähl alle Neuigkeiten, Lisa.« Tonja zog die Freundin zu sich aufs Sofa.
»Oh, es gibt sehr viele Neuigkeiten! Einen Teil davon kann ich nur dir erzählen.« Lisa lachte, indem sie schelmisch zu Jekaterina Michailowna hinüberblickte.
Tonjas Mutter, trotz ihrer sechsunddreißig Jahre eine Dame mit den lebhaften Bewegungen eines jungen Mädchens, mit klugen grauen Augen und einem nicht gerade schönen, aber angenehmen, energischen Gesicht, lächelte.
»Ich werde euch gern allein lassen, aber erst erzählen Sie die Neuigkeiten, die alle hören dürfen«, scherzte sie und rückte einen Stuhl zum Sofa.
»Die erste Neuigkeit - wir werden nicht mehr lernen. Der Schulrat hat beschlossen, der siebenten Klasse das Abgangszeugnis auszuhändigen. Ich freue mich sehr«, erzählte Lisa lebhaft.
»Ich habe diese Algebra und Geometrie so satt! Wozu die ganze Büffelei? Die Jungen werden vielleicht weiterlernen, obwohl sie noch nicht wissen, wo. Überall Fronten, Kämpfe. Entsetzlich … Uns wird man verheiraten, und von der Ehefrau wird keinerlei Algebra verlangt werden.« Bei diesen Worten lachte Lisa.
Nachdem Jekaterina Michailowna eine Weile mit den Mädchen gesessen hatte, zog sie sich in ihr Zimmer zurück.
Lisa rückte näher zu Tonja heran, umarmte die Freundin und erzählte ihr tuschelnd über den Zusammenstoß am Kreuzweg.
»Und stell dir meine Verwunderung vor, Tonetschka, als ich in dem Befreier... was meinst du, wen erkannte?«
Tonja, die neugierig lauschte, zuckte verständnislos mit den Schultern.
»Kortschagin!« platzte Lisa heraus. Tonja fuhr zusammen.
»Kortschagin?« brachte sie mit bebenden Lippen hervor. Lisa, mit dem erreichten Effekt höchst zufrieden, beschrieb bereits den Streit mit Viktor.
Von ihrer Schilderung hingerissen, bemerkte Lisa nicht, wie blass Tonja geworden war, wie ihre feinen Finger nervös am Gewebe der blauen Bluse zupften. Lisa ahnte nicht, wie unruhig sich Tonjas Herz zusammenkrampfte, sie ahnte nicht, weshalb die dichten Wimpern der schönen Augen so unruhig aufzuckten.
Tonja hörte schon nicht mehr auf die Erzählung vom betrunkenen Kommandanten, sie hatte nur einen Gedanken: Viktor Leszczynski weiß, wer der Täter war. Wozu hatte ihm Lisa das erzählt? Und unwillkürlich sprach sie diesen Gedanken laut aus.
»Was denn erzählt?« fragte Lisa verständnislos.
»Warum hast du Leszczynski von Pawluscha, ich meine von Kortschagin erzählt? Er wird ihn doch verraten … «.«
»O nein! Das glaube ich nicht. Was für ein Interesse hat er schließlich daran?« entgegnete Lisa.
Tonja fuhr mit einem Ruck hoch.
»Du verstehst das nicht, Lisa! Er und Kortschagin sind Feinde, und dazu kommt noch ein Umstand … Du hast einen großen Fehler begangen, dass du Viktor von Pawluscha erzählt hast.«
Lisa merkte erst jetzt Tonjas Erregung, und dieses »Pawluscha«, das ihr zufällig entschlüpft war, verriet Lisa etwas, was sie nur dunkel geahnt hatte.
Unwillkürlich fühlte sie sich schuldig und verstummte verlegen. Also ist es doch wahr, dachte sie. Sonderbar, bei Tonja plötzlich so ein leidenschaftliches Interesse, und für wen denn? Für einen einfachen Arbeiter … Sie hätte sehr gern dieses Thema erörtert, beherrschte sich aber. Sie suchte ihre Schuld irgendwie gutzumachen und ergriff Tonjas Hände.
»Du bist sehr aufgeregt, Tonetschka?«
Tonja antwortete zerstreut:
»Nein, vielleicht ist Viktor anständiger, als ich annehme.«
Nachdem Tonja ihre Freundin hinausbegleitet hatte, stand sie lange allein da und blickte, an die Gartenpforte gelehnt, auf den dunklen Streifen des Weges, der zur Stadt führte. Der Wind hauchte ihr seinen von Frühlingsfäulnis gesättigten feuchtkalten Atem ins Gesicht. In der Ferne zwinkerten gleich mattroten Pupillen die Fensterchen der Stadthäuser. Und eins dieser Dächer dort beherbergte ihn, den rebellischen Kameraden, der die ihm drohende Gefahr nicht ahnt. Und vielleicht hat er sie schon längst vergessen. Wie viele lange Tage sind schon verstrichen seit ihrer letzten Begegnung? Er war damals im Unrecht gewesen, aber das alles ist ja schon längst nicht mehr wichtig. Morgen wird sie ihn sehen, und diese so erregend schöne Freundschaft wird von neuem beginnen. Das wird bestimmt sein, Tonja weiß es genau. Wenn nur die Nacht ihn nicht verrät. Die Nacht scheint so böse, so unheildrohend, als würde sie heimlich lauernd warten ….. Kalt ist es …
Nachdem Tonja noch einen letzten Blick auf den Weg geworfen hatte, trat sie ins Haus. Im Bett hüllte sie sich in ihre Decke, schlummerte mit dem Gedanken ein: Wenn nur die Nacht ihn nicht verrät…!
Früh am Morgen, als im Haus noch alles schlief, erwachte Tonja und kleidete sich rasch an. Leise, um niemanden zu wecken, schlich sie auf den Hof hinaus, band Tresor, den großen zottigen Hund, los und ging mit ihm in die Stadt.
Gegenüber dem Haus, in dem Kortschagin wohnte, blieb sie einen Augenblick unschlüssig stehen. Dann stieß sie die Pforte auf, trat in den Hof. Tresor lief voran und wedelte mit dem Schwanz …..
An diesem frühen Morgen kehrte Artjom aus dem Dorf zurück. Er kam auf einem Fuhrwerk zusammen mit dem Schmied, bei dem er gearbeitet hatte. Er lud sich den Mehlsack, den er sich verdient hatte, auf die Schultern und ging über den Hof. Ihm folgte der Schmied, der die übrigen Habseligkeiten trug. Vor der geöffneten Tür warf Artjom den Sack ab und rief:
»Pawka!«
Aber es kam keine Antwort.
»Schlepp das alles ins Haus, worauf wartest du denn?« sagte der herankommende Schmied.
Artjom legte seine Siebensachen in die Küche, trat ins Zimmer und erstarrte. Alles war durchstöbert, das Unterste zuoberst gekehrt, alte Lumpen lagen kunterbunt auf der Diele umher.
»Verflucht noch mal«, brummte Artjom verständnislos und sah den Schmied an.
»Ja, ein rechtes Durcheinander«, bestätigte jener.
»Wo steckt bloß der Junge?« Artjom begann bereits ärgerlich zu werden.
Aber die Wohnung war leer und niemand da, den man fragen konnte. Der Schmied verabschiedete sich und fuhr weiter.
Artjom ging in den Hof und schaute sich nach allen Seiten um. Was ist bloß geschehen? Die Wohnung steht offen, Pawka ist fort. Artjom hörte ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Vor ihm stand, mit gespitzten Ohren, ein riesiger Hund. Von der Pforte her kam ein unbekanntes Mädchen auf das Haus zu.
»Ich möchte Pawel Kortschagin sprechen«, sagte sie halblaut und musterte Artjom.
»Ich möchte ihn auch sprechen. Weiß der Teufel, wo der steckt! Ich bin eben angekommen, die Wohnung steht offen, und er ist nicht da. Und Sie kommen zu ihm, ja?« wandte er sich an das Mädchen.
Sie antwortete mit einer Frage:
»Sie sind Kortschagins Bruder - Artjom?«
»Ja, was ist denn?«
Aber das Mädchen blickte, ohne ihm zu antworten, besorgt auf die offen stehende Tür. Warum bin ich bloß nicht schon gestern gekommen? Sollte es stimmen? Sollte es wirklich stimmen …? Und der Druck in der Brust wurde noch schwerer.
»Sie haben die Wohnung offen vorgefunden, und Pawel war nicht da?« fragte sie Artjom, der sie verwundert betrachtete.
»Was wollen Sie eigentlich von Pawel?«
Tonja ging dichter an ihn heran, blickte sich rasch um und sagte stockend:
»Ich weiß es nicht genau, aber wenn Pawel nicht zu Haus ist, so ist er verhaftet.«
»Warum?« fragte er.
Artjom zuckte nervös auf.
»Gehen wir ins Haus«, meinte Tonja.
Schweigend hörte ihr Artjom zu. Als sie ihm alles erzählt hatte, was sie wusste, war er ganz verzweifelt.
»Verdammte Schweinerei! Das hat gerade noch gefehlt!« murmelte er niedergeschlagen.
»Jetzt verstehe ich auch, warum im Zimmer so ein Wirrwarr herrscht. Der Teufel muss hier seine Hände im Spiel haben … Wo soll man ihn jetzt suchen? Und Sie, Fräulein, wer sind Sie?«
»Ich bin die Tochter des Försters Tumanow. Ich kenne Pawel.«
»So, so«, murmelte Artjom unbestimmt.
»Habe extra Mehl gebracht, um den Jungen etwas zu füttern, und da haben wir die Bescherung … «.«
Tonja und Artjom blickten einander schweigend an.
»Ich gehe. Sie werden ihn vielleicht finden«, sagte Tonja leise und verabschiedete sich von Artjom.
»Abends werde ich zu Ihnen kommen, und Sie erzählen mir dann.«
Artjom nickte stumm.
Auf dem Rand eines alten, abgenutzten Diwans saß eine junge Bäuerin, die Hände auf die Knie gestützt, und starrte geistesabwesend auf den schmutzigen Fußboden.
Eine Zigarette im Mundwinkel, beendete der Kommandant gerade die letzte Zeile seines Schreibens und schnörkelte unter dem Stempel »Kommandant der Stadt Schepetowka« behaglich seine Unterschrift mit dem affektierten Häkchen am Schluss. In der Tür klirrten Sporen. Der Kommandant hob den Kopf.
Vor ihm stand Salomyga. Er trug den Arm in der Binde.
»Wie kommst du denn hier hereingeschneit?« begrüßte ihn der Kommandant.
»Hm, schön hereingeschneit! Die Hand hat mir einer aus dem Bohun-Regiment bis auf den Knochen zerschlagen!«
Ohne die junge Frau zu beachten, stieß Salomyga einen grässlichen Fluch aus.
»Und jetzt bist du etwa hierher gekommen, um dich zu erholen?« fragte der Kommandant ironisch.
»Erholen werden wir uns im Jenseits. An der Front geht's hart auf hart, da fließt Blut.«
Der Kommandant unterbrach ihn und wies auf das Mädchen.
»Wir sprechen lieber nachher darüber.«
Salomyga ließ sich schwerfällig auf einen Schemel fallen und nahm seine Mütze ab, auf deren Kokarde ein emaillierter Dreizack zu sehen war - das Staatsemblem der so genannten »Ukrainischen Volksrepublik«.
»Golub schickt mich«, begann er halblaut.
»Bald kommt eine Schützendivision der Sitsch-Leute an. Überhaupt wird hier in der Stadt allerhand los sein, ich soll gewissermaßen Ordnung schaffen. Vielleicht kommt der Hauptataman selber und bringt irgendeinen ausländischen Vogel mit, so dass hier niemand von der ›Lebenserleichterung‹ reden soll... Was schreibst du da eigentlich?«
Der Kommandant schob die Zigarette in den anderen Mundwinkel.
»Ich habe da so einen niederträchtigen Halunken zu fassen gekriegt, einen Rotzkerl. Weißt du, uns war eben der Shuchrai in die Hände gefallen, der -weißt du noch? -, der die Eisenbahner gegen uns aufgehetzt hat.«
»Na und?« Salomyga rückte interessiert näher.
»Na, und denk dir, Omeltschenko, dieser blöde Stationskommandant, schickt uns den Kerl mit nur einem einzigen Kosaken als Geleit, und dieser Bursche, den ich da sitzen habe, hat ihm am helllichten Tag zur Flucht verholfen. Sie haben den Kosaken entwaffnet, ihm die Zähne eingeschlagen und sich aus dem Staub gemacht. Der Shuchrai ist natürlich längst über alle Berge, aber diesen anderen Burschen da haben wir zu fassen bekommen. Da, lies mal die Akte durch.« Er schob Salomyga zahlreiche Schriftstücke hin.
Dieser durchblätterte flüchtig mit der gesunden Linken die Papiere. Dann starrte er den Kommandanten an.
»Und du hast nichts aus ihm herausgekriegt?« Nervös schob der Kommandant seine Mütze zurecht.
»Fünf Tage schlage ich mich schon mit diesem Kerl herum und kriege kein Wort aus ihm heraus. ›Ich weiß von nichts‹, sagt er, ›habe niemanden befreit!‹ Ein ausgemachter Bandit. Verstehst du, er ist sogar von dem Geleitsoldaten erkannt worden, fast hätte der ihn an Ort und Stelle erwürgt. Ich musste ihn mit Gewalt von ihm losreißen.
Omeltschenko hat dem Kosaken wegen des Geflüchteten fünfundzwanzig mit dem Ladestock verabreichen lassen. Kannst dir also vorstellen, was der für eine Wut hatte.
Den Burschen noch länger hier zu behalten, hat keinen Sinn. Ich schicke das ganze Material an den Stab - hoffentlich erlaubt man uns, ihn zu erledigen.«
Salomyga spuckte verächtlich aus.
»Hätte ich den Kerl in meinen Fingern, da hätte er schon längst das Sprechen gelernt. Das Verhören ist natürlich nichts für einen Popensohn. Was für einen Kommandanten gibt schon ein Seminarist ab? Hast du ihn gehörig mit dem Ladestock bearbeitet?«
Der Kommandant brauste auf:
»Du nimmst dir wirklich zuviel heraus. Deine Witze kannst du für dich behalten. Hier bin ich Kommandant, und ich bitte mir aus, misch dich nicht in meine Angelegenheiten.«
Salomyga blickte den wütenden Kommandanten an und lachte los:
»Haha .…. blas dich nur nicht so auf, du Popensöhnchen, könntest sonst noch aus der Hülle platzen. Der Teufel soll dich holen! Sag du mir lieber, wo man hier ein paar Flaschen Selbstgebrannten kriegen kann!«
Der Kommandant grinste.
»Den verschaff ich dir schon.«
»Und mit diesem da« - Salomyga wies mit dem Finger auf die Akte -, »wenn du willst, dass sie ihn kaltmachen, so ändere sein Alter von sechzehn auf achtzehn Jahre um.. Häng da einfach einen Kringel dran, da, an dieser Stelle, sonst werden sie die Sache möglicherweise nicht bestätigen.«
In dem Lagerraum waren sie zu dritt. Ein bärtiger Alter in schäbigem Kaftan lag auf der Pritsche und hatte die in breiten Leinenhosen steckenden mageren Beine angezogen. Man hatte ihn eingesperrt, weil aus seiner Scheune das Pferd eines bei ihm einquartierten Petljura-Manns verschwunden war. Eine ältere Frau mit listigen Diebsäuglein und spitzem Kinn hockte auf dem Fußboden. Sie war eine Schnapsbrennerin, die beschuldigt wurde, Uhren und andere Wertgegenstände gestohlen zu haben. In einem Winkel unter dem Fenster, den Kopf auf seiner zerknüllten Mütze, lag wie bewusstlos Pawel Kortschagin.
Ein junges Mädchen in buntem Kopftuch, das sie nach Bäuerinnenart umgebunden hatte, mit weit aufgerissenen erschrockenen Augen, wurde in den Lagerraum gebracht.
Zögernd blieb sie ein paar Augenblicke an der Tür stehen, dann setzte sie sich neben die Schnapsbrennerin.
Neugierig musterte diese die Neue und fragte, die Worte heraussprudelnd:
»Dich haben sie also auch eingesperrt, Mädel?«
Als keine Antwort erfolgte, forschte sie weiter:
»Wofür hat man dich denn festgenommen? Hast du auch was mit Selbstgebranntem zu tun gehabt?«
Die junge Bäuerin stand auf, blickte das aufdringliche Weib an und sagte leise:
»Nein, man hat mich wegen meines Bruders verhaftet.«
»Und was ist mit dem los?« bohrte die Frau weiter.
Nun mischte sich der Alte ein.
»Was quälst du sie? Ihr ist jetzt vielleicht zum Weinen zumute, und du musst da herum quatschen!«
Das Weib wandte sich schnell nach der Pritsche um:
»Was hast du mir schon für Vorschriften zu machen? Spreche ich etwa mit dir?«
Der Alte spuckte aus.
»Und ich sage dir, lass sie in Frieden.« Es wurde still im Raum. Die junge Bäuerin breitete ein großes Tuch aus und legte sich, die Hand unter dem Kopf, darauf nieder.
Die Schnapsbrennerin begann zu essen. Der Alte ließ seine Füße herunterbaumeln, drehte sich gemächlich eine Zigarette und fing an zu rauchen. Bald stand stickiger Qualm in dem engen Raum.
Mit vollem Mund schmatzend, brummte das Weib:
»Könntest einen doch wenigstens ruhig essen lassen, ohne die Stänkerei. Immerzu muss der rauchen.«
Der Alte kicherte giftig.
»Hast wohl Angst, ein paar Pfund abzunehmen? Wirst bald nicht mehr durch die Tür gehen. Könntest doch dem Jungen auch was abgeben. Stopfst dir aber lieber den eigenen Wanst voll.«
Die Frau brummte beleidigt:
»Hab ihm doch schon gesagt, dass er essen soll, er will aber nicht. Und meinetwegen brauchst den Mund nicht aufzureißen - deinen Fraß esse ich ja nicht.«
Das junge Mädchen wandte sich zu der Schnapsbrennerin und fragte, mit dem Kopf auf Kortschagin deutend:
»Wissen Sie nicht, warum der da sitzt?«
Das Weib erteilte ihr, erfreut darüber, dass sich jemand mit ihr unterhielt, bereitwilligst Auskunft:
»Das ist ein Hiesiger, der Köchin Kortschagin ihr Jüngster.«
Und dicht an ihr Ohr gebeugt, flüsterte die Schnapsbrennerin weiter:
»Er hat einen Bolschewiken befreit, ein Matrose war's, bei der Sosulicha hat er logiert, einer Nachbarin von mir.«
Die junge Bäuerin entsann sich der Worte des Kommandanten: »Ich schicke das ganze Material an den Stab. Hoffentlich erlaubt man uns, ihn zu erledigen…«
Ein Militärtransport nach dem andern traf auf dem Bahnhof ein. Ungeordnet strömten die Schützen der Sitscher Bataillone aus den Wagen. Langsam kam der stahlgeschmiedete, vier Wagen umfassende Panzerzug »Saporoger« heran. Von den Plattformen wurden Geschütze heruntergeholt. Aus den Güterwagen führte man die Pferde heraus. Gleich auf dem Bahnhof wurden sie gesattelt, und ihre Reiter saßen auf. Sie drängten sich durch die uniformierte Menge der Infanteristen und sammelten sich vor dem Bahnhof; hier nahm die Kavallerieabteilung Aufstellung.
Geschäftig rannten die Offiziere hin und her und riefen die Nummern der ihnen unterstellten Einheiten auf.
Auf dem Bahnhof summte es wie in einem Wespennest. Nach und nach bildeten sich aus dem bunten Wirrwarr von schreienden, umherlaufenden Menschen Formationen, und bald darauf ergoss sich ein Strom bewaffneter Männer in die Stadt. Bis zum späten Abend polterten Fuhrwerke über die Chaussee, die Nachhut der Sitscher Schützendivision zog in die Stadt ein.
Den Zug schloss die Stabskompanie ab. Grölend erschallte es aus hundertzwanzig Kehlen:
Welch Geschrei, welch Gebraus,
was ist denn passiert?
Ja, Petljura ist ins Land
heute einmarschiert…..
Kortschagin stemmte sich mit den Händen auf den Fenstersims. Durch die frühe Abenddämmerung hörte er das Rattern der Räder über das Straßenpflaster, das Marschieren unzähliger Beine und Gesang aus vielen Kehlen.
Hinter ihm flüsterte jemand:
»Da ziehen also Truppen in die Stadt ein.«
Kortschagin wandte sich um.
Die Worte kamen von dem Mädchen, das gestern von den Kosaken gebracht worden war.
Er hatte ihre Geschichte mit angehört. Die Schnapsbrennerin hatte schließlich doch ihr Ziel erreicht.
Sie stammte aus einem Dorf, sieben Werst von der Stadt entfernt. Ihr älterer Bruder, Grizko, ein roter Partisan, hatte unter den Sowjets im Komitee der Dorfarmut eine führende Rolle gespielt.
Als die Roten den Ort verlassen mussten, band sich Grizko einen Patronengurt um und zog mit fort.
Für die Familie war das Leben zur Hölle geworden. Das einzige Pferd, das sie besaßen, hatte man ihnen weggenommen. Der Vater wurde in die Stadt geschleppt, dort hielten sie ihn lange hinter Schloss und Riegel. Der Dorfälteste, einer von denen, die Grizko bekämpft hatte, schickte der Familie aus Rache immer wieder Leute zur Einquartierung. Jetzt waren sie völlig verarmt.
Gestern nun war der Kommandant bei einer Razzia im Dorf erschienen. Der Dorfälteste hatte den Kommandanten auch zu ihnen geführt, dieser hatte sich das Mädchen angeschaut und »zum Verhör« mit in die Stadt genommen.
Kortschagin konnte nicht schlafen, ein einziger Gedanke, den er nicht loswerden konnte, quälte ihn fortwährend. Was wird nun werden? Sein misshandelter Körper schmerzte.
Um den quälenden Gedanken zu entgehen, lauschte Pawel dem Geflüster seiner Nachbarin.
Ganz leise erzählte das Mädchen, wie sie der Kommandant belästigt, wie er ihr gedroht und zugeredet hatte und schließlich wütend wurde, als er auf Widerstand stieß.
»Ich sperre dich im Keller ein und lass dich nicht mehr heraus«, hatte er ihr dann gesagt.
Finsternis kroch in die Zimmerecken. Eine dumpfe, unruhige Nacht stand bevor. Wieder grübelte Pawel über das unbekannte Morgen. Die siebente Nacht - doch schien es ihm, als seien bereits Monate vergangen. Das Lager war hart, die Schmerzen wollten nicht nachlassen. In dem Raum befanden sich jetzt nur drei Menschen. Der Alte schnarchte wie ein Bär, als läge er daheim auf seinem Ofen. Nichts konnte ihn in seiner Gelassenheit und in seinem Schlaf stören. Die Schnapsbrennerin war von dem Kommandanten freigelassen worden, sie sollte ihm Wodka beschaffen. Auf dem Fußboden saßen Christina und Pawel dicht nebeneinander. Gestern hatte er durchs Fenster Serjosha erblickt. Lange hatte dieser auf der Straße gestanden und wehmütig heraufgeschaut. - Er weiß wohl, dass ich hier bin.
An drei Tagen hatte man ihm Stücke sauren schwarzen Brotes gebracht. Wer sie für ihn abgegeben hatte, war ihm nicht gesagt worden. Zwei Tage lang quälte ihn der Kommandant mit seinen endlosen Verhören.
Was hatte das zu bedeuten?
Beim Verhör hatte er geschwiegen oder alles abgestritten. Weshalb, wusste er selbst nicht. Er hatte tapfer, hatte stark sein wollen wie die Helden, über die er in den Büchern gelesen hatte. Als man ihn jedoch in jener Nacht abführte und bei der großen Dampfmühle einer der eskortierenden Soldaten sagte: »Wozu ihn eigentlich herumschleppen, Pan Fähnrich? Eine Kugel in den Rücken -und Schluss«, da hatte sich sein Herz zusammengekrampft. Ja, es ist furchtbar, mit sechzehn Jahren sterben zu müssen! Bedeutet doch der Tod, dass alles für immer aus ist.
Auch Christina sitzt grübelnd da. Sie weiß mehr als dieser Junge neben ihr. Sicher ahnte er noch nichts davon … aber sie hat es ja mit angehört.
Er schläft nicht, wirft sich nachts von einer Seite auf die andere. Er tut Christina so leid. Gewiss, sie hat ihren eigenen Kummer, kann die furchtbaren Worte des Kommandanten nicht vergessen: »Ich werde morgen mit dir abrechnen! Willst du nicht mich, so überlass ich dich eben den Wachmannschaften. Die Kosaken werden schon wollen. Kannst selbst wählen.«
Wie schwer ist das alles! Und keine Aussicht auf Rettung! Was kann denn sie dafür, dass Grizko zu den Roten ging? Ach, wie schwer ist doch das Leben!
Ein dumpfer Schmerz schnürt ihr die Kehle zu. Ohnmächtige Verzweiflung, Schrecken packen sie. Christina weint leise vor sich hin.
»Was hast du denn?« fragt Pawel.
Flüsternd schüttet Christina dem Leidensgefährten ihr Herz aus. Er lauscht und schweigt, nur seine Hand berührt leise die ihre.
»Sie werden mich totquälen, diese verfluchten Hunde«, flüstert sie unter Tränen, von instinktivem Entsetzen gepackt. »Ich bin verloren. Ich bin in ihrer Gewalt.«
Was kann Pawel diesem Mädchen schon sagen? Gibt es denn einen Trost für ihren Kummer? Da können keine Worte helfen.
Was aber tun? Sie morgen nicht hinauslassen? Den Kampf aufnehmen? Man würde ihn zu Tode prügeln oder ihm einfach mit dem Säbel eins auf den Schädel hauen - und Schluss. Und um das unglückliche Mädchen wenigstens ein wenig zu trösten, streichelt er ihr sanft die Hand. Das Weinen wird
schwächer. Ab und zu hört man den Posten das übliche »Wer da?« am Eingang rufen, dann wieder Stille ringsum. Der Alte schläft fest. Kaum merklich fließt die Zeit dahin. Pawel weiß nicht, wie ihm geschieht, als ihn plötzlich zwei Arme innig umfangen und ihn an sich ziehen.
»Hör zu, Lieber«, flüstern heiße Lippen, »ich bin sowieso verloren, wenn nicht der Offizier, werden mich die ändern totquälen. Nimm du mich, mein Junge, damit dieser Hund mich nicht als erster bekommt.«
»Was redest du da, Christina?«
Aber die kräftigen Arme geben ihn nicht frei. Heiße, volle Lippen - schwer, ihnen zu entrinnen. Das Mädchen flüstert schlichte, zärtliche Worte. Er weiß ja, warum sie so zu ihm spricht.
Und weit, weit weg ist das Heute verschwunden. Vergessen sind das Schloss an der Tür, der rothaarige Kosak, der Kommandant, die viehischen Misshandlungen, die vielen dumpfen, schlaflosen Nächte. Und einen kurzen Augenblick kennt er nichts mehr als zwei heiße Lippen und ein vom Weinen feuchtes Gesicht…
Da plötzlich denkt er an Tonja.
Wie hat er sie nur vergessen können ….. ihre wundervollen, lieben Augen …..
Ihm bleibt gerade noch Kraft genug, sich von Christina loszureißen. Wie ein Betrunkener taumelnd, steht er auf und klammert sich ans Fenstergitter fest. Doch Christinas Hände finden ihn.
»Was ist dir?«
Wie viel Gefühl in dieser Frage liegt! Er beugt sich über sie und drückt ihr innig die Hand.
»Ich kann nicht, Christina. Du - du bist ein gutes Mädchen«, und er stammelt noch etwas, was er selbst nicht versteht.
Um der unerträglichen Stille ein Ende zu bereiten, richtet er sich auf und geht zur Pritsche. Er setzt sich nieder und weckt den Alten:
»Gib mir doch was zu rauchen, Großväterchen, bitte.«
In der Ecke schluchzt, in ihr Tuch gehüllt, das Mädchen.
Tags darauf erschien der Kommandant, und die Kosaken führten Christina weg. Sie nahm mit den Augen Abschied von Pawel. Er las einen stummen Vorwurf in ihnen. Als die Tür hinter ihr zuschlug, wurde ihm das Herz noch schwerer, noch beklommener.
Bis zum Abend konnte der Alte nicht ein einziges Wort aus Pawel herauskriegen. Die Posten und die Kommandanturwache wurden abgelöst. Abends brachte man einen neuen Häftling. Pawel erkannte in ihm Dolinnik, einen Tischler aus der Zuckerfabrik. Er war von kräftiger Gestalt, etwas untersetzt und trug ein verschossenes gelbes Hemd unter der abgetragenen Jacke. Aufmerksam musterte er den Raum.
Pawel hatte ihn 1917, im Februar, gesehen, als die Revolution bis ins Städtchen gedrungen war. Bei den lärmenden Demonstrationen hatte er nur einen einzigen Bolschewiken sprechen hören. Das war Dolinnik gewesen. Er war auf einen Zaun an der Straße geklettert und hielt von dort aus eine Ansprache an die Soldaten. Pawel konnte sich noch seiner letzten Worte erinnern:
»Soldaten, geht mit den Bolschewiki. Die werden euch nicht verraten!«
Seit diesem Tag war er dem Tischler nicht mehr begegnet.
Der Alte freute sich über den neuen Gefährten. Offensichtlich fiel es ihm schwer, den ganzen Tag schweigend dazuhocken.
Dolinnik setzte sich zu ihm auf die Pritsche, rauchte eine Zigarette mit ihm und fragte ihn über alles aus.
Dann ging er zu Kortschagin.
»Nun, was gibt es denn bei dir?« erkundigte er sich. »Wie bist du hierher geraten?«
Dolinnik, der nur einsilbige Antworten erhielt, spürte, dass ihm der andere kein Vertrauen schenkte und aus diesem Grund so wortkarg war.
Aber als der Tischler erfuhr, wessen man den Jungen beschuldigte, richtete er seine klugen Augen verwundert auf Kortschagin und setzte sich neben ihn.
»Das bist du also, der den Shuchrai herausgehauen hat? Was du nicht sagst! Ich habe gar nicht gewusst, dass sie dich geholt haben.«
Pawel richtete sich überrascht auf.
»Was für ein Shuchrai? Ich weiß von nichts. Man kann mir viel in die Schuhe schieben.«
Aber Dolinnik lächelte und rückte noch näher heran.
»Lass mal, Freundchen, vor mir brauchst du dich nicht zu verstellen. Ich weiß mehr als du.«
Und leise, damit der Alte nichts hören konnte, fügte er hinzu:
»Ich habe doch selber den Shuchrai begleitet, er muss jetzt an Ort und Stelle sein. Fjodor hat mir die ganze Geschichte erzählt.«
Er schwieg eine Weile, dachte über etwas nach und sagte dann:
»Du bist, wie ich merke, ein tüchtiger Kerl. Aber dass sie dich haben und alles wissen, das ist, muss ich sagen, eine verdammte Geschichte.«
Er warf seine Jacke ab, breitete sie auf dem Fußboden aus und setzte sich drauf, mit dem Rücken an die Wand gelehnt; dann drehte er sich eine neue Zigarette.
Dolinniks letzte Worte sagten Pawel alles. Es war klar: Dolinnik war einer, der Vertrauen verdiente. Wenn er Shuchrai begleitet hatte - so hieß das …
Am Abend wusste er bereits, dass Dolinnik wegen Agitation unter den Petljura-Kosaken verhaftet worden war. Er war beim Verteilen von Flugblättern des Gouvernements-Revolutionskomitees auf frischer Tat erwischt worden. In diesen Flugblättern wurden die Soldaten aufgefordert, die Waffen zu strecken und zu den Roten überzulaufen. Der vorsichtige Dolinnik erzählte Pawel nur wenig. Wer weiß, dachte er, vielleicht bearbeiten sie den Jungen noch mit dem Ladestock. Und er ist ja so jung …
Als sie sich am späten Abend schlafen legten, brachte er seine Besorgnis in den kurzen Worten zum Ausdruck:
»Na, Kortschagin, man kann wohl behaupten, dass die Lage für uns beide nicht gerade rosig ist. Wollen mal sehen, was dabei rauskommt.«
Am nächsten Morgen tauchte ein neuer Häftling auf. Es war der stadtbekannte Friseur Schloime Selzer, ein Mann mit riesigen Ohren und dürrem Hals. Erregt gestikulierend erzählte er Dolinnik:
»Natürlich, diese Fuchs, Blumstein und Trachtenberg werden dem schon Brot und Salz zum Willkommen bringen. Ich sage: ›Na, wenn ihr das tun wollt, so tut es - aber bildet euch nicht ein, dass die ganze jüdische Bevölkerung euch ihre Unterschrift dazu geben wird. Fällt uns nicht ein.‹ Die wissen schon ganz genau, was sie tun. Fuchs hat sein Geschäft, Trachtenberg seine Mühle, und was habe ich? Und was haben die anderen Hungerleider? Alle diese bettelarmen Menschen haben rein gar nichts. Ein lockeres Mundwerk habe ich - das stimmt. Kommt da heute ein Offizier in den Laden, einer von den neuen, die erst kürzlich in die Stadt gezogen sind, und lässt sich von mir rasieren. ›Sagen Sie‹, fragte ich ihn, ›weiß der Ataman Petljura etwas von den Pogromen oder nicht? Wird er diese Delegation empfangen?‹ Ach, was hat mir meine Zunge schon für Unannehmlichkeiten eingebrockt! Was meinen Sie, was der Mann tut, als ich ihn rasiert und parfümiert hatte - alles erstklassig besorgt? Statt zu bezahlen, verhaftet er mich wegen Agitation gegen die herrschende Macht!« Selzer schlug sich mit der Faust gegen die Brust: »Wo ist die Agitation? Was hab ich denn schon gesagt? Ich habe mich doch bloß bei ihm erkundigt … Und dafür haben sie mich eingesperrt…«
Aufgeregt drehte Selzer an einem von Dolinniks Hemdenknöpfen, packte ihn erst an dem einen, dann am anderen Arm.
Dolinnik musste unwillkürlich lächeln, während er dem aufgeregten Selzer zuhörte. Als der Friseur verstummte, meinte Dolinnik sehr ernst:
»Ach, Schloime, du bist doch sonst ein ganz gescheiter Kerl, und da machst du solche Dummheiten. Hast dir gerade die richtige Zeit ausgesucht, deine Zunge zu wetzen. Ich hätte dir nicht geraten, es dazu kommen zu lassen.«
Selzer schaute ihn verständnisvoll an und machte eine verzweifelte Handbewegung. Die Tür ging auf, und die Pawel schon bekannte Schnapsbrennerin wurde in den Raum gestoßen. Wütend beschimpfte sie den Kosaken:
»Der Teufel soll euch alle holen, euch mitsamt eurem Kommandanten! Krepieren soll der von meinem Schnaps!«
Der Posten schlug die Tür hinter ihr zu. Man hörte, wie er den Schlüssel im Schloss umdrehte.
Das Weib setzte sich auf die Pritsche, und spöttisch begrüßte sie der Alte:
»Na, bist schon wieder da, du altes Plappermaul? Setz dich nur und sei willkommen.«
Die Schnapsbrennerin warf dem Alten einen nicht gerade liebenswürdigen Blick zu, packte ihr Bündel und setzte sich neben Dolinnik auf den Boden.
Der Kommandant hatte sich von ihr mehrere Flaschen Schnaps besorgen lassen und sie dann wieder eingesperrt.
Hinter der Tür waren plötzlich Geschrei und Rennerei aus der Wachstube zu hören. Eine scharfe Stimme erteilte Befehle. Die Häftlinge im Lagerraum horchten unwillkürlich auf.
Auf dem Stadtplatz, bei der unansehnlichen kleinen Kirche mit dem altertümlichen Glockenturm, gingen Ereignisse vor sich, die für das Städtchen ganz ungewohnt waren. Den Platz von drei Seiten umfassend, waren hier feldmarschmäßig ausgerüstet die Einheiten der Sitscher Schützendivision in regelmäßigen Rechtecken aufgestellt.
Vom Kircheneingang aus hatten sich die drei Infanterieregimenter quadratförmig längs des Zauns vom Schulhof gruppiert.
Gewehr bei Fuß stand die schmutziggraue Masse der Petljura-Soldaten, auf dem Kopf den unförmigen, einer Kürbishälfte ähnlichen russischen Stahlhelm, und dicht mit Patronengurten behangen. Das war die Division, die als kampffähigste des »Direktoriums« galt.
Die aus Beständen der ehemaligen Zarenarmee gut eingekleidete Division bestand mehr als zur Hälfte aus Kulaken, die bewusst gegen die Sowjets kämpften. Man hatte diese Division zum Schutz für den strategisch höchst wichtigen Eisenbahnknotenpunkt in das Städtchen verlegt.
Von Schepetowka aus führten schimmernde Schienenstränge nach sechs verschiedenen Richtungen. Diesen Knotenpunkt zu verlieren würde für Petljura bedeuten, alles zu verlieren. Das vom Direktorium beherrschte Gebiet war ohnedies stark zusammengeschrumpft. Das bescheidene Städtchen Winniza war neuerdings zur Hauptstadt des »Petljura-Reiches« geworden.
Der Hauptataman hatte beschlossen, die Truppen selbst zu besichtigen. Alles war zu seinem Empfang bereit.
In den hinteren Reihen, etwas abseits vom allgemeinen Blickfeld, hatte in einer Ecke des Platzes das Regiment der neu eingezogenen Rekruten Aufstellung genommen. Das waren alles barfüßige, kunterbunt gekleidete junge Burschen. Keiner von diesen Dorfjungen, die bei einer der nächtlichen Razzien gewaltsam vom Ofen heruntergeholt oder auf der Straße eingefangen worden waren, wollte in den Kampf ziehen.
Sollen sich Dumme suchen, sagten sie.
Das höchste, was die Petljura-Offiziere erreicht hatten, war, die Mobilisierten unter Bewachung zwangsweise in die Stadt zu bringen, sie in Kompanien und Bataillone einzuteilen und ihnen Waffen auszuhändigen.
Aber schon am nächsten Tag war ein Drittel der Rekruten verschwunden, und der Rest schmolz beständig zusammen.
Ihnen Stiefel zu geben wäre mehr als leichtfertig gewesen, zumal man mit Schuhzeug knapp genug dran war. So war der Befehl ausgegeben worden, zum Einberufungsort in eigenem Schuhwerk zu erscheinen. Die Wirkung dieses Befehls war erstaunlich. Wo hatten die Jungen nur die unmöglichen Fetzen und Lumpen aufgetrieben, die ihnen mit Hilfe von Draht oder Bindfaden als
»Schuhzeug« dienten? Zur Parade ließ man sie deshalb barfuss antreten. Hinter der Infanterie hatte das Kavallerieregiment des Obersten Golub Aufstellung genommen.
Die Kavalleristen hielten die dichte Menge der Neugierigen im Zaum. Jeder wollte die Parade sehen. Der Hauptataman sollte höchstpersönlich kommen. Solch ein Ereignis war etwas Seltenes, und keiner wollte sich die Gratisvorstellung entgehen lassen.
Auf den Stufen der Kirche hatten sich die Obersten, die Kosakenrittmeister, die beiden Popentöchter, einige ukrainische Lehrer, eine Gruppe so genannter freier Kosaken, der etwas bucklige Vorsitzende der Stadtverwaltung - überhaupt die Vertreter der »Öffentlichkeit« versammelt. Unter ihnen befand sich auch im Tscherkessenrock der Oberinspektor der Infanterie. Er befehligte die Parade.
In der Kirche hatte der Pope Wassili seinen Osterornat angelegt.
Der Empfang Petljuras sollte feierlich vor sich gehen. Eine gelbblaue Fahne war herangeschleppt und aufgepflanzt worden, auf die die Rekruten vereidigt werden sollten.
Der Divisionskommandeur hatte sich in einem klapprigen, abgenutzten Ford zum Bahnhof begeben, um Petljura abzuholen.
Der Infanterie-Inspektor winkte den Obersten Tschernjak heran, einen schlanken Mann mit stutzerhaft gezwirbeltem Schnurrbart, und sagte:
»Nehmen Sie noch jemanden mit und überprüfen Sie die Kommandantur und die Etappe, ob alles sauber und aufgeräumt ist. Wenn Gefangene da sind, so schauen Sie sich alles an. Überflüssiges Pack jagen Sie zum Teufel.«
Tschernjak knallte die Hacken zusammen, nahm den erstbesten Kosakenrittmeister mit, und beide sprengten davon.
Der Inspektor wandte sich liebenswürdig an die ältere Popentochter:
»Und wie steht's bei Ihnen mit dem Mittagessen? Ist alles in Ordnung?«
»Oh, natürlich. Der Kommandant hat selbst die Sache in die Hand genommen«, antwortete diese und verschlang den schönen Inspektor mit den Augen.
Plötzlich geriet alles in Bewegung.
Auf der Chaussee jagte, über den Pferdenacken gebeugt, ein Reiter heran; er winkte mit der Hand und schrie:
»Sie kommen!« »Auf die Plätze!« kommandierte der Inspektor.
Die Offiziere eilten zu ihren Formationen.
Als der Ford prustend vor dem Kircheneingang hielt, setzte die Kapelle mit dem Lied »Ukraine nicht verloren …« ein.
Hinter dem Divisionskommandeur stieg schwerfällig der »Hauptataman Petljura in höchsteigener Person« aus dem Auto. Er war von mittlerem Wuchs, hatte einen klobigen Schädel, der fest auf dem kurzen, knallroten Hals saß. Er trug einen blauen Überrock aus feinem Gardetuch, darüber einen gelben Gurt mit einem winzigen Browning in einem wildledernen Futteral. Auf dem Kopf hatte er eine feldgraue Kerenski-Mütze, an der eine Kokarde mit dem emaillierten Dreizack befestigt war.
Die Gestalt Simon Petljuras hatte gar nichts Militärisches an sich. Er machte den Eindruck eines Zivilisten.
Sichtlich unzufrieden nahm er den kurzen Rapport des Inspektors entgegen. Dann hielt der Vorsitzende der Stadtverwaltung eine Begrüßungsansprache.
Zerstreut hörte Petljura zu, während er an ihm vorbei auf die in Reih und Glied aufgestellten Regimenter blickte.
»Beginnen wir mit der Truppenschau«, sagte er zu dem Inspektor.
Petljura bestieg die neben der Fahne errichtete kleine Tribüne und wandte sich mit einer zehn Minuten langen Ansprache an die Soldaten.
Die Rede wirkte nicht gerade überzeugend. Petljura, sichtlich ermüdet von der Reise, sprach ohne besonderen Schwung. Er schloss unter den eingetrichterten Hochrufen der Soldaten, stieg von der Tribüne herunter und wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Dann schritt er mit dem Inspektor und dem Divisionskommandeur die Reihen ab.
Als er an den Rekruten vorüberkam, kniff er verächtlich die Augen zusammen und biss sich nervös auf die Lippen.
Zum Schluss der Truppenschau, als die Neueingezogenen zugweise in ungleichmäßigen Reihen zur Fahne heranmarschierten, wo der Pope Wassili mit dem Evangelium in der Hand stand und wo sie zuerst das Evangelium und dann den Fahnenzipfel küssen mussten, kam es zu einem unvorhergesehenen Zwischenfall.
Unbekannt, auf welche Weise, war auf dem Platz eine Delegation aufgetaucht und zu Petljura vorgedrungen. Blumstein trug auf einem Präsentierteller Brot und Salz, hinter ihm gingen der Galanteriewarenhändler Fuchs und drei andere solide Kaufleute.
Blumstein verbeugte sich lakaienhaft und überreichte Petljura den Teller. Ein neben diesem stehender Offizier nahm ihn in Empfang.
»Die jüdische Bevölkerung bringt Ihnen, dem Oberhaupt des Staates, hiermit ihre aufrichtige Anerkennung und Verehrung zum Ausdruck. Bitte, empfangen Sie unser Begrüßungsschreiben.«
»Gut«, brummte Petljura und überflog flüchtig das Papier.
Aber jetzt nahm Fuchs das Wort.
»Wir bitten Sie untertänigst, dass man es uns ermöglicht, unsere Geschäfte offen zu halten, und dass man uns vor Pogromen schützt.« Fuchs presste mühsam das riskante Wort hervor.
Petljura zog ärgerlich die Augenbrauen zusammen.
»Meine Armee gibt sich nicht mit Pogromen ab. Das merken Sie sich!« Fuchs stand hilflos da.
Ja, natürlich sei ihm bekannt, dass überhaupt keine Pogrome stattfänden. Der Herr Ataman verbiete es ja; aber das Regiment des Herrn Obersten Golub habe es hier zu einigen Unregelmäßigkeiten kommen lassen.
Petljura zuckte nervös, er war wütend auf die bei so gänzlich unpassender Gelegenheit aufgetauchte Delegation. Er drehte sich um. Hinter ihm stand Golub, der an seinem schwarzen Schnurrbart kaute.
»Man führt hier Beschwerden über Ihre Kosaken, Pan Oberst. Klären Sie auf, worum es sich handelt, und treffen Sie Ihre Maßnahmen«, sagte Petljura.
Dann wandte er sich dem Inspektor zu und befahl:
»Beginnen wir mit der Parade.«
Plötzlich ertönten scharfe Kommandos. Die gesamte Aufmerksamkeit der vielen Zuschauer war auf den bevorstehenden Parademarsch gerichtet.
Die unglückselige Delegation war keineswegs darauf gefasst gewesen, Golub zu begegnen. Sie machte Anstalten zu verschwinden.
Äußerlich ruhig schritt Golub auf Blumstein zu und flüsterte ihm ins Ohr:
»Schert euch zum Teufel, ungetaufte Judenbrut, oder ich werde euch Beine machen.«
Musik ertönte, und die ersten Truppenteile marschierten über den Platz. Jedes Mal wenn die Soldaten zu der Stelle kamen, an der Petljura stand, riefen sie mechanisch ihr »Hoch« und bogen in die Chaussee und dann in Seitengassen ein. An der Spitze der Kompanien schritten in nagelneuen khakifarbenen Uniformen die Offiziere und schwenkten wie auf einem Spaziergang ihre Stöcke. Diese Mode, beim Marschieren ein Stöckchen zu tragen, war zum ersten Mal von den Sitscher Schützen eingeführt worden.
Als letzte kamen die Neueingezogenen: eine ungeordnete Masse, die nicht Schritt hielt und einander auf die Füße trat. Energisch versuchten die Offiziere, Ordnung in die Reihen zu bringen, das war aber unmöglich. Als die zweite Kompanie heranmarschierte, starrte der rechte Flügelmann, ein junger Bursche in einer Leinenhose, den Hauptataman mit verwundert aufgerissenem Mund an. Plötzlich fiel er der Länge nach hin. Sein Gewehr fiel klirrend aufs Pflaster. Er war mit dem Fuß in ein Loch geraten.
Vergebens bemühte er sich aufzustehen, die Nachrückenden warfen ihn immer wieder um. Die Zuschauer brachen in Gelächter aus. Der Zug geriet in völlige Unordnung, die Leute marschierten, wie's gerade kam, über den Platz.
Der ungeschickte Flügelmann griff nach seinem Gewehr und rannte los, um seine Leute einzuholen.
Petljura wandte sich von diesem unerfreulichen Schauspiel ab und schritt, ohne das Ende des Vorbeimarsches abzuwarten, zu seinem Auto. Der ihm nacheilende Inspektor erkundigte sich zögernd:
»Möchte der Herr Ataman nicht zum Mittagessen bleiben?«
»Nein«, war die lakonische Antwort Petljuras.
Unter den Zuschauern, die sich hinter dem hohen Kirchengitter Platz gesucht hatten, waren auch Serjosha, Walja und Klimka.
Fest an das Eisengitter gepresst, blickte Serjosha hasserfüllt und unverwandt in die Gesichter der Petljura-Leute.
»Gehen wir, Walja. Die Vorstellung ist gleich aus«, rief er herausfordernd laut, dass es alle hören konnten, und ging vom Gitter weg. Erstaunt drehte man sich nach ihm um.
Ohne jemandem die geringste Beachtung zu schenken, schritt er auf die Pforte zu.
Seine Schwester und Klimka folgten ihm.
Vor der Kommandantur angelangt, sprangen Oberst Tschernjak und der Kosakenrittmeister von den Pferden. Sie warfen die Zügel der Ordonnanz zu und traten rasch in die Wachstube ein.
»Wo ist der Kommandant?« wandte sich Tschernjak in scharfem Ton an den Wachhabenden.
»Weiß nicht«, brummte dieser in seinen Bart.
»Wohl irgendwo hingegangen.«
Tschernjak musterte die schmutzige, unordentliche Wachstube mit den zerwühlten Betten, auf denen sich die Kosaken der Kommandantur unbekümmert flegelten, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen, sich beim Eintritt des Vorgesetzten zu erheben.
»Das ist ja hier der reinste Schweinestall«, schrie Tschernjak.
»Ihr wälzt euch ja herum wie die Ferkel«, fuhr er die Liegenden an.
Einer der Kosaken richtete sich auf, rülpste und brummte mürrisch:
»Wieso schreist du so? Haben hier genug eigene Schreihälse.«
»Was soll das heißen?« fuhr Tschernjak auf.
»Weißt du, mit wem du sprichst, du Mistvieh? Ich bin Oberst Tschernjak! Verstanden, du Hundesohn? Runter von den Betten, sonst werde ich euch Beine machen!« Aufgeregt rannte der Oberst in der Wachstube umher.
»In einer Minute ist der Dreck weggeräumt, sind die Betten gemacht und eure Visagen haben ein menschliches Aussehen! Verstanden? Wie seht ihr denn aus? Nicht wie Kosaken, sondern wie Strauchdiebe!«
Der Oberst war ganz außer sich vor Wut. Schimpfend stieß er mit dem Fuß einen im Weg stehenden Mülleimer um.
Der Rittmeister blieb nicht hinter Tschernjak zurück. Wüst fluchend und heftig mit seiner dreischwänzigen Knute fuchtelnd, jagte er die faule Bande aus den Betten.
»Der Hauptataman nimmt die Parade ab. Möglich, dass er auch hierher kommt. Los, mal 'n bisschen dalli!«
Als die Kosaken merkten, dass die Sache ernst zu werden begann und dass man tatsächlich noch etwas mit dem Ladestock abkriegen konnte - der Name Tschernjak war ihnen allen zur Genüge bekannt -, rannten sie wie Besessene in der Stube umher. Die Arbeit ging flott vonstatten.
»Man sollte sich die Verhafteten anschauen«, schlug der Rittmeister dem Oberst von.
»Wer weiß, wen die hier eingesperrt haben. Wenn der Hauptataman herkommen sollte, kann's noch eine dumme Geschichte geben.«
»Wer hat den Schlüssel?« fragte Tschernjak den Posten.
»Sofort aufmachen !«
Der Wachstubenälteste sprang eilfertig herbei und schloss die Tür auf.
»Wo steckt denn der Kommandant? Soll ich vielleicht noch lange auf ihn warten? Macht ihn sofort ausfindig und schickt ihn hierher!« befahl Tschernjak.
»Die Wache heraus! Antreten im Hof … Warum sind die Gewehre ohne Bajonett?«
»Wir haben erst gestern abgelöst«, rechtfertigte sich der Wachstubenälteste.
Er stürzte zur Tür, um den Kommandanten zu suchen.
Der Rittmeister stieß mit dem Stiefel die Tür zum Lagerraum auf. Ein paar Menschen erhoben sich vom Boden. Die übrigen blieben liegen.
»Lasst die Tür offen«, befahl Tschernjak.
»Man kann ja hier gar nichts sehen.«
Er blickte prüfend in die Gesichter der Häftlinge.
»Warum bist du hier?« fuhr er den auf der Pritsche sitzenden Alten wütend an.
Der Gefragte erhob sich, schob seine Hose zurecht und stotterte, durch die Anschreierei erschreckt:
»Weiß selber nicht, warum. Man hat mich eingesperrt, und da sitze ich eben. Ein Pferd ist von meinem Hof verschwunden, daran bin ich aber nicht schuld.«
»Wessen Pferd?« unterbrach ihn der Rittmeister.
»Ein Militärpferd. Die bei mir einquartierten Soldaten haben es versoffen und wollen jetzt die Schuld auf mich abladen.«
Tschernjak musterte den Alten rasch von Kopf bis Fuß und zuckte ungeduldig die Achseln.
»Pack deine Siebensachen zusammen und mach, dass du fortkommst!« brüllte er und wandte sich bereits der Schnapsbrennerin zu.
Der Alte begriff nicht sofort, dass er frei war, und murmelte, seine kurzsichtigen Augen auf den Rittmeister gerichtet:
»Dann darf ich also gehen?«
»Mach, dass du fortkommst, aber schnell!«
Der Alte band hastig seinen Sack von der Pritsche los und verdrückte sich.
»Und warum sitzt du hier?« verhörte Tschernjak schon die Schnapsbrennerin. Diese verschlang eiligst den Rest ihres Kuchens und legte los:
»Ach, Pan Offizier, mich hat man ganz ungerecht eingesperrt! Ich bin eine arme Witwe. Meinen Schnaps haben sie ausgesoffen und mich dann noch hierher gebracht.«
»Was, du handelst mit Selbstgebranntem?« fragte Tschernjak.
»Ein schöner Handel«, erwiderte das Weib gekränkt.
»Der Kommandant hat mir vier Flaschen genommen und nicht einen lumpigen Groschen bezahlt. Und genauso machen es alle; den Schnaps saufen sie, aber zahlen will keiner. Von wegen Handel!«
»Genug, scher dich zum Teufel!«
Das Weib ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie nahm ihren Korb und zog mit vielen unterwürfigen Verbeugungen ab.
»Gott schenke euch Gesundheit und ein langes Leben, ihr Herren Offiziere«, war noch zu vernehmen.
Dolinnik beobachtete die Komödie mit großen Augen. Keiner von den Häftlingen verstand, was da los war. Eins jedoch war klar: Die Ankömmlinge verkörperten die Obrigkeit, die über die Verhafteten verfügen konnte.
»Und weswegen bist du hier?« wandte sich Tschernjak an Dolinnik.
»Steh auf, wenn der Herr Oberst mit dir spricht«, fuhr ihn der Rittmeister an.
Langsam und schwerfällig erhob sich Dolinnik vom Boden.
»Weswegen du hier bist, habe ich gefragt«, wiederholte Tschernjak. Einige Sekunden lang betrachtete Dolinnik das gezwirbelte Schnurrbärtchen des Obersten, sein glattrasiertes Gesicht, dann den Schirm der neuen Kerenski-Mütze mit der emaillierten Kokarde. Plötzlich kam ihm der kühne Gedanke: Und vielleicht gelingt es doch?
»Ich bin verhaftet worden, weil ich nach acht Uhr abends auf der Straße war«, sagte er das erstbeste, das ihm gerade einfiel.
Einige Sekunden vergingen in qualvoller Spannung.
»Wozu hast du dich nachts auf der Straße herumgetrieben?«
»Es war nicht Nacht, erst gegen elf Uhr abends.« Sprach's und glaubte schon selbst nicht mehr an einen günstigen Ausgang dieses Abenteuers.
Ihm wankten die Knie, als er den kurzen Befehl vernahm:
»Scher dich!«
Dolinnik ging zur Tür hinaus und vergaß in der Eile seine Jacke. Der Rittmeister nahm sich bereits den nächsten vor. Kortschagin saß auf dem Fußboden, ganz verwirrt durch das, was sich vor seinen Augen abspielte. Es war ihm unfassbar, was da vor sich ging. Alle ließ man heraus … ja, aber Dolinnik, Dolinnik … Er hatte freilich angegeben, dass er wegen nächtlichen Herumstreifens verhaftet worden sei… Endlich begriff Pawel.
Der Oberst verhörte den dürren Selzer auf seine übliche Manier:
»Weshalb bist du hier?«
Der blasse, aufgeregte Friseur antwortete hastig:
»Ich soll Agitation getrieben haben. Ich weiß aber gar nicht, was für eine Agitation... «
Tschernjak horchte auf.
»Was? Agitation? Wofür hast du denn agitiert?«
Selzer ließ ratlos die Arme sinken.
»Ich weiß es wirklich selbst nicht. Ich habe nur erzählt, dass man bei der jüdischen Bevölkerung Unterschriften für eine Bittschrift an den Hauptataman sammelt.«
»Was denn für eine Bittschrift?« Der Kosakenrittmeister und Tschernjak rückten näher zu Selzer heran.
»Eine Bittschrift über die Abschaffung der Pogrome. Sie wissen wohl, bei uns hat es einen furchtbaren Pogrom gegeben? Die Bevölkerung hat Angst.«
»Hab verstanden«, unterbrach ihn Tschernjak.
»Wir werden dir schon eine schöne Bittschrift verfassen, du Judenvieh.« Er wandte sich an den Rittmeister:
»Dieses Früchtchen muss in sicheren Gewahrsam. Man soll ihn zum Stab schaffen. Ich werde ihn mir selbst vorknöpfen, und da werden wir schon erfahren, wer hier Bittgesuche überreichen will.« Selzer versuchte etwas einzuwenden, aber der Rittmeister holte weit aus und versetzte ihm einen Knutenhieb über den Rücken.
»Halt die Schnauze, du Luder!«
Sich vor Schmerzen krümmend, wankte Selzer in eine Ecke. Seine Lippen bebten. Nur mit Mühe hielt er einen Weinkrampf zurück.
Während der letzten Szene hatte sich Kortschagin erhoben. Von den Häftlingen waren nur noch er und Selzer da.
Tschernjak stellte sich vor den Jungen und musterte ihn mit seinen schwarzen Augen.
»Und du, weshalb bist du hier?« Der Oberst bekam rasch die Antwort:
»Ich habe ein Stück Leder für Schuhsohlen vom Sattel abgeschnitten.«
»Von welchem Sattel?« Der Oberst begriff nicht recht.
»Bei uns sind doch zwei Kosaken einquartiert; da habe ich von einem alten Sattel ein Stück Leder abgeschnitten für Sohlen, und deshalb haben mich die Kosaken hierher gebracht.« Und von einer ungestümen Hoffnung gepackt, wieder in die Freiheit zu gelangen, fügte er hinzu: »Ich wusste ja nicht, dass man das nicht darf … «.«
Der Oberst sah Kortschagin verächtlich an.
»Womit sich dieser Kommandant bloß beschäftigt hat, weiß der Teufel! Schöne Häftlinge hat er sich da zugelegt!« Er wandte sich zur Tür und schrie im Gehen Pawel an: »Kannst nach Hause, und sag deinem Vater, er soll dir ordentlich die Hosen strammziehen. Na, mach, dass du fortkommst!«
Mit vor Freude wild klopfendem Herzen griff Pawel, der seinen Ohren kaum traute, nach Dolinniks liegen gebliebener Jacke, rannte zur Tür, durch die Wachstube auf den Hof und dann durch die Pforte auf die Straße hinaus.
Der unglückliche Selzer blieb allein zurück. Er blickte sich zerquält und sehnsüchtig um, machte instinktiv einige Schritte zur Tür, aber schon erschien ein Posten, schloss die Tür, hängte das Schloss vor und setzte sich auf einen neben der Tür stehenden Schemel.
Draußen wandte sich Tschernjak zufrieden an den Kosakenrittmeister.
»Gut, dass wir hier einen Blick hineingeworfen haben. Was sich da für ein Pack angesammelt hat - kaum zu glauben! Der Kommandant kriegt seine zwei Wochen Arrest! Reiten wir jetzt weiter!«
Im Hof ließ der Wachstubenälteste seinen Trupp Aufstellung nehmen. Als er den Obersten erblickte, lief er zu ihm und erstattete Bericht:
»Alles in Ordnung, Pan Oberst.«
Tschernjak setzte den Fuß in den Steigbügel und sprang behänd in den Sattel. Der Rittmeister mühte sich mit seinem störrischen Gaul ab. Tschernjak zog die Zügel an und sagte:
»Bestell dem Kommandanten, dass ich den ganzen Mist, den er hier angesammelt hatte, an die frische Luft gesetzt habe und dass ich ihm zwei Wochen Arrest aufbrummen werde für diese Wirtschaft hier. Der Kerl, der dringeblieben ist, muss schleunigst zum Stab gebracht werden. Die Wache soll sich fertigmachen.«
»Zu Befehl, Pan Oberst!« Der Kosak salutierte.
Der Oberst und der Rittmeister gaben ihren Pferden die Sporen und ritten im Galopp zum Platz zurück, auf dem die Parade bereits ihrem Ende entgegenging.
Über sieben Zäune war Pawel geklettert. Nun hielt er inne. Er konnte nicht mehr. Die Kräfte verließen ihn.
Die Hungertage in dem muffigen, ungelüfteten Lagerraum hatten ihn kraftlos gemacht. Nach Hause konnte er nicht, zu Brusshaks auch nicht - denn sollte etwas herauskommen, so würde die ganze Familie ins Unglück gestürzt werden. Wohin konnte er nur gehen?
Er wusste nicht, was er tun sollte, und lief und lief, vorüber an Gemüsefeldern und Gärten. Erst als er mit der Brust gegen einen Zaun prallte, kam er zur Besinnung.
Er sah sich um und erschrak: Hinter dem hohen Bretterzaun lag der Garten des Oberförsters. Also dahin hatten ihn seine müden Beine getragen! War er etwa absichtlich hierher gerannt? Nein.
Aber weshalb befand er sich denn gerade vor dem Haus des Oberförsters?
Auf diese Frage konnte er keine Antwort geben.
Jetzt musste er irgendwo Atem schöpfen und überlegen, was geschehen sollte; er wusste, im Garten stand eine Laube. Dort würde ihn niemand sehen.
Kortschagin sprang hoch, klammerte sich mit der Hand am obersten Brett fest, kletterte auf den Zaun hinauf und plumpste in den Garten. Er warf einen flüchtigen Blick auf das durch die Bäume hindurchschimmernde Haus und ging auf die Laube zu. Sie war nach allen vier Seiten offen. Im Sommer von wildem Wein umrankt, stand sie jetzt ganz kahl da.
Er wollte zum Zaun zurück, aber zu spät. Schon hörte er hinter sich das wütende Gekläff eines Hundes. Über den mit Herbstlaub bedeckten Weg sprang vom Försterhaus her ein riesiger Hund auf ihn zu, der den Garten mit seinem Gebell erfüllte.
Pawel machte sich zur Abwehr bereit.
Den ersten Ansprung wehrte er mit einem Fußtritt ab. Aber der Hund wollte nicht von ihm ablassen, er versuchte ihn abermals anzufallen. Wer weiß, wie dieser Kampf ausgegangen wäre, wenn nicht eine Pawel bekannte helle Stimme gerufen hätte:
»Tresor, hierher!«
Tonja kam den Gartenweg entlanggelaufen. Sie packte Tresor beim Halsband und zerrte ihn zurück, dann wandte sie sich an den am Zaun stehenden Pawel:
»Wie sind Sie denn hier hereingeraten? Der Hund hätte Sie ja in Stücke reißen können. Gut, dass ich…«
Sie stockte erstaunt, ihre Augen öffneten sich weit. Welch frappante Ähnlichkeit hatte doch dieser Bursche mit Kortschagin!
Die Gestalt am Zaun machte eine Bewegung und sagte leise:
»Erkennst du … Erkennen Sie mich?«
Tonja schrie auf und ging hastig auf Kortschagin zu.
»Pawluscha, du bist's?«
Tresor hielt diesen Ausruf für ein Angriffssignal und sprang mit einem Satz vor.
»Kusch!«
Der Hund erhielt von Tonja einen Klaps und lief mit eingezogenem Schwanz zum Haus.
Tonja drückte Kortschagin die Hand und fragte:
»Du bist frei?«
»Ach, du weißt also?«
Tonja, die ihrer Erregung nicht Herr werden konnte, sprudelte hervor:
»Ich weiß alles. Lisa hat es mir erzählt. Wie kommst du aber hierher? Hat man dich freigelassen?«
Kortschagin antwortete in müdem Ton:
»Ja, irrtümlicherweise freigelassen. Ich bin geflohen. Wahrscheinlich sucht man mich schon. Hierher bin ich zufällig geraten. Ich wollte mich in der Laube ein wenig verschnaufen.« Und wie um sich zu entschuldigen, fügte er hinzu: »Ich bin sehr müde.«
Sekundenlang schaute Tonja ihn an, und von aufwallendem Mitleid, heißer Zärtlichkeit, Unruhe und Freude gepackt, presste sie seine Hände.
»Pawluscha, lieber, lieber Pawka, mein guter, einziger … Ich liebe dich … Hörst du …? Du eigensinniger Junge, du, warum bist du damals weggelaufen? Jetzt kommst du zu uns, zu mir ….. Um nichts in der Welt lass ich dich wieder weg. Bei uns ist es ganz ruhig, da kannst du bleiben, solange du willst.«
Kortschagin schüttelte ablehnend den Kopf.
»Und wenn man mich bei euch findet, was wird dann werden? Nein, ich kann bei euch nicht bleiben.«
Ihre Hände umklammerten seine Finger noch fester. Ihre Lider zuckten, in den Augen standen Tränen.
»Wenn du jetzt nicht zu uns kommst, wirst du mich nie wieder sehen. Artjom ist doch nicht da. Er ist unter Bewachung auf eine Lokomotive gebracht worden. Man mobilisiert jetzt alle Eisenbahner. Wohin willst du also?«
Pawel verstand ihre Unruhe, aber die Angst, das Mädchen in Gefahr zu bringen, hielt ihn zurück. Und doch gab er, erschöpft von all dem Erlebten, von Müdigkeit und Hunger übermannt, schließlich nach. Während er in Tonjas Zimmer auf dem Diwan saß, fand in der Küche zwischen Mutter und Tochter folgendes Gespräch statt:
»Mama, in meinem Zimmer ist jetzt Kortschagin. Kannst du dich noch an ihn erinnern? Mein Schüler. Ich will dir nichts verheimlichen. Er war verhaftet, weil er einen bolschewistischen Matrosen befreit hat. Jetzt ist er geflohen und hat keine Unterkunft.« Ihre Stimme zitterte.
»Ich bitte dich, Mama, erlaub doch, dass er jetzt bei uns bleibt.«
Die Augen des Mädchens waren flehentlich auf die Mutter gerichtet. Diese schaute Tonja prüfend an.
»Gut, ich habe nichts dagegen. Aber wo willst du ihn unterbringen?«
Tonja errötete; aufgeregt und verlegen antwortete sie:
»Er kann in meinem Zimmer auf dem Diwan schlafen. Der Vater braucht vorläufig nichts davon zu wissen.«
Die Mutter sah Tonja in die Augen.
»Das war also die Ursache deiner Tränen?«
»Ja.«
»Er ist ja noch ein Junge.«
Tonja zupfte nervös an ihrer Bluse.
»Ja, aber wenn er nicht geflohen wäre, hätte man ihn wie einen Erwachsenen erschossen.«
Die Anwesenheit Kortschagins in ihrem Haus erfüllte Jekaterina Michailowna mit Unruhe. Seine Verhaftung sowie Tonjas offensichtliche Sympathie für diesen Jungen, den sie, die Mutter, gar nicht kannte, machten ihr große Sorgen.
Tonja wurde plötzlich von hausfraulichem Eifer gepackt.
»Er muss baden, Mama. Ich will sofort alles herrichten. Er ist schmutzig wie ein Schornsteinfeger, hat sich eine Ewigkeit nicht waschen können.« Geschäftig lief sie hin und her, heizte den Badeofen, legte frische Wäsche zurecht. Schließlich nahm sie Pawel bei der Hand und zog ihn ohne jede weitere Erklärung ins Badezimmer.
»Du musst alles wechseln. Hier hast du einen Anzug. Deine Sachen müssen gewaschen werden. Das hier wirst du anziehen«, sagte sie und wies auf den Stuhl, auf dem sauber und ordentlich Hosen und eine blaue Matrosenbluse mit weißem Kragen lagen. Pawel blickte erstaunt drein, Tonja lächelte.
»Das ist mein Maskenballkostüm. Es wird dir gerade passen. So, und jetzt bedien dich selbst - ich lass dich allein. Während du badest, mache ich das Essen fertig.«
Sie warf die Tür zu. Pawel blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Er zog sich schnell, aus und stieg in die Wanne.
Eine Stunde später saßen alle drei - die Mutter, Tonja und Pawel - in der Küche beim Mittagessen.
Der ausgehungerte Pawel leerte, ohne es gewahr zu werden, drei Teller. Zuerst genierte er sich vor Jekaterina Michailowna. Aber als er ihr herzliches Verhalten spürte, langte er kräftig zu und fühlte sich bald heimisch.
Nach dem Mittagessen, als sie in Tonjas Zimmer beisammensaßen, berichtete Pawel auf Bitten der Mutter von seinen Erlebnissen.
»Was wollen Sie nun weiterhin machen?« fragte ihn Jekaterina Michailowna.
Pawel sann ein wenig nach.
»Ich möchte erst mal meinen Bruder Artjom sehen und dann schleunigst von hier verschwinden.«
»Wohin?«
»Ich will mich nach Uman oder Kiew durchschlagen. Bin mir selbst noch nicht ganz klar, wohin, aber von hier muss ich unbedingt weg.«
Pawel konnte es noch immer nicht fassen, dass sich alles so schnell geändert hatte. Am Morgen war er noch im Kittchen gewesen, und jetzt saß Tonja neben ihm, er war sauber gekleidet, und - die Hauptsache - er war frei. Würde nicht die Gefahr einer neuerlichen Verhaftung über ihm schweben, er wäre restlos glücklich.
Aber jeden Augenblick konnten sie ihn holen kommen.
Er musste fort, ganz gleich, wohin, nur nicht hierbleiben.
Aber von hier wegzugehen, hat er, verdammt noch mal, gar keine Lust! Wie interessant war es, über den Helden Garibaldi zu lesen! Wie hatte er ihn beneidet. Aber das Leben dieses Garibaldi war schwer gewesen, durch die ganze Welt hatte man ihn gehetzt. Er selbst, Pawel, hat nur sieben Tage lang schreckliche Qualen erleiden müssen, und da schien es ihm schon, als sei in diesen Tagen ein Jahr verflossen. Nein, ein großer Held ist er gerade nicht!
»Woran denkst du?« fragte Tonja und neigte sich über ihn. Ihre Augen schienen ihm unergründlich in ihrem dunklen Blau.
»Tonja, wenn es dich interessiert, erzähle ich dir von Christina …«
»Erzähl«, bat Tonja lebhaft.
»… und sie kam nicht mehr zurück.« Die letzten Worte stieß er mühsam hervor.
Im Zimmer war nur das gleichmäßige Ticken der Uhr zu hören. Tonja hatte den Kopf gesenkt. Das Schluchzen saß ihr in der Kehle, sie biss sich krampfhaft auf die Lippen. Pawel blickte sie an.
»Ich muss heute noch fort von hier«, sagte er entschieden.
»Nein, nein, heute darfst du auf keinen Fall weggehen!«
Ihre zarten Finger streichelten leise sein widerspenstiges Haar.
»Tonja, du musst mir helfen. Man muss in Erfahrung bringen, wo Artjom steckt, und dann noch zu Serjosha gehen. Bei uns ist ein Krähennest, dort
habe ich die Pistole versteckt. Ich kann nicht selber hingehen. Serjosha muss sie holen. Wirst du gehen?«
Tonja stand auf.
»Ich laufe sofort zu Lisa Sucharko und dann mit ihr ins Depot. Schreib einen Zettel, ich bringe ihn Serjosha. Wo wohnt er denn? Und wenn er zu dir kommen will, soll ich ihm anvertrauen, wo du steckst?«
Pawel dachte nach und sagte dann:
»Er soll mit der Pistole abends in den Garten kommen.«
Erst spätnachmittags kehrte Tonja heim.
Pawel war fest eingeschlafen. Unter der zarten Berührung ihrer Hand erwachte er. Sie lächelte freudig.
»Artjom wird gleich hier sein. Er ist soeben angekommen. Lisas Vater hat für ihn gebürgt, und so hat man ihn auf eine Stunde weggelassen. Die Lokomotive steht im Depot. Ich konnte ihm nicht sagen, dass du hier bist. Habe ihm nur gesagt, dass ich ihm etwas sehr Wichtiges zu erzählen hätte. - Ah, da ist er ja schon.«
Tonja lief zur Tür. Artjom blieb wie angewurzelt an der Schwelle stehen und wollte seinen Augen nicht trauen. Tonja schloss rasch hinter ihm die Tür, damit der kranke Vater in seinem Zimmer nichts hören konnte.
Als Artjom den Bruder in seine Arme nahm, knackten Pawels Knochen.
»Brüderchen, Pawka!«
Pawel musste morgen weg, das stand fest.
Artjom wollte ihn auf der Lokomotive bei Brusshak unterbringen, der nach Kasatin fahren sollte.
Der sonst so raue Artjom war, besorgt um das ungewisse Schicksal seines Bruders, völlig aus dem Gleichgewicht geworfen. Jetzt kannte seine Freude keine Grenzen.
»Also morgen früh um fünf Uhr kommst du zum Holzlager. Wir werden Holz auf den Tender laden, und du versteckst dich. Ich hätte gern mehr mit dir gesprochen, aber ich muss wieder zurück. Morgen werde ich dich begleiten. Wir sollen zu einem Eisenbahnerbataillon zusammengefasst werden. Man fährt jetzt unter Bewachung - ganz wie es unter den Deutschen war.«
Artjom verabschiedete sich und ging.
Die Dämmerung brach rasch an. Pawel wartete gespannt auf Serjosha. Tonja und ihre Mutter hielten sich bei dem kranken Vater auf.
Pawel und Serjosha trafen sich am Gartenzaun. Sie drückten einander fest die Hand. Auch Walja war mitgekommen. Sie unterhielten sich flüsternd.
»Ich habe die Pistole nicht mitbringen können. Bei euch ist der ganze Hof voller Petljura-Leute. Wagen stehen umher, und Feuer haben sie angemacht. Es war einfach unmöglich, auf den Baum zu klettern. Ist eben Pech«, versuchte sich Serjosha zu rechtfertigen.
»Ach, lass nur«, beruhigte ihn Pawel.
»Wer weiß, wozu das gut ist. Vielleicht würde man die Waffe unterwegs bei mir finden, und dann könnte mich das den Kopf kosten. Aber wegholen musst du sie unbedingt.«
Walja trat zu ihm.
»Wann fährst du?«
»Morgen, Walja, sobald es hell wird.« »Aber wie bist du bloß herausgekommen, erzähl doch!« Pawel berichtete hastig im Flüsterton all seine Erlebnisse. Sie verabschiedeten sich herzlich. Serjosha scherzte nicht mehr, er war ganz aufgeregt.
»Glückliche Reise, Pawel, vergiss uns nicht«, brachte Walja mühsam heraus.
Sie gingen und waren bald in der Dunkelheit verschwunden. Im Haus war alles still. Nur die Uhr tickte gleichmäßig. Weder Tonja noch Pawel dachten ans Schlafen. Sollten sie sich doch in sechs Stunden wieder trennen und vielleicht nie mehr wieder sehen.
Und kann man denn in so kurzer Frist einander jene vielen Gedanken und Worte sagen, die jeden von ihnen im tiefsten Innern bewegten? Was kann es
Schöneres geben als die Umarmung des geliebten Mädchens und einen Kuss, der dich durchzuckt und versengt wie ein elektrischer Schlag!
Während der ganzen Freundschaft war das der zweite Kuss. Bisher war außer der Mutter niemand zärtlich zu Pawel gewesen. Nichts als Prügel hatte er kennen gelernt. Um so stärker empfand er Tonjas Zärtlichkeit. In seinem harten und bitteren Leben hatte er nie geahnt, dass es solche Freude geben konnte. Diesem Mädchen begegnet zu sein, war für Pawel ein großes Glück.
Er spürte den Duft ihres Haares und glaubte, ihre Augen zu sehen.
»Ich liebe dich so, Tonja, kann es dir gar nicht sagen, kann nicht ausdrücken, was ich empfinde.«
Seine Gedanken verwirrten sich.
Er umarmte Tonja. Wie fügsam der geschmeidige Körper ist…
»Tonja, wenn der ganze Wirbel vorbei ist, werde ich bestimmt Monteur. Wenn du mich dann noch lieb hast und es dir wirklich ernst ist und nicht nur Spielerei, so werde ich dir ein guter Mann sein. Nie werde ich dir etwas zuleide tun. Hol mich der Teufel, wenn ich dich jemals kränken sollte.«
Da sie befürchteten, in zärtlicher Umarmung einzuschlafen, die von der Mutter, wenn sie beide so fände, falsch gedeutet werden könnte, trennten sie sich.
Der Morgen graute bereits, als sie einschliefen, nachdem sie sich das Versprechen abgenommen hatten, einander nie zu vergessen.
Frühmorgens wurde Kortschagin von Jekaterina Michailowna geweckt. Rasch wurde er munter.
Während er im Badezimmer in seine Sachen schlüpfte, die Stiefel und Dolinniks Jacke anzog, weckte die Mutter auch Tonja.
Flink eilten die beiden im Morgennebel zur Station. Auf einem Umweg kamen sie zum Holzschuppen. Artjom erwartete sie bereits ungeduldig in der Nähe der mit Holz beladenen Lokomotive.
Langsam kam die in dicke Dampfwolken gehüllte schwere Lokomotive heran. Aus dem Fenster des Führerstandes blickte Brusshak.
Schnell verabschiedeten sie sich, Pawel fasste den eisernen Griff der Lokomotivtreppe und kletterte hinauf. Dann wandte er sich um. Am Bahnübergang standen zwei bekannte Gestalten: eine sehr große - das war Artjom - und neben ihm eine schlanke, zierliche - das war Tonja. Der Wind zerrte am Kragen ihrer Bluse, er zauste ihre kastanienbraunen Locken. Unentwegt winkte sie der Lokomotive nach.
Artjom warf einen Seitenblick auf die mit den Tränen kämpfende Tonja und seufzte:
»Entweder bin ich ein vollendeter Esel, oder bei den beiden stimmt was nicht. Sieh einer den Pawka an. Das ist mir ein Lausbub!«
Als der Zug außer Sicht war, wandte sich Artjom an Tonja:
»Na, also wollen wir gute Freunde werden«, und Tonjas winzige Hand verschwand in Artjoms riesiger Tatze.
Aus der Ferne war noch das Rollen des immer schneller fahrenden Zuges zu hören.
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