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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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VIERTES KAPITEL

Heftig und schonungslos tobte der Klassenkampf in der Ukraine. Immer mehr Menschen griffen zu den Waffen, und jeder Zusammenstoß ließ die Zahl der Kämpfer anwachsen.
Das ruhige Leben der Bevölkerung lag weit, weit zurück in der Vergangenheit.
Einem Sturm gleich brauste es durch das Land, die baufälligen Häuschen erzitterten unter den Kanonenschüssen. Ängstlich drückten sich die Einwohner in den Kellern und in den Gräben herum, die sie selber ausgehoben hatten.
Lawinenartig überfluteten Petljura-Banden verschiedener Färbung und Schattierung, kleine und große Atamane, eine endlose Zahl von Banditen, das Gouvernement.
Ehemalige Offiziere, rechte und linke ukrainische Sozialrevolutionäre - jeder verwegene Abenteurer, der imstande war, eine Meute Halsabschneider um sich zu scharen, erklärte sich zum Ataman, rollte zuweilen die gelb-blaue Fahne der Petljura-Anhänger auf und riss dort, wo es ihm seine Kräfte und die Lage erlaubten, die Macht an sich.
Aus diesen bunt zusammengewürfelten Banden, die durch Kulaken und galizische Regimenter aus dem Belagerungskorps des Atamans Konowalez verstärkt wurden, formierte der »Hauptataman Petljura« seine Regimenter und Divisionen. Und gegen dieses Gelichter von Sozialrevolutionären und Kulakenmeuten stürmten die roten Partisanenabteilungen vor, und die Erde erzitterte unter Hunderten und Tausenden von Pferdehufen, MG-Wagen und Munitionskarren.
Im April jenes unruhigen Jahres neunzehnhundertneunzehn pflegte sich der tödlich erschrockene und verwirrte Spießer, wenn er des Morgens den Schlaf aus den Augen rieb und die Fenster seines Häuschens öffnete, besorgt bei dem schon früher auf gestandenen Nachbarn zu erkundigen:
»Wer ist denn heute in der Stadt am Ruder, Awtonom Petrowitsch?«
Awtonom Petrowitsch zog die Hose hoch, sah sich ängstlich um und sagte:
»Ich weiß es nicht, Afanas Kirillowitsch. Nachts sind irgendwelche Truppen eingezogen. Wir werden schon sehen. Werden die Juden geplündert, so sind es Petljura-Leute. Und wenn es die ›Genossen‹ sind, dann kann man das gleich an den Gesprächen merken. Da halte ich jetzt Ausschau, um zu erfahren, wessen Bild man heute aufhängen soll, damit es einem nicht so geht wie meinem Nachbarn Gerassim Leontjewitsch. Er hatte einmal nicht ganz genau nachgeschaut und hängte ein Bild von Lenin auf. Und ausgerechnet kommen da drei Leute von einer Petljura-Abteilung zu ihm ins Haus. Kaum haben sie das Bild gesehen, fallen sie auch schon über ihn her und ziehen ihm mit der Peitsche zwanzig über. ›Wir werden dir Hundesohn, kommunistischem Luder das Fell schon gehörig gerben‹, sagten sie. Wie sehr er sich auch zu rechtfertigen suchte, wie sehr er auch schrie, es half ihm alles nichts.«
Und wenn ein Trupp Bewaffneter die Straße entlangzog, schlossen die Spießer ängstlich ihre Fenster und verkrochen sich. Sicher ist sicher …!
Bei den Arbeitern rief die gelb-blaue Fahne der Petljura-Räuber dumpfen Hass hervor. Machtlos, etwas gegen diese Welle wilden Chauvinismus zu unternehmen, atmeten sie nur dann auf, wenn die durchmarschierenden Roten nach hartem Ringen mit den von allen Seiten auf sie eindringenden Gelb-Blauen wie ein Keil ins Städtchen einbrachen. Ein, zwei Tage wehte die rote Fahne über dem Rathaus, aber der Truppenteil zog weiter, und wieder umhüllte Dämmerung die Stadt.
Zur Zeit war der Oberst Golub - der »Stolz und Ruhm« der Dneprdivision -Herr der Stadt.
Tags zuvor war seine Abteilung, zweitausend Halsabschneider stark, feierlich in die Stadt eingezogen. An der Spitze der Abteilung ritt auf einem feurigen Rappen der Pan Oberst. Trotz der warmen Aprilsonne trug er einen kaukasischen Filzumhang, eine Saporoger Lammfellmütze mit himbeerfarbenem Deckel und einen Tscherkessenrock mit der dazugehörigen Ausrüstung: Dolch und Säbel mit ziseliertem Silber.
Ein schöner Mann ist dieser Oberst Golub: große schwarze Augenbrauen, das Gesicht bleich, mit einem leichten gelblichen Schimmer - der Spur zahlloser Saufgelage. Im Mund hat er eine Pfeife. Vor der Revolution war der Pan Oberst auf den Plantagen einer Zuckerfabrik als Inspektor tätig gewesen; es war aber ein eintöniges Leben, nicht zu vergleichen mit dem eines Atamans. Und so war denn der Inspektor aus dem Schlamm, der das Land überschwemmte, als Pan Oberst Golub aufgetaucht.
Zu Ehren der Ankömmlinge wurde in dem einzigen Theater des Städtchens eine prunkvolle Feier veranstaltet. Es erschien die ganze »Blüte« der Petljura-Intelligenz: ukrainische Lehrer, die beiden Popentöchter - die ältere, die schöne Anja, und die jüngere, Dina -, auf den Hund gekommene Pans, ehemalige Angestellte des Grafen Potocki, dazu eine beträchtliche Menge Kleinbürger, die sich »freie Kosakenschaft« nannten - Nachläufer der ukrainischen Sozialrevolutionäre.
Das Theater war brechend voll. Die in grellbunte, blumenbestickte ukrainische Nationaltrachten gekleideten, mit unzähligen bunten Bändern und Glasperlenschnüren geschmückten Lehrerinnen, Popentöchter und Kleinbürgerinnen waren von einem ganzen Haufen sporenklirrender Militärs umringt, die an ein Gemälde aus der alten Saporoger Zeit erinnerten.
Das Regimentsorchester dröhnte. Auf der Bühne war man fieberhaft mit den Vorbereitungen zu der Aufführung des Schauspiels »Nasar Stodolja« beschäftigt.
Es gab kein elektrisches Licht. Man meldete das dem Pan Oberst im Stab. Er war gerade im Begriff, die Feier durch seine persönliche Anwesenheit zu ehren. Als er den Bericht seines Adjutanten, des Kosakenfähnrichs Paljanyza (so nannte sich jetzt der ehemalige zaristische Unterleutnant Poljanzew), angehört hatte, warf er lässig, aber gebieterisch hin:
»Das elektrische Licht hat zu brennen. Verreck meinetwegen, aber schaff einen Monteur her und lass das Elektrizitätswerk schleunigst in Gang setzen.«
»Zu Befehl, Pan Oberst.«
Der Fähnrich Paljanyza brauchte nicht zu verrecken, er schaffte einen Monteur herbei.
Nach einer Stunde wurde Pawel von zwei Petljura-Leuten ins Elektrizitätswerk gebracht. Dazu holte man noch einen Monteur und einen Maschinisten.
Paljanyza erklärte kurz und bündig:
»Wenn bis sieben Uhr kein Licht brennt, baumelt ihr alle drei da oben!« Er deutete mit der Hand auf eine eiserne Stange.
Dieser kurz formulierte Befehl verfehlte nicht seine Wirkung. Zur festgesetzten Zeit brannte das Licht.
Die Feier war schon in bestem Gang, als der Pan Oberst in Begleitung seiner Freundin - eines vollbusigen Mädchens mit strohgelbem Haar, der Tochter des Gastwirts, in dessen Haus er Quartier genommen hatte - das Theater betrat.
Nachdem er sich auf dem Ehrenplatz dicht an der Rampe niedergelassen hatte, gab er das Zeichen zum Beginn. Im gleichen Augenblick teilte sich auch schon der Vorhang. Vor den Augen der Zuschauer tauchte der Rücken des davoneilenden Regisseurs auf.
Während der Vorstellung pumpten sich die Offiziere in Gesellschaft ihrer Damen am Büfett ordentlich mit Selbstgebranntem voll, den der allgegenwärtige Paljanyza besorgt hatte, und sprachen eifrigst den reichhaltigen Leckerbissen zu, die in der Stadt requiriert worden waren. Gegen Ende der Aufführung
hatten alle schon einen gehörigen Schwips.
Paljanyza sprang dann auf die Bühne und verkündete theatralisch:
»Meine verehrten Herrschaften, wir werden jetzt mit dem Tanz beginnen.«
Im Saal wurde Beifall geklatscht. Alle begaben sich auf den Hof, damit die Petljura-Soldaten, die für diesen Abend zur Bewachung des Theaters mobilisiert worden waren, die Stühle wegbringen konnten und so Platz zum Tanzen geschafft wurde.
Eine halbe Stunde später ging es im Theater hoch her. Die stark angeheiterten Petljura-Offiziere tanzten wie toll einen ukrainischen Hopak mit den vor Hitze geröteten Stadtschönen, und das Stampfen der schweren Stiefel ließ die Wände des altersschwachen Theaters erzittern.
Um diese Zeit näherte sich aus der Richtung, in der die Mühle stand, eine bewaffnete Abteilung Berittener dem Städtchen.
Die am Ortseingang postierte, mit Maschinengewehren versehene Petljura-Wache bemerkte die herankommenden Reiter, wurde unruhig und machte die Maschinengewehre schussbereit. Die Verschlüsse knackten, dann wurde die nächtliche Stille durch einen schrillen Ruf unterbrochen: »Halt! Wer da?«
Aus der Dunkelheit lösten sich zwei Gestalten; eine von ihnen ritt auf die Wache zu und brüllte mit lautem, versoffenem Bass:
»Ich bin der Ataman Pawljuk mit meiner Abteilung. Und wer seid ihr? Golub-Leute?«
»Jawohl«, antwortete der vortretende Offizier.
»Wo kann ich meine Abteilung unterbringen?« fragte Pawljuk.
»Ich werde mich gleich telefonisch beim Stab erkundigen«, antwortete der Offizier und verschwand in einem kleinen, am Weg stehenden Haus.
Nach einer Minute erschien er wieder und befahl:
»Los, Jungs, weg mit dem Maschinengewehr von der Straße! Gebt dem Pan Ataman den Weg frei.«
Pawljuk zog die Zügel an und machte vor dem hell erleuchteten Theater halt, wo die Lustbarkeit ihren Höhepunkt erreicht hatte.
»Aha, da geht's ja fröhlich her«, sagte er zu dem neben ihm reitenden Kosakenhauptmann.
»Lasst uns absteigen, Gukmatsch, wir kommen gerade recht. Suchen wir uns die passenden Weiber aus. Die gibt's hier wie Sand am Meer. - He, Staleshko«, schrie er, »mach Quartier für die Jungs! Wir bleiben hier. Die Wache geht mit mir.« Er stieg schwerfällig vom Pferd.
Am Theatereingang wurde Pawljuk von zwei bewaffneten Petljura-Soldaten angehalten.
»Ihre Eintrittskarte?«
Pawljuk streifte die beiden jedoch nur mit einem verächtlichen Blick und schob den einen mit der Schulter beiseite. So folgten ihm etwa zwölf Leute seiner Abteilung. Ihre Pferde hatten sie am Gartenzaun festgebunden.
Die Neuankömmlinge erregten sofort allgemeine Aufmerksamkeit. Besonders fiel die riesige Gestalt Pawljuks auf, der einen Offiziersrock aus gutem Tuch, blaue Gardehosen und eine zottige Pelzmütze trug. Über der Schulter hatte er an einem Riemen eine Mauserpistole hängen, und aus der Tasche lugte eine Handgranate hervor.
»Wer ist das?« flüsterten die Leute, die um den Tanzboden herumstanden, wo sich Golubs Adjutant gerade stürmisch mit der älteren Popentochter im Kreis drehte. Ihre fliegenden Röcke enthüllten den begeisterten Kriegern die seidenen Höschen des außer Rand und Band geratenen Mädchens.
Pawljuk bahnte sich mit den Schultern einen Weg durch die Menge und trat in den Kreis.
Lüsternen Blicks schaute er auf die Beine der Popentochter, feuchtete die trockenen Lippen mit der Zunge an und schritt mitten durch die Tanzenden auf das Orchester zu. Er stellte sich vor die Rampe und ließ seine geflochtene Lederpeitsche knallen.
»Einen feurigen Hopak, los!«
Der Dirigent des Orchesters schenkte ihm keine Beachtung. Da holte Pawljuk heftig mit der Peitsche aus und ließ sie auf den Rücken des Dirigenten sausen. Dieser sprang auf wie von einer Tarantel gestochen.
Die Musik brach jäh ab. Im Saal trat augenblicklich Stille ein.
»So eine Frechheit!« brauste die Gastwirtstochter auf.
»Das darfst du auf keinen Fall dulden.« Erregt drückte sie den Arm Golubs.
Golub erhob sich schwerfällig von seinem Sitz, stieß mit dem Fuß einen vor ihm stehenden Stuhl um, ging drei Schritte auf Pawljuk zu und blieb dicht vor ihm stehen. Er hatte Pawljuk sofort erkannt. Mit diesem Konkurrenten um die Macht im Bezirk hatte er noch alte Rechnungen zu begleichen.
Erst vor einer Woche hatte Pawljuk dem Pan Oberst auf gemeinste Weise ein Bein gestellt.
Mitten im heftigsten Kampf mit einem roten Regiment, das die Golub-Leute nicht zum ersten Mal in die Enge trieb, war Pawljuk, anstatt die Bolschewiki von hinten anzugreifen, in eine kleine Ortschaft eingebrochen, hatte die schwachen Posten der Roten überrannt und ringsum Sperren gestellt, um dann im Ort eine Plünderung vorzunehmen, die alle bisher erlebten übertraf. Natürlich war diese Aktion, wie sich das für einen echten Petljura-Mann gehörte, gegen die jüdische Bevölkerung gerichtet gewesen.
Währenddessen hatten aber die Roten den rechten Flügel der Golub-Leute zusammengehauen und waren verschwunden.
Und jetzt war der freche Rittmeister hier eingedrungen und hat es gewagt, in Anwesenheit des Pan Oberst dessen Kapellmeister zu schlagen. Das konnte Golub keinesfalls dulden. Er verstand sehr wohl, dass es mit seiner Autorität im Regiment aus sein würde, wenn er nicht augenblicklich diesen übergeschnappten Ataman in die Schranken wies.
Einige Sekunden lang standen sie sich Auge in Auge schweigend gegenüber.
Golub, der mit der einen Hand den Säbelgriff presste und mit der anderen nach der Pistole in seiner Tasche griff, fuhr ihn an:
»Was unterstehst du dich, meine Leute zu schlagen, du Schuft?« Langsam griff auch Pawljuks Hand nach der Pistolentasche.
»Sachte, Pan Golub, sachte, sonst könnten Sie was abkriegen. Treten Sie mir nicht auf mein Lieblingshühnerauge, ich könnte vielleicht noch beleidigt sein.«
Diese höhnischen Worte waren für Golubs Geduld zuviel.
»Packt sie, schmeißt sie aus dem Theater, und zieht jedem noch fünfundzwanzig Ordentliche über!« schrie er.
Von allen Seiten warfen sich die Offiziere wie eine Koppel Jagdhunde auf die Pawljuk-Leute.
Ein Schuss knallte. Im Saal entstand ein Gedränge und ein Durcheinander, als wären zwei Rudel Hunde aufeinander losgelassen. Blindlings schlugen die Gegner mit den Säbeln aufeinander los, packten den erstbesten beim Schopf oder direkt an der Gurgel. Die zu Tode erschrockenen Frauen kreischten laut auf und drängten von den Raufenden weg.
In wenigen Minuten waren die Pawljuk-Leute entwaffnet, verprügelt, in den Hof hinausgeschleppt und auf die Straße gesetzt.
Pawljuk hatte bei der Schlägerei seine Pelzmütze eingebüßt, man hatte ihm das Gesicht blutig geschlagen und ihn entwaffnet - er raste vor Wut. Er schwang sich aufs Pferd und sprengte mit seiner Abteilung von dannen.
Der Abend war verdorben. Keinem kam es in den Sinn, sich nach diesen Vorgängen noch zu amüsieren. Die Frauen weigerten sich zu tanzen und verlangten, dass man sie nach Hause begleite; aber Golub zeigte sich bockbeinig.
»Niemand wird aus dem Saal hinausgelassen! Stellt Posten auf!«
Paljanyza beeilte sich, dem Befehl nachzukommen.
Auf die zahlreichen Proteste antwortete Golub eigensinnig einige Male:
»Es wird weitergefeiert bis zum Morgen, meine Damen und Herren. Ich werde selbst den ersten Walzer tanzen.«
Abermals setzte die Musik ein, doch zu einem vergnügten Fest sollte es nicht mehr kommen.
Kaum hatte der Oberst eine Runde mit der Popentochter getanzt, als die Posten zur Tür hereinstürmten mit den Rufen:
»Die Pawljuk-Leute umzingeln das Theater.«
Das nach der Straße gelegene Fenster neben der Bühne zersprang klirrend. Im Fensterrahmen erschien der Lauf eines Maschinengewehrs. Alle stürzten in die Mitte des Saales.
Paljanyza schoss nach der 1000-Watt-Birne an der Decke, diese platzte wie eine Bombe und überschüttete die Anwesenden mit einem Regen feiner Glassplitter.
Tiefe Finsternis.
Von der Straße her hörte man schreien:
»Alles auf den Hof hinaus!«, und es folgte ein wüstes Geschimpfe.
Das tolle, hysterische Gekreisch der Frauen, die wütenden Befehle des im Saal herumrennenden Golub, der versuchte, die kopflos gewordenen Offiziere um sich zu sammeln, die Schüsse und Rufe auf dem Hof - all dies verschmolz zu unglaublichem Lärm. Niemand hatte bemerkt, wie Paljanyza durch eine Hintertür auf die Nebenstraße hinausgeschlüpft war und zum Stab Golubs rannte.
Nach einer halben Stunde tobte in der Stadt ein regelrechtes Gefecht. Die nächtliche Stille wurde durch ununterbrochenes Gewehrknattern zerfetzt, unterstützt von dem Rattern der Maschinengewehre. Die völlig aus dem Häuschen geratenen Spießbürger sprangen aus ihren Federbetten und starrten zu den Fenstern hinaus.
Allmählich hörte die Schießerei auf. Nur am Rand der Stadt war noch hin und wieder das kurze Gebell eines Maschinengewehrs zu hören.
Der Kampf ließ nach. Der Morgen dämmerte schon …

Gerüchte über einen Pogrom gingen um in der Stadt. Sie gelangten auch in die niedrigen jüdischen Häuschen mit den schiefen Fenstern, die wie angeklebt am schmutzigen Flussabhang hockten. In diesen Schachteln, die sich Häuser nannten, kampierte in unglaublicher Enge die jüdische Armut.
In der Druckerei, in der Serjosha Brusshak bereits das zweite Jahr arbeitete, waren Setzer und Hilfsarbeiter Juden. Serjosha lebte mit ihnen in bestem Einvernehmen. Alle hielten kameradschaftlich wie eine Familie gegen den Unternehmer, den dicken, selbstzufriedenen Herrn Blumstein, zusammen. Zwischen ihm und den Druckereiarbeitern spielte sich ununterbrochen ein zäher Kampf ab. Blumstein war bestrebt, das Letzte aus den Leuten herauszupressen und die Löhne möglichst zu drücken. Deshalb waren die Arbeiter wiederholt in den Streik getreten und hatten die Druckerei zwei, drei Wochen stillgelegt. Es waren dort insgesamt vierzehn Mann beschäftigt. Serjosha war der jüngste, zwölf Stunden lang drehte er täglich das Rad der Druckpresse. Heute fiel Serjosha die besondere Unruhe unter den Arbeitern auf. In den letzten stürmischen Monaten hatte der Betrieb nur immer von Fall zu Fall Aufträge erhalten. Man druckte die Aufrufe des Hauptatamans.
Der schwindsüchtige Setzer Mendel rief Serjosha in eine Ecke und sagte:
»Weißt du, dass es in der Stadt zu Pogromen kommen wird?«
Serjosha blickte erstaunt auf.
»Nein, davon weiß ich nichts.«
Mendel legte seine knochige gelbe Hand auf Serjoshas Schulter und sagte in väterlich vertraulichem Ton:
»Es wird ganz bestimmt dazu kommen. Das ist klar. Sie werden die Juden umbringen. Ich frage dich: Willst du deinen Kollegen in der Not beistehen oder nicht?«
»Natürlich will ich das, wenn ich nur kann. Mendel, sag mir, was ich tun soll.«
»Du bist ein feiner Kerl, Serjosha, wir vertrauen dir. Dein Vater ist ja auch Arbeiter. Lauf sofort nach Haus und sprich mit deinem Vater, frag ihn, ob er bereit ist, einige alte Leute und Frauen bei sich zu verstecken. Wir werden dann vorher ausmachen, wen wir bei euch unterbringen. Berate dich dann noch mit den Deinen, bei wem man noch Leute verbergen kann. Lauf schnell,
Serjosha, jede Minute ist kostbar.«
»Gut, Mendel, kannst auf mich rechnen. Ich renne sofort zu Pawka und Klimka. Sie werden bestimmt auch jemanden aufnehmen.«
»Wart einen Augenblick«, sagte Mendel beunruhigt und hielt den schon aufbrechenden Serjosha zurück.
»Wer ist das - Pawka und Klimka? Kennst du die beiden gut?«
»Das sind meine Freunde; der Bruder von Pawka Kortschagin ist Schlosser.«
»Ah, Kortschagin«, meinte Mendel beruhigt, »den kenne ich. Ich habe mal zusammen mit ihm in einem Haus gewohnt. Dem kann man vertrauen. Geh, Serjosha, und bring uns bald Bescheid.«
Serjosha rannte los.
Die Pogrome nahmen am dritten Tag nach dem Gefecht zwischen den Pawljuk-Leuten und der Golub-Abteilung ihren Anfang.
Der geschlagene und aus der Stadt vertriebene Pawljuk hatte sich mit seinen Leuten zurückgezogen und die Nachbarortschaft besetzt. Bei dem nächtlichen Kampf hatte er zwei Dutzend Mann verloren. Ebensogross war der Verlust der Golub-Abteilung.
Die Toten wurden eiligst auf den Friedhof gebracht und noch am selben Tag ohne besondere Feierlichkeiten beerdigt, denn man hatte keinen Grund, viel Aufhebens zu machen. Zwei Atamane waren einander wie toll gewordene Hunde an die Gurgel gefahren. Keine Ursache, das Begräbnis groß aufzuziehen. Paljanyza verlangte zwar Begräbnisfeierlichkeiten, wobei er die Pawljuk-Leute zu roten Banditen erklärt haben wollte, aber das Komitee der Sozialrevolutionäre, dem der Pope Wassili vorstand, war dagegen.
Der nächtliche Zusammenstoß hatte in Golubs Regiment Unzufriedenheit hervorgerufen, besonders unter der Hundertschaft der Leibwache Golubs, deren Verluste an Toten am größten waren. Um diese Unzufriedenheit zu beseitigen und die Stimmung zu heben, machte Paljanyza dem Obersten den Vorschlag, »das Leben zu erleichtern«, wie er höhnisch die Veranstaltung eines Pogroms nannte. Er berief sich auf die in der Abteilung herrschende schlechte Stimmung und suchte so Golub die Notwendigkeit eines Pogroms zu beweisen. Angesichts der bedrohlichen Lage gab der Oberst, der anfangs nicht gewillt gewesen war, vor seiner Hochzeit mit der Gastwirtstochter die Ruhe in der Stadt zu stören, schließlich seine Zustimmung.
Die geplante Aktion kam dem Herrn Oberst auch wegen seines Eintritts in die Partei der Sozialrevolutionäre ein wenig ungelegen. Auch könnten seine Feinde noch unliebsames Gerede über ihn verbreiten, dass er, Golub, ein Pogromanstifter sei, und bestimmt würden sie ihn beim Hauptataman anschwärzen. Einstweilen jedoch war Golub nur sehr wenig vom Hauptataman abhängig, er versorgte sich mit seiner Bande auf eigene Rechnung und Gefahr. Außerdem wusste der Hauptataman nur zu gut, was für Gelichter in seinem Dienst stand, und er hatte auch selbst mehr als einmal die Bedürfnisse des Direktoriums aus so genannten »Requisitionen« befriedigt. Was übrigens Golubs Ruf als Pogromanstifter betraf, so war dieser schon seit langem solide genug begründet; da gab es nicht mehr viel hinzuzufügen.
Die Plünderei begann am frühen Morgen.
Das Städtchen lag noch im grauen Morgendunst.
Die einsamen, menschenleeren Straßen durchzogen gleich durchnässten Leinenstreifen kreuz und quer die ungleichmäßig gebauten jüdischen Viertel. Die kleinen Fenster mit den blinden Scheiben waren verhängt und die Fensterläden fest verschlossen.
Äußerlich schienen die Viertel in tiefem Schlaf zu liegen. Drinnen in den Häuschen jedoch schlief keiner. Dicht aneinandergedrängt saßen die Familien in einem der Stübchen. Nur die ganz kleinen Kinder, die von all dem, was um sie herum vorging, nichts verstanden, schliefen sorglos und ruhig in den Armen ihrer Mütter.
An diesem Morgen musste sich Salomyga, der Chef der Golubschen Leibwache - ein schwarzhaariger Bursche mit einem Zigeunergesicht und einer graublauen, von einem Säbelhieb stammenden Narbe auf der Wange -, lange
abmühen, bis er Golubs Adjutanten Paljanyza aus dem Schlaf reißen konnte.
Der Adjutant war noch nicht zu sich gekommen. Ein dummer Traum quälte ihn und ließ ihn nicht los. Ein buckliger Teufel mit scheußlich verzerrter Fratze hatte sich an seiner Kehle festgekrallt und ihm die ganze Nacht keine Ruhe gelassen. Als er schließlich den zum Zerspringen schmerzenden Kopf erhob, wurde ihm klar, dass Salomyga ihn weckte.
»Los, steh auf, verdammt noch mal!« Salomyga schüttelte ihn derb an der Schulter.
»Es ist schon spät. Man muss endlich anfangen. Hast wohl zuviel gesoffen, was?«
Paljanyza schüttelte den Schlaf ab und setzte sich auf. Ein scharfes Sodbrennen plagte ihn, er spie bitteren Speichel aus.
»Was ist denn los, womit sollen wir anfangen?« Verständnislos glotzte er Salomyga an.
»Was los ist? Wir wollen uns doch heute die Juden vornehmen. Hast du das etwa vergessen?«
Paljanyza dachte nach. Ach ja, richtig das hatte er ganz vergessen.
Gestern Abend war auf dem Gutshof, auf den sich der Pan Oberst mit seiner Braut und einem Haufen Saufkumpanen zurückgezogen hatte, ein mächtiges Gelage abgehalten worden.
Golub hatte es nämlich vorgezogen, während des Pogroms die Stadt zu verlassen; so konnte er sagen, dass in seiner Abwesenheit ein Missverständnis geschehen wäre, und Paljanyza würde die Sache schon deichseln. Oh, dieser Paljanyza war ein sehr erfahrener Fachmann, was die »Lebenserleichterung« betraf.
Paljanyza goss sich einen Eimer Wasser über den Kopf und konnte allmählich seine Gedanken sammeln. Bald lief er auch schon im Stab umher und erteilte verschiedene Befehle.
Die Leibwache war bereits aufgesessen. Um Komplikationen zu vermeiden, hatte der vorsorgliche Paljanyza Befehl erteilt, die Wege aus der Arbeitersiedlung und vom Bahnhof in die Stadt zu bewachen.
Im Garten des Leszczynskischen Hauses wurde ein Maschinengewehr aufgestellt, dessen Lauf auf die Landstraße gerichtet war. Sollten die Arbeiter die Absicht haben, sich in die Sache einzumischen, so würde es Kugeln hageln.
Als alle Vorbereitungen beendet waren, schwangen sich der Adjutant und Salomyga aufs Pferd.
Im letzten Augenblick fiel Paljanyza etwas ein.
»Halt, beinah hätt ich was vergessen. Her mit zwei Wagen. Wir wollen doch Golub ein Hochzeitsgeschenk mitbringen.« Er lachte.
»Die erste Beute kriegt wie immer der Kommandeur, und das erste Weib, das kriege ich, sein Adjutant. Hast du's verstanden, du dämlicher Trottel?«
Das bezog sich auf Salomyga.
Dieser funkelte ihn aus seinen gelblichen Augen an.
»Es wird schon für alle reichen.«
Sie ritten auf der Chaussee, an der Spitze der Adjutant und Salomyga, hinter ihnen der ungeordnete Haufen der Hundertschaft.
Allmählich lichtete sich der Morgennebel. Vor einem zweistöckigen Haus mit dem verrosteten Aushängeschild »Galanteriewarenhandlung Fuchs« ließ Paljanyza das Pferd halten.
Seine feingliedrige graue Stute stampfte unruhig mit den Hufen aufs Pflaster.
»Nun, mit Gottes Hilfe, hier fangen wir an«, sagte Paljanyza und saß ab.
»Los, Jungs, runter von den Pferden«, wandte er sich an die Begleitmannschaft.
»Gleich wird die Vorstellung beginnen. Herrschaften, haut aber niemandem den Schädel ein. Dazu ist später noch Zeit genug. Na, und die Weiber - wenn ihr nicht allzu scharf seid, haltet euch bis zum Abend zurück.«
Einer der Leute fletschte die kräftigen Zähne und wandte ein:
»Aber wieso denn, Pan Fähnrich, vielleicht haben die selber Lust dazu?«
Wieherndes Gelächter ringsum. Paljanyza blickte den Sprecher begeistert an.
»Natürlich, wenn die selber Lust haben, dann los, das kann euch niemand verbieten.«
Paljanyza ging zu der verschlossenen Ladentür und stieß heftig mit dem Fuß dagegen. Die starke Eichentür rührte sich nicht einmal.
Der Anfang musste woanders gemacht werden. Der Adjutant bog um die Ecke und wandte sich, den Säbel in der Faust, zu der Haustür, die in die Räume des Geschäftsinhabers führte. Salomyga folgte ihm.
Die Hausbewohner hatten schon längst das Stampfen der Pferdehufe auf dem Pflaster vernommen. Als dann das Getrappel vor dem Laden verstummte und Stimmen, durch die Wände zu hören waren, hatten sie ein Gefühl, als würde ihnen das Herz aus der Brust gerissen und der ganze Körper stürbe ihnen ab.
Drei Menschen waren in dem Haus. Der reiche Fuchs war schon am vorangegangenen Abend mit Frau und Töchtern aus der Stadt geflohen. Zu Hause gelassen hatte er das schüchterne und stille Dienstmädchen, die neunzehnjährige Riwa, die ihm Hab und Gut hüten sollte. Damit sie sich in der leeren Wohnung nicht fürchte, hatte er ihr geraten, ihre alten Eltern zu sich zu nehmen und bis zu seiner Rückkehr zu dritt in der Wohnung zu bleiben. Der durchtriebene Kaufmann versuchte die nur schwach widerstrebende Riwa damit zu beruhigen, dass es vielleicht gar nicht zu einem Pogrom kommen würde - was sei schon bei den Armen zu holen? Und nach seiner Rückkehr würde er ihr Stoff für ein neues Kleid schenken.
Alle drei im Haus lauschten in qualvoller Hoffnung: Vielleicht reiten sie vorüber, vielleicht haben sie sich geirrt, vielleicht haben die da gar nicht vor ihrem Haus Halt gemacht? Vielleicht ist alles nur eine Sinnestäuschung? In dem Moment aber erdröhnte, wie um all ihre Hoffnung zunichte zu machen, ein dumpfer Schlag gegen die Ladentür.
Der alte schlohweiße Peisach, der mit kindlich erschrockenen blauen Augen an der Tür stand, die in den Laden führte, murmelte ein Gebet. Mit der ganzen Leidenschaft eines Gläubigen flehte er den allmächtigen Jehova um Rettung an. Während er inständig um Abwendung des Unglücks von diesem Haus betete, näherten sich draußen Schritte.
Ein dröhnender, grober Stoß gegen die Tür ließ die beiden Alten zusammenfahren.
»Aufmachen!« Es folgte ein zweiter Stoß, noch derber als der erste, und das Fluchen wütender Stimmen.
Aber die Alten waren nicht imstande, die Hand zu heben und den Riegel beiseite zu schieben.
Nun wurde mit Gewehrkolben gegen die Tür gestoßen. Sie geriet aus den Fugen und gab krachend nach.
Das Haus füllte sich mit Bewaffneten, die sofort alle Winkel durchstöberten. Ein Stoß mit dem Gewehrkolben brach die von der Wohnung in den Laden führende Tür auf. Die Eindringlinge gingen hinein und schoben sogleich die Riegel der Außentür zurück.
Jetzt begann die Plünderei.
Als die Fuhren mit Stoffen, Schuhen und anderer Beute voll beladen waren, schaffte Salomyga alles in Golubs Wohnung. Bei seiner Rückkehr ins Haus hörte er einen verzweifelten Aufschrei.
Paljanyza hatte seinen Leuten die weitere Plünderung des Ladens überlassen und war ins Zimmer gegangen. Er musterte die drei dort mit seinen grünlichen Luchsaugen und sagte, zu den Alten gewandt:
»Schert euch weg!«
Weder der Vater noch die Mutter rührten sich.
Paljanyza trat auf sie zu und zog langsam den Säbel aus der Scheide.
»Mutter!« schrie die Tochter mit durchdringender Stimme.
Dies war der Schrei, den Salomyga vernommen hatte.
Paljanyza wandte sich an seine herbeigeeilten Kumpane und befahl kurz, auf die Alten weisend:
»Schmeißt die raus!« Und als diese mit Gewalt aus der Tür gedrängt waren, sagte Paljanyza zu dem hinzugekommenen Salomyga:
»Bleib eine Weile vor der Tür stehen - ich werde einige Worte mit dem Mädel reden.«
Als der alte Peisach einen Schrei hörte und zur Tür stürzte, traf ihn ein schwerer Schlag gegen die Brust und schleuderte ihn an die Wand. Dem Alten verging vor Schmerz der Atem. Da warf sich die sonst immer so schüchterne alte Toiba wie eine Wölfin auf Salomyga:
»Was tun Sie, was tun Sie! Lassen Sie mich durch!«
Sie stürzte zur Tür, und Salomyga war nicht imstande, ihre krampfhaft in seinen Überrock gekrallten Greisenfinger zu lösen.
Peisach, wieder zur Besinnung gekommen, eilte ihr zu Hilfe.
»Lassen Sie, lassen Sie uns durch! Oh, meine Tochter!«
Mit vereinten Kräften schoben sie Salomyga von der Tür weg. Wütend riss dieser seine Pistole heraus und versetzte dem Alten mit dem Griff einen Schlag auf den ergrauten Kopf. Lautlos brach Peisach zusammen.
Aus dem Zimmer drangen Riwas gellende Schreie.
Als Toiba, die ihrer Sinne nicht mehr mächtig war, hinausgeschleppt wurde, hallten ihre unmenschlichen Schreie und Hilferufe über die ganze Straße.
Im Haus war es still geworden.
Als Paljanyza das Zimmer verließ, sagte er, ohne Salomyga anzusehen, der schon nach der Türklinke griff:
»Geh nicht rein - mit der ist's aus. Ich habe sie ein bisschen mit dem Kissen zugedeckt.« Er schritt über den Leichnam des alten Peisach hinweg und trat in eine dicke dunkle Flüssigkeit.
»Hm, das war kein guter Anfang«, bemerkte er, als er auf die Straße hinausging.
Schweigend folgten ihm die übrigen. Ihre Füße ließen blutige Spuren auf Fußboden und Stufen zurück.
In der Stadt war bereits die Hölle los. Es kam zu einem kurzen Handgemenge unter den Plünderern, die sich über die Verteilung der Beute nicht einig werden konnten. Hier und da wurden Säbel gezückt, und fast überall gab es wüste Schlägereien.
Aus einer Kneipe wurden große eichene Fässer aufs Straßenpflaster gerollt.
Dann ging's von Haus zu Haus.
Niemand setzte sich zur Wehr. Die Räuber rannten durch die winzigen Zimmerchen, durchstöberten hastig alle Winkel und verließen dann, mit allen möglichen Gegenständen beladen, die Häuser, in denen außer Haufen von Lumpen und herumwirbelnden Federn aus dem Bettzeug nichts zurückblieb. Der erste Tag zählte nur zwei Todesopfer: Riwa und ihren Vater. In der Nacht jedoch sollten noch grauenhaftere Verbrechen geschehen.
Am Abend war die gesamte bunt zusammengewürfelte Meute bis zur Besinnungslosigkeit besoffen. In dieser Verfassung erwartete die vom Alkohol vertierte Petljura-Bande den Anbruch der Nacht.
Die Nacht ließ ihnen völlig freie Hand. In der undurchdringlichen Finsternis gehen Mord und Totschlag leichter vonstatten. Auch Schakale ziehen die Nacht bei ihren Raubzügen vor und fallen nur die bereits dem Tode Geweihten an.
Keiner wird sein Leben lang diese entsetzlichen zwei Nächte und drei Tage vergessen. Wie viele Menschen wurden zu Krüppeln geschlagen oder vernichtet, wie viele junge Köpfe ergrauten in jenen blutigen Stunden, wie viele Tränen wurden vergossen! Und wer weiß, ob jene glücklicher waren, die am Leben blieben - mit leerem Herzen, unmenschlich gepeinigt von der untilgbaren Schmach, voll von unsagbarem Kummer, dem Kummer um die erschlagenen Angehörigen. Teilnahmslos lagen junge Mädchenkörper in den Gässchen, geschändet, gefoltert, mit verrenkten Gliedmaßen, apathisch gegenüber allem, was vor sich ging.
Und nur ganz unten am Fluss, in dem Häuschen des Schmiedes Naum, stießen die Banditen, als sie seine junge Frau Sara überfielen, auf den erbittertsten Widerstand. Der athletische Schmied, in der Kraft seiner vierundzwanzig Jahre, mit den stahlharten Muskeln des geübten Hammerschlägers, wollte seine Gefährtin unter keinen Umständen hergeben.
In dem kleinen Haus kam es zu einem kurzen, aber erbitterten Gefecht, wobei zwei Petljura-Leute getötet wurden. Nachdem Naum alle Patronen verschossen hatte, opferte er die letzte Kugel seiner Frau Sara und warf sich selbst mit gefälltem Bajonett dem Tod entgegen. Von vielen Kugeln durchlöchert, sank sein schwerer Körper auf die erste Stufe der Treppe nieder.
In dem Städtchen tauchten, die wohlgenährten Pferde vor den Wagen gespannt, Großbauern aus den umliegenden Dörfern auf und beluden ihre Fuhrwerke mit allem, was ihr Gefallen erregte. Von ihren Söhnen und Verwandten aus der Golub-Abteilung begleitet, fuhren sie eilig zwei-, dreimal zwischen Dorf und Stadt hin und zurück.
Als Serjosha Brusshak, der gemeinsam mit seinem Vater die Hälfte seiner Kollegen aus der Druckerei im Keller und auf dem Boden verborgen hatte, durch den Gemüsegarten auf sein Häuschen zuging, erblickte er auf der Chaussee einen flüchtenden Mann.
Die Arme schwenkend, in einem langschößigen, geflickten Überrock, ohne Mütze, rannte dort keuchend ein alter Jude, mit totenbleichem Gesicht, gejagt von einem Petljura-Mann auf einem grauen Pferd, der gerade zum Schlag ausholen wollte. Als der Alte das Pferd dicht hinter sich hörte, machte er eine Handbewegung, als wollte er sich vor dem drohenden Hieb schützen. Serjosha lief auf die Chaussee, sprang schützend vor den Alten und warf sich dem Pferd entgegen:
»Untersteh dich, du Bandit, du Hund!«
Der Berittene, der gar nicht daran dachte, den Säbelhieb aufzuhalten, ließ die flache Klinge auf den weißblonden Kopf des Jungen niedersausen.

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