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Nikolai Ostrowski – Wie der Stahl gehärtet wurde (1934)
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ZWEITES KAPITEL

Nachdenklich nahm Fjodor die kurze Pfeife aus dem Mund und drückte behutsam auf die Asche. Die Pfeife war ausgegangen.
Gleich einer Wolke schwebte grauer Zigarettenrauch unter der matt beleuchteten Zimmerdecke. Alle, die in der Ecke des Zimmers um den Tisch herum Platz genommen hatten, waren wie in feinen Nebel gehüllt.
Neben dem Vorsitzenden des Gouvernements-Exekutivkomitees saß, vornübergebeugt, Tokarew. Der Alte zupfte zornig an seinem Bärtchen und schielte ab und zu auf einen kleinen glatzköpfigen Menschen, der da mit Fistelstimme weitschweifig Phrasen drosch.
Akim fing den scheelen Blick des Schlossers auf und erinnerte sich plötzlich an seine Kindheit. Zu Hause hatten sie einen kampflustigen Hahn, der hatte genauso geblickt, bevor er auf jemanden losging.
Die Sitzung des Gouvernements-Parteikomitees dauerte bereits fast zwei Stunden. Der Glatzköpfige war Vorsitzender des Eisenbahnforstkomitees. Nervös wühlte er mit zitternden Fingern in einem Stoß von Papieren herum und schien jetzt endlich zum Schluss kommen zu wollen.
»… Also diese eben erwähnten objektiven Bedingungen geben uns keine Möglichkeit, den Beschluss des Gouvernements-Parteikomitees und der Eisenbahnverwaltung zu erfüllen. Und ich betone nochmals, auch in einem Monat werden wir nicht mehr als vierhundert Kubikmeter Holz liefern können. Und was euren Auftrag betrifft, hundert-achtzigtausend Kubikmeter zu liefern, so ist
das einfach« - der Glatzköpfige suchte nach Worten - »eine Utopie!« Erregt blickte er auf die Anwesenden und schloss den kleinen Mund mit der Miene eines Beleidigten.
Es folgte ein langes Schweigen.
Fjodor klopfte auf die Pfeife und ließ die Asche herausfallen. Endlich unterbrach Tokarew das Schweigen mit seinem tiefen Bass.
»Lassen Sie das Wiederkäuen. Das Eisenbahnforstkomitee hatte also kein Holz, hat jetzt keins und wird auch keins haben … Das wollen Sie doch sagen?«
Der Glatzkopf zuckte mit den Achseln.
»Entschuldigen Sie, Genosse, das Holz haben wir bereitgestellt, es fehlt aber an Transportmitteln.« Das Männchen hüstelte, wischte sich mit einem karierten Taschentuch die glänzende Glatze ab, wonach es sich vergebens bemühte, das Tuch wieder in die Tasche zu stecken, und es schließlich nervös unter die Aktentasche schob.
»Was habt ihr also getan, um das Holz heranzuschaffen? Seit der Verhaftung der an der Verschwörung beteiligten führenden Spezialisten ist doch eine geraume Zeit vergangen«, ließ sich Deneko aus einer Ecke vernehmen.
Der Glatzkopf wandte sich an ihn.
»Ich habe ja der Eisenbahnverwaltung dreimal mitgeteilt, dass wir es ohne Transportmittel nicht schaffen können …« Tokarew unterbrach ihn.
»Das haben wir schon gehört«, sagte der Schlosser giftig und warf einen feindseligen Blick auf den Glatzenmann.
»Sie halten uns wohl für Dummköpfe?«
Dem Männchen lief bei dieser Frage ein kalter Schauer über den Rücken.
»Für die Handlungen der Konterrevolutionäre trage ich keine Verantwortung«, erwiderte er, schon leise.
»Sie waren doch darüber unterrichtet, dass die Arbeiten weit von der Eisenbahnlinie entfernt durchgeführt wurden?« fragte Akim.
»Ja, davon hatte ich gehört. Ich konnte aber die Leitung doch nicht auf die Mängel der Arbeit in einem fremden Revier hinweisen.«
»Wie viele Angestellte haben Sie?« forschte der Vorsitzende des Gewerkschaftsrates den Glatzkopf aus.
»Etwa zweihundert.«
»Also auf jeden dieser Schmarotzer entfällt ein Kubikmeter im Jahr!« Tokarew spuckte wütend aus.
»Wir geben dem gesamten Eisenbahnforstkomitee Extrarationen, nehmen sie den Arbeitern vom Munde weg. Und womit befasst ihr euch? Was habt ihr mit den zwei Waggons Mehl gemacht, die wir euch für eure Arbeiter gegeben haben?« schrie der Vorsitzende des Gewerkschaftsrats.
Von allen Seiten wurde der Glatzkopf mit anklagenden Fragen überschüttet. Er wich ihnen aus, wie ein Schuldner lästigen Gläubigern ausweicht, die die Einlösung ihrer Wechsel fordern.
Aalglatt versuchte er um jede direkte Antwort herumzukommen. Nervös irrten seine Augen von einem zum anderen. Er witterte deutlich die nahende Gefahr und hatte nur den einen Wunsch, sobald wie möglich von hier wegzukommen.
Fjodor, der den Antworten des Glatzkopfes aufmerksam lauschte, schrieb auf einen Notizblock:
»Ich bin der Ansicht, dass man diesen Menschen näher prüfen muss, hier handelt es sich nicht um bloße Unfähigkeit. Ich habe bereits einiges Material über ihn … Die jetzige Unterredung mit ihm ist sinnlos. Mag er verschwinden, und gehen wir lieber zur Sache über.«
Der Vorsitzende des Gouvernements-Exekutivkomitees überflog den ihm übergebenen Zettel und nickte Fjodor zu. Shuchrai erhob sich und ging ins Vorzimmer zum Telefon. Als er zurückkehrte, verlas der Vorsitzende gerade den Schluss der Resolution:
»… wegen offensichtlicher Sabotage ist die Leitung des Eisenbahnforstkomitees abzusetzen. Die Frage der Holzbeschaffung ist der Untersuchungsbehörde zu übergeben.«
Der Glatzkopf hatte Schlimmeres erwartet. Durch die Absetzung »wegen Sabotage« wurde zwar seine Zuverlässigkeit bezweifelt, aber das war eine Kleinigkeit. Und was die Sache in Bojarka betraf, so brauchte er sich nicht zu beunruhigen, das war ja nicht in seinem Revier. Er hatte schon befürchtet, sie seien irgendwie dahinter gekommen …..
Während er seine Papiere in die Aktentasche steckte, sagte er schon fast beruhigt:
»Nun ja, ich bin ein parteiloser Spezialist, und Sie haben das Recht, mir gegenüber misstrauisch zu sein. Mein Gewissen ist jedoch rein. Wenn ich die Aufgabe nicht erfüllt habe, so nur deshalb, weil ich es nicht vermochte.«
Niemand antwortete ihm.
Der Glatzkopf verließ das Zimmer und ging schnell die Treppe hinunter. Mit einem Gefühl der Erleichterung öffnete er die Haustür.
»Ihr Name, Bürger?« fragte ihn ein Mann im Militärmantel.
Mit Herzklopfen brachte der Glatzkopf stotternd hervor:
»Tscher …winski …«
Als er den Raum verlassen hatte, rückten die dreizehn in dem Arbeitszimmer des Vorsitzenden des Gouvernements-Exekutivkomitees enger um den großen Tisch zusammen.
»Da seht…«, sagte Shuchrai und deutete mit dem Finger auf die ausgebreitete Karte.
»Hier ist die Station Bojarka. Und sechs Kilometer entfernt ist die Stelle, wo das Holz gefällt wurde. Hier liegen 210 000 Kubikmeter Holz aufgestapelt. Eine Arbeitsarmee hat dort acht Monate lang mühselig gearbeitet, und was ist das Resultat? Verrat. Eisenbahn und Stadt sind ohne Brennmaterial, denn das Holz muss erst sechs Kilometer weit zur Station gebracht werden. Um das zu schaffen, brauchen wir mindestens fünftausend Fuhrwerke für einen vollen Monat, und auch dann schaffen wir es nur unter der Bedingung, dass sie täglich zweimal die Strecke zurücklegen. Das nächste Dorf ist aber fünfzehn Kilometer entfernt. Obendrein treibt sich noch Orlik mit seiner Bande in dieser Gegend herum … Versteht ihr, was das alles bedeutet? Schaut her, laut Plan sollte das Holzfällen hier beginnen und in Richtung Bahnhof fortgesetzt werden. Statt dessen haben diese Halunken den Schlag immer tiefer in den Wald hineingetrieben, und der Hieb sitzt: Wir sind nicht imstande, das gefällte Holz zur Bahn zu transportieren. Wir können nicht einmal hundert Fuhrwerke aufbringen. Seht ihr, von welcher Seite sie uns zu schlagen versuchen …? Das ist nicht weniger gefährlich als die Vorbereitungen des Aufstandskomitees.«
Shuchrais geballte Faust fiel schwer auf das gewachste Papier.
Jeder der Anwesenden war sich klar über die furchtbaren Folgen, die Shuchrai nicht einmal erwähnt hatte. Der Winter stand vor der Tür. Krankenhäuser, Schulen, Behörden und Hunderttausende von Menschen werden der Kälte ausgeliefert sein.
Die Komiteemitglieder überlegten.
Fjodor öffnete die Faust.
»Es gibt nur einen Ausweg, Genossen: Wir müssen im Laufe von drei Monaten eine Schmalspurbahn bauen, die von der Station zu dem Holzplatz - also sieben Kilometer weit - führt, und dabei berechnen, dass sie in anderthalb Monaten schon zum Ausgangspunkt des Holzschlages herangebracht werden muss. Ich beschäftige mich bereits die ganze Woche mit dieser Frage. Dazu brauchen wir«, Shuchrais Stimme klang heiser, »dreihundertfünfzig Arbeiter und zwei Ingenieure. Schienen und sieben Lokomotiven sind in Pustscha-Wodiza vorhanden. Die Komsomolzen haben sie dort auf einem Lagerplatz ausfindig gemacht. Vor dem Krieg hat man nämlich schon einmal die Absicht gehabt, eine Schmalspurbahn zu bauen, die von dort in die Stadt führen sollte. In Bojarka sind jedoch keine Wohnungen für die Arbeiter. Es gibt dort nur eine Ruine - die ehemalige Forstschule. Man muss deshalb die
Arbeiter partieweise dorthin schicken, für zwei Wochen, länger halten sie es da nicht aus. Wie wär's, wenn wir hierzu die Komsomolzen mobilisieren? Akim, wie denkst du darüber?«
Und ohne eine Antwort abzuwarten, sprach er weiter:
»Der Kommunistische Jugendverband müsste alle seine ihm zur Verfügung stehenden Reserven dahin werfen: die Organisation von Solomenka und einen Teil seiner Mitglieder aus der Stadt. Die Aufgabe ist sehr schwer. Wenn man aber den Jungen klarmacht, dass allein diese Aktion die Stadt und die Eisenbahn retten kann, so werden sie es schaffen.«
Der Eisenbahnvorsteher schüttelte ungläubig den Kopf.
»Daraus wird schwerlich etwas werden«, sagte er müde.
»An einer Stelle, wo nichts vorbereitet ist, unter den heutigen Verhältnissen eine sieben Kilometer lange Eisenbahnstrecke zu legen … im Herbst, bei Regen, und bald kommen die Fröste…«
Ohne ihn anzublicken, unterbrach ihn Shuchrai:
»Du hättest die Arbeiten auf dem Holzschlag selber genauer verfolgen sollen, Andrej Wassiljewitsch. Die Strecke werden wir bauen. Oder sollen wir etwa, die Hände im Schoß, erfrieren?«

Die letzten Kisten mit Werkzeug waren verladen. Die Zugmannschaft hatte sich auf ihre Plätze begeben. Ein feiner Sprühregen ließ alles grau in grau erscheinen. Von der vor Feuchtigkeit glänzenden Lederjacke Ritas kullerten die Regentropfen gleich Glaskügelchen herab. Rita verabschiedete sich von Toka-rew und drückte ihm kräftig die Hand. Leise sagte sie:
»Wir wünschen guten Erfolg.« Der Alte sah sie unter seinen buschigen grauen Augenbrauen warm an.
»Ja, hereingelegt haben sie uns, diese Schurken, der Teufel soll sie holen«, brummte er, die eigenen Gedanken laut beantwortend.
»Pass ordentlich auf. Sollte uns dort etwas fehlen, dann übt hier Druck aus, wo es notwendig ist. Ohne Schlendrian kann ja dieses Gesindel nicht arbeiten. Na, jetzt muss ich aber einsteigen, leb wohl, Töchterchen.«
Der Alte hüllte sich fester in seinen Rock. Im letzten Augenblick erkundigte sich Rita scheinbar ganz beiläufig:
»Fährt denn Kortschagin nicht mit? Er ist nicht unter den Jungen.«
»Er ist gestern mit dem technischen Leiter auf der Draisine vorausgefahren, um einige Vorbereitungen für unsere Ankunft zu treffen.«
Den Bahnsteig entlang kamen eilig Sharki, Dubawa und mit ihnen Anna Borchardt, das Jackett lässig über die Schulter geworfen, eine erloschene Zigarette zwischen den schlanken Fingern.
Rita betrachtete die Herankommenden und richtete noch eine letzte Frage an Tokarew:
»Wie steht es denn mit dem Unterricht, den du Kortschagin erteilst?«
Tokarew blickte erstaunt auf.
»Was für ein Unterricht? Der Junge wurde doch dir anvertraut. Er hat mir oft von dir erzählt und konnte dich nicht genug loben.«
Rita horchte misstrauisch auf.
»Stimmt das auch, Genosse Tokarew? Er hat sich doch nach meinen Stunden von dir noch mal alles erklären lassen.«
Der Alte lachte.
»Von mir …? Nicht dass ich wüsste!«
Die Lokomotive pfiff. Klavicek rief aus dem Waggon:
»Genossin Ustinowitsch, lass doch unser Papachen endlich einsteigen. So geht's doch nicht! Was sollen wir denn ohne ihn anfangen?«
Der Tscheche wollte noch etwas sagen, schwieg aber plötzlich, als er die drei Ankommenden bemerkte. Flüchtig fing er Annas besorgten Blick auf, sah betrübt, wie sie Dubawa beim Abschied zulächelte, und wandte sich dann jäh vom Fenster ab.
Der Herbstregen peitschte ins Gesicht. Dunkelgraue, wasserschwere Wolken zogen niedrig über die Erde dahin. Der Spätherbst hatte die Bäume entblößt. Mürrisch schauten die alten Hainbuchen drein, sie verbargen ihre runzlige Rinde unter braunem Waldmoos. Der erbarmungslose Herbst hatte sie ihrer üppigen Gewänder beraubt, nackt und verkümmert standen sie nun da.
Mitten im Wald lag, einsam und verlassen, die kleine Eisenbahnstation. Von dem gepflasterten Güterbahnsteig führte ein Streifen aufgelockerter Erde in den Wald, wo es von geschäftigen Menschen wimmelte.
Widerwärtig gluckste der klebrige Lehm unter den Füßen. Mit verbissener Hartnäckigkeit wurde am Bau des Bahndamms gearbeitet. Dumpf klirrten Brecheisen, und Schaufeln kratzten auf Steinen.
Der Regen fiel wie durch ein engmaschiges Netz, und die feinen kalten Tropfen durchdrangen die Kleidung. Das Werk vieler fleißiger Hände wurde vom Regen wieder hinweggespült. Gleich dickem Brei floss der Lehm die Böschung hinunter.
Die durchnässte Kleidung war kalt und schwer, doch die Menschen verließen ihre Arbeit erst am späten Abend.
Und mit jedem Tag führten sie den Streifen aufgegrabenen und gelockerten Bodens tiefer in den Wald hinein.
Unweit der Eisenbahnstation ragte einsam das steinerne Gerippe eines Gebäudes empor. Alles, was darin nicht niet- und nagelfest war, hatten Marodeure schon längst entwendet. An Stelle der Türen und Fenster gähnten Löcher, an Stelle der Ofentüren nichts als dunkle Öffnungen. Durch die Risse im Dach waren die Sparren zu sehen.
Nur der Betonboden von vier geräumigen Zimmern war heil geblieben. Hier legten sich vierhundert völlig durchnässte und vor Dreck starrende Menschen zur Nachtruhe nieder. Vor der Tür wrangen sie ihre Kleider aus, von denen schmutzige Bäche hinunterrieselten. Wütend fluchten sie über Regen und Sumpf. Sie legten sich dicht aneinander auf den dünn mit Stroh bedeckten Betonboden, bemüht, sich gegenseitig zu erwärmen. Der Regen trommelte ununterbrochen auf die Reste des Blechdaches nieder und sickerte durch die in den Fensterrahmen befestigten Säcke auf den Fußboden; überall pfiff der Wind durch.
Frühmorgens tranken sie in einer baufälligen Baracke, in der die Küche untergebracht war, Tee und gingen dann zum Bahndamm. Mittag aß man in ewigem Einerlei magere Linsensuppe, dazu anderthalb Pfund Brot, das schwarz war wie Anthrazit.
Das war alles, was ihnen die Stadt bieten konnte.
Der technische Leiter, ein hagerer, hochgewachsener Greis mit zwei tiefen Furchen in den Wangen, Valerian Nikodimowitsch Patoschkin, und der Techniker Wakulenko, ein untersetzter Mensch mit einer fleischigen Nase im grobgeschnittenen Gesicht, hatten sich beim Stationsvorsteher einquartiert.
Tokarew übernachtete in dem winzigen Zimmerchen des kurzbeinigen, quicklebendigen Eisenbahntschekisten Choljawa.
Die Bauabteilung ertrug die Entbehrungen mit verbissener Standhaftigkeit, und der Bahndamm schob sich von Tag zu Tag tiefer in den Wald hinein.
Neun Deserteure zählte die Abteilung bereits, und einige Tage darauf liefen noch fünf Arbeiter davon.
Den ersten Schlag erhielt der Bau in der zweiten Woche: Der Abendzug brachte aus der Stadt kein Brot.
Dubawa weckte Tokarew und setzte ihn davon in Kenntnis.
Der Sekretär des Parteikollektivs ließ die behaarten Beine auf den Fußboden baumeln und raufte sich wütend die Haare.
»Na also, da geht's schon los!« brummte er vor sich hin und zog sich rasch an.
Der kugelrunde Choljawa kam gerade angetrudelt.
»Los, zum Telefon, und verbinde mich mit der Sonderabteilung. Aber schnell!« befahl Tokarew.
»Und du sag über die Brotgeschichte niemandem ein Wort«, warnte er Dubawa.
Nach endlosem Schimpfen mit dem Linientelefonisten setzte der hartnäckige Choljawa die Verbindung mit dem stellvertretenden Leiter der Sonderabteilung, Shuchrai, durch. Tokarew hörte sich Choljawas Geschimpfe an und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
»Was? Ihr habt kein Brot bekommen? Ich werde gleich feststellen, wer daran schuld ist«, dröhnte Shuchrais grollende Stimme im Hörer.
»Sag mir lieber, womit wir morgen die Leute satt kriegen sollen«, brüllte Tokarew ärgerlich ins Telefon.
Shuchrai schien nachzudenken. Nach einer längeren Pause vernahm der Parteisekretär:
»Das Brot werden wir noch in der Nacht zustellen. Ich werde Hugo Litke mit dem Auto schicken. Er kennt den Weg. Gegen Morgen werdet ihr Brot haben.«
Es dämmerte schon, als das mit vollen Brotsäcken beladene schmutzstarrende Auto an der Eisenbahnstation ankam. Müde und bleich nach der schlaflosen Nacht kroch der junge Litke heraus.
Der Kampf um den Bau verschärfte sich immer mehr. Von der Eisenbahnverwaltung wurde gemeldet, es gäbe keine Bahnschwellen, und außerdem seien in der Stadt keine Transportmittel aufzutreiben, um die Eisenbahnschienen und Kleinlokomotiven zur Baustelle zu befördern.
Die Kleinlokomotiven wieder hatten, wie sich herausstellte, erhebliche Reparaturen nötig. Die zwei Wochen Einsatz für das erste Arbeiteraufgebot waren bereits abgelaufen, die Ablösenden aber noch nicht zur Stelle. Es war jedoch unmöglich, die völlig erschöpften Menschen weiterhin dazulassen.
In der alten Baracke berieten die Aktivisten beim Schein einer qualmenden Ölfunzel bis spät in die Nacht hinein.
Am nächsten Morgen fuhren Tokarew, Dubawa und Klavicek in die Stadt und nahmen noch weitere sechs Mann für die Reparatur der Lokomotiven und für den Transport der Schienen mit. Klavicek, der Bäcker von Beruf war, wurde als Kontrolleur zur Lebensmittelversorgungsabteilung delegiert. Die übrigen gingen nach Pustscha-Wodiza.

Es goss immer noch in Strömen.
Mühsam zog Kortschagin seinen Fuß aus dem klebrigen Lehm. An dem durchdringenden Kältegefühl am Fuß merkte er, dass sich die faulige Stiefelsohle völlig gelöst hatte. Seit seiner Ankunft an der Baustelle machten ihm seine stets feuchten und schmutzstarrenden Stiefel zu schaffen. Jetzt hatte sich die eine Sohle gänzlich abgetrennt, und der bloße Fuß patschte in eiskalten Lehmbrei. Der kaputte Stiefel machte ihn arbeitsunfähig.
Pawel zog den Rest der Sohle aus dem Schmutz, und während er sie verzweifelt betrachtete, brach er das sich selbst gegebene Wort, nicht mehr zu fluchen. Mit dem Überrest des Stiefels humpelte er missmutig hinüber in die Baracke, setzte sich in die Nähe der Feldküche und hielt, nachdem er den vor Dreck starrenden Fußlappen abgewickelt hatte, den halberfrorenen Fuß gegen den Ofen.
Am Küchentisch stand Odarka, die Bahnwärtersfrau, die dem Koch als Gehilfin zugeteilt worden war, und zerkleinerte rote Rüben. Die noch recht rüstige Frau war von der Natur reichlich bedacht worden: breitschultrig wie ein Mann, mit üppiger Brust und mächtigen Hüften. Geschickt hantierte sie mit dem Messer, und auf dem Tisch häufte sich rasch ein Berg geschnittenen Gemüses an.
Odarka streifte Pawel mit einem flüchtigen Blick und fragte ihn nicht allzu wohlwollend:
»Du machst dir's wohl schon zum Mittagessen bequem? Ein bisschen früh. Willst dich wohl vor der Arbeit drücken, Jungchen? Wo steckst du denn deine Füße hin? Hier ist doch eine Küche und kein Badehaus«, nahm sie Kortschagin ins Gebet.
Der bejahrte Koch trat ein.
»Mein Stiefel ist völlig kaputt«, erklärte Pawel seine Anwesenheit in der Küche.
Der Koch betrachtete den zerrissenen Stiefel, deutete auf Odarka und sagte:
»Ihr Mann ist ein halber Schuster. Er kann den Stiefel wieder in Ordnung bringen. Mit zerrissenen Stiefeln gehst du hier zugrunde.«
Nach den Worten des Kochs betrachtete die Frau Pawel genauer und wurde etwas verlegen.
»Und ich habe Sie für einen Bummelanten gehalten«, gestand sie.
Pawel lächelte verzeihend. Odarka musterte nun den Stiefel mit Kennerblick.
»Flicken wird mein Mann ihn wohl kaum noch, der taugt sowieso nichts mehr. Ich werde Ihnen aber einen alten Gummischuh bringen, damit Ihr Fuß nicht draufgeht. Bei uns auf dem Boden liegt irgendwo einer rum. Das geht doch nicht - sich so zu schinden! Heute oder morgen kommt Frost, und dann sind Sie erledigt«, sagte Odarka, jetzt schon voller Mitgefühl. Sie legte das Messer hin und verließ die Küche.
Bald darauf erschien sie mit einem hohen Gummischuh und einem Stück Leinwand. Als dann der in Leinwand eingewickelte und erwärmte Fuß im warmen Gummischuh steckte, sah Pawel die Bahnwärtersfrau mit dankbarem Blick an.

Tokarew kehrte gereizt aus der Stadt zurück, versammelte in Choljawas Zimmer das engere Aktiv und berichtete ihm die wenig erfreulichen Neuigkeiten, die er mitgebracht hatte.
»Ü berall Stockungen, wo man auch hinschaut, überall drehen sich die Räder, und nirgends kommen sie vom Fleck. Wir haben offenbar zu wenig Weiße aus ihren Nestern aufgestöbert. Sie werden uns noch lange zu schaffen machen«, stellte der Alte fest.
»Ich sage es euch ganz offen, Kinder: Die Sache steht schlecht. Das zweite Aufgebot ist noch nicht beisammen; und wie viele man überhaupt zusammenbringen wird, ist noch nicht einmal bekannt. Der Frost steht vor der Tür. Bis es soweit ist, müssen wir, koste es, was es wolle, den Sumpf überquert haben; denn wenn erst einmal Frost eingetreten ist, werden wir die Erde auch mit den Zähnen nicht aufreißen können. Nun also, Jungens, in der Stadt wird man denjenigen, die Verwirrung stiften, ordentlich auf die Finger klopfen, aber wir müssen hier unser Tempo verdoppeln. Und wenn wir tausendmal zugrunde gehen, die Zweigbahn muss fertig werden. Was wären wir denn sonst für Bolschewiki? Schweinehunde wären wir, weiter nichts.« Tokarew sagte das alles nicht im gewohnten heiseren Bass, sondern mit einer gespannten, metallischen Stimme. Unter den zusammengezogenen Brauen sprühten seine Augen vor Energie und Entschlossenheit.
»Heute noch werden wir eine geschlossene Partei- und Komsomolversammlung abhalten und dort die ganze Sache genau erklären, und morgen gehen wir alle zur Arbeit. Die Parteilosen dürfen nach Hause fahren, wir selbst jedoch bleiben hier. So lautet der Beschluss des Gouvernementskomitees.« Damit überreichte er Pankratow ein gefaltetes Blatt Papier.
Ü ber Pankratows Schulter hinweg las Kortschagin: »Es ist unbedingt notwendig, sämtliche Mitglieder des Kommunistischen Jugendverbandes bis zur ersten Holzlieferung ständig beim Bahnbau zu belassen. Für den Sekretär des Gouvernementskomitees des Jugendverbandes: R. Ustinowitsch.«

Die enge Baracke war gepfropft voll. Hundertzwanzig Menschen hatten sich dort versammelt. Sie standen an den Wänden, saßen auf den Tischen und sogar auf dem Herd. Pankratow eröffnete die Versammlung. Tokarew sprach nicht lange, aber der Schluss seiner Rede traf alle wie ein Donnerschlag.
»Die Kommunisten und die Komsomolzen kehren morgen nicht in die Stadt zurück!«
Die Hand des Alten fuhr durch die Luft, als wollte sie damit die Unabänderlichkeit dieses Beschlusses unterstreichen. Diese Geste schnitt alle Hoffnungen ab, aus diesem Dreck herauszukommen. Im ersten Moment konnte man im
Lärm der Ausrufe nichts verstehen. Die ungestüme Bewegung der Körper ließ das blinde Öllämpchen aufflackern. Dunkelheit verhüllte die Gesichter. Das Stimmengewirr wurde immer lauter. Die einen sprachen träumerisch vom »gemütlichen Heim«, die anderen regten sich auf und schreien etwas von Müdigkeit. Viele schwiegen. Aber nur ein einziger sprach von Fahnenflucht. In gereiztem Ton brüllte er aus einer Ecke:
»Zum Henker noch mal! Ich denke nicht daran, auch nur einen einzigen Tag länger hier zu bleiben! Wenn man Menschen auf Zwangsarbeit schickt, so wegen eines Verbrechens. Wofür aber sollen wir büßen? Zwei Wochen lang hält man uns hier fest. Genug. Wir lassen uns nicht zum Narren halten. Mögen die, die diesen Beschluss gefasst haben, selbst herkommen und bauen. Mag, wer will, in diesem Dreck herumwühlen. Ich lebe nur einmal auf der Welt. Morgen fahre ich ab.«
Okunew, hinter dem der Schreihals stand, zündete ein Streichholz an, um ihn sehen zu können. Das Streichholz entriss der Dunkelheit für einen Augenblick ein bösartig verzerrtes Gesicht. Okunew hatte ihn erkannt. Es war der Sohn des Buchhalters vom Versorgungskomitee.
»Was spionierst du da? Ich verstecke mich nicht, ich bin kein Dieb.« Das Streichholz erlosch. Pankratow erhob sich in seiner vollen Größe.
»Wer redet denn da so unverantwortliches Zeug? Für wen ist ein Parteiauftrag Zwangsarbeit?« fragte er mit dumpfer Stimme und streifte die Umstehenden mit ernsten Blicken.
»Genossen, wir dürfen unter keinen Umständen in die Stadt zurück, unser Platz ist hier. Wenn wir von hier türmen, so werden Menschen erfrieren. Jungs, je rascher wir unser Werk beenden, desto rascher werden wir zurückkehren, aber uns von hier verdrücken, wie das da so ein Stänkerer vorschlägt, das verbieten uns unsere Idee und unsere Disziplin.«
Der Hafenarbeiter war kein Freund von langen Reden, aber auch diese kurze Ansprache wurde von der gleichen herausfordernden Stimme unterbrochen:
»Und die Parteilosen, fahren die ab?«
»Ja«, antwortete Pankratow barsch.
Zum Tisch drängte sich ein junger Bursche in kurzem städtischem Überzieher. Wie eine Fledermaus flatterte das kleine Mitgliedsbuch über den Tisch, prallte gegen Pankratows Brust und blieb aufrecht auf dem Tisch stehen.
»Da habt ihr mein Mitgliedsbuch, bitte sehr. Wegen dieses Stückchens Papier gebe ich meine Gesundheit nicht her.«
Der Schluss des Satzes wurde von vielen durch die Baracke schwirrenden Stimmen übertönt:
»Womit schmeißt du denn um dich?«
»Ach, du Krämerseele!«
»Hast dich wohl in den Komsomol eingeschlichen, um dir ein warmes Plätzchen zu schaffen?«
»Jagt ihn hinaus!«
»Wir werden dir schon einheizen, du Schweinehund!« Der Bursche, der das Mitgliedsbuch hingeschmissen hatte, wandte sich, den Kopf eingezogen, dem Ausgang zu. Man wich dabei vor ihm wie vor einem Aussätzigen zur Seite. Krachend flog die Tür hinter ihm ins Schloss.
Pankratow knüllte das weggeworfene Mitgliedsbuch zusammen und zündete es an dem Flämmchen der Öllampe an.
Die Pappe fing Feuer und wurde zu einem verkohlten Röhrchen.

Im Wald fiel ein Schuss. Von der baufälligen Baracke lösten sich Ross und Reiter und verschwanden im Waldesdunkel. Aus der Schule und aus der Baracke eilten Leute herbei. Irgend jemand bemerkte zufällig ein in den Türspalt geschobenes Furnierbrett. Streichhölzer flammten auf. Die flackernden Flämmchen mit den Rockschößen vor dem Wind schützend, lasen sie:
»Macht, dass ihr alle von der Station fortkommt, dorthin, woher ihr gekommen seid. Wer hier bleibt, kriegt eine Kugel durch den Kopf. Alle bis zum letzten Mann werden niedergehauen. Pardon wird niemandem gegeben. Ich lasse
euch Zeit bis, morgen Nacht.« Die Unterschrift lautete: »Ataman Tschesnok.« Tschesnok gehörte zur Orlik-Bande.

In Ritas Zimmer liegt auf dem Tisch das geöffnete Tagebuch.

2. Dezember
Heute morgen ist der erste Schnee gefallen. Es herrscht starker Frost. Auf der Treppe traf ich Wjatscheslaw Olschinski. Wir gingen ein Stück zusammen.
»Ich habe eine besondere Vorliebe für den ersten Schnee. Welch ein Frost! Prachtvoll, nicht?« sagte Olschinski.
Ich dachte an Bojarka und sagte ihm, dass ich mich über Frost und Schnee gar nicht freue, im Gegenteil, sie bedrücken mich, und ich erklärte ihm den Grund.
»Das ist zu subjektiv. Wenn man Ihre Gedanken konsequent zu Ende denkt, so muss man jedes Lachen und überhaupt jede Äußerung der Lebensfreude, sagen wir zum Beispiel in Kriegszeiten, ablehnen. Aber im Leben ist das ganz anders. Die Tragödien spielen sich auf der eigentlichen schmalen Frontzone ab. Dort wird das Lebensgefühl durch die Nähe des Todes niedergedrückt. Und sogar dort wird gelacht. Aber weit hinter der Front bleibt das Leben das gleiche: Lachen, Tränen, Kummer und Freude, Genuss- und Vergnügungssucht, Aufregungen, Liebe …«
Olschinski ist Bevollmächtigter des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten. Parteimitglied ist er seit 1917. Stets tipptopp gekleidet, immer glattrasiert und leicht parfümiert. Er wohnt in unserem Haus, in Segals Wohnung. Abends sucht er mich häufig auf. Es ist durchaus interessant, sich mit ihm zu unterhalten - er kennt den Westen, hat ziemlich lange in Paris gelebt, und doch glaube ich nicht, dass wir gute Freunde werden können; denn in mir sieht er vor allem die Frau und erst dann die Parteigenossin. Er verhehlt seine Absichten und Gedanken zwar absolut nicht - er ist mutig genug, die Wahrheit zu sagen, und seine Art ist keineswegs grob. Er versteht es, alles in schöne Formen zu kleiden. Und doch gefällt er mir nicht.
Die einfache, etwas ungehobelte Art Shuchrais ist mir viel lieber als der europäische Schliff Olschinskis.
Aus Bojarka gehen kurze Berichte ein. Die Eisenbahnschwellen werden direkt in die gefrorene Erde eingehackt. Insgesamt arbeiten dort zweihundertvierzig Mann. Die Hälfte des zweiten Aufgebots ist davongelaufen. Die Arbeitsbedingungen sind wirklich schwer. Wie werden sie nur bei stärkerem Frost arbeiten? Dubawa ist schon eine Woche wieder dort. In Pustscha-Wodiza sind von acht Lokomotiven fünf instand gesetzt worden. Für die übrigen fehlen die Ersatzteile.
Gegen Dmitri ist von der Straßenbahnverwaltung ein Gerichtsverfahren anhängig gemacht worden. Er hat mit seiner Brigade gewaltsam sämtliche offenen Straßenbahnwagen angehalten, die von Pustscha-Wodiza nach der Stadt fuhren, die Fahrgäste zum Aussteigen genötigt und die Waggons mit Schienen für die Schmalspurbahn beladen. Neunzehn offene Waggons wurden so durch die Stadt zum Bahnhof befördert. Die Straßenbahner halfen mit allen Kräften.
Die Reste der Komsomolorganisation von Solomenka arbeiteten auf dem Bahnhof die ganze Nacht bei der Verladung, und Dmitri brachte mit seinen Leuten die Schienen nach Bojarka.
Akim lehnte es ab, im Büro den Fall Dubawa auf die Tagesordnung zu setzen. Dmitri berichtete über die unglaublichen Verschleppungsmethoden und den Bürokratismus in der Straßenbahnverwaltung. Dort hatte man sich kategorisch geweigert, mehr als zwei offene Straßenbahnwagen zu stellen. Tufta hielt Dubawa bei dieser Gelegenheit eine Gardinenpredigt:
»Es ist an der Zeit, mit den Partisanenmethoden Schluss zu machen. Jetzt kannst du dafür eingesperrt werden. Als könnte man zu keiner Verständigung gelangen und nicht ohne bewaffneten Übergriff auskommen.«
Ich habe Dubawa noch niemals so wütend gesehen.
»Warum hast du dich denn nicht mit ihnen verständigt, du Federfuchser? Sitzt da, so ein Blutegel, und wetzt die Zunge. In Bojarka wird man mir, wenn ich ohne Schienen komme, die Fresse einhauen. Und dich sollte man auf den Bau schicken; soll dich Tokarew mal unter die Fuchtel nehmen, damit du hier nicht herumlungerst«, dröhnte Dmitris Stimme durch das ganze Gouvernementskomitee.
Tufta gab eine schriftliche Beschwerde gegen Dubawa ab, aber Akim sprach, nachdem er mich gebeten hatte, das Zimmer zu verlassen, zehn Minuten unter vier Augen mit Tufta. Hochrot und wütend verließ dieser darauf Akims Zimmer.

3. Dezember
Im Gouvernementskomitee gibt es eine neue Affäre; diesmal ist es die Eisenbahntscheka, die Klage erhebt. Pankratow, Okunew und noch einige andere Genossen sind auf die Bahnstation Motowilowka gekommen und haben dort von den leerstehenden Gebäuden Türen und Fensterrahmen herausgenommen. Als sie ihre Beute in einen Arbeiterzug verladen wollten, versuchte der Stationstschekist, sie zu verhaften. Sie entwaffneten ihn und gaben ihm erst, nachdem sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, seine Pistole ohne Munition zurück. Türen und Fenster wurden abtransportiert. Und Tokarew wird von der Materialverwaltung der Eisenbahn beschuldigt, aus dem Bojarsker Lager zwanzig Pud Nägel eigenmächtig beschlagnahmt zu haben. Er hat sie den Bauern für die Beschaffung langer Holzscheite gegeben, die an Stelle von Eisenbahnschwellen benutzt werden.
Ich habe mit dem Genossen Shuchrai über all diese Geschichten gesprochen. Er lachte nur und sagte:
»Wir werden das schon hinkriegen!«
Die Lage auf dem Bau ist äußerst kritisch, und jeder Tag ist kostbar. Wegen jeder Kleinigkeit muss nachgestoßen werden. Wir zitieren bald den einen, bald den anderen Saboteur vor das Gouvernementskomitee. Unsere Jungen vom Bau hauen immer öfter über die Stränge.
Olschinski hat mir einen kleinen elektrischen Ofen gebracht. Olga Jurenewa und ich wärmen uns daran die Hände. Aber das Zimmer wird dadurch nicht wärmer. Wie werden sie nur so eine Nacht im Wald ertragen? Olga erzählt, dass es im Krankenhaus sehr kalt ist und dass die Kranken nicht aus den Betten herauskönnen. Es wird nur jeden dritten Tag geheizt.
Nein, Genosse Olschinski. Die Tragödie an der Front wird auch zu einer Tragödie im Hinterland!

4. Dezember
Die ganze Nacht fielen dichte Schneeflocken. In Bojarka soll alles verschneit sein. Die Arbeit ist stecken geblieben. Sie säubern jetzt die Gleise. Heute hat das Gouvernementskomitee beschlossen, dass der erste Bauabschnitt, das heißt die Strecke bis zur Grenze des Holzschlages, spätestens am 1. Januar 1922 fertig sein muss. Man erzählt, als dieser Beschluss in Bojarka mitgeteilt wurde, habe Tokarew geantwortet:
»Wenn wir bis dahin nicht krepiert sind, werden wir es schaffen.« Von Kortschagin höre ich nichts. Es ist erstaunlich, dass seinetwegen noch kein »Gerichtsverfahren«, ähnlich dem von Pankratow, eingeleitet wurde. Ich weiß übrigens bis heute noch nicht, warum er mir aus dem Wege geht.

5. Dezember
Gestern ist die Baustelle von Banden beschossen worden.

Vorsichtig setzten die Pferde ihre Hufe in den weichen, nachgiebigen Schnee. Ab und zu knackte unter der Schneedecke ein aufgestöberter Zweig, und das Pferd schnaubte. Rasch sprang es zur Seite. Nachdem es jedoch mit der Peitsche eins über die Ohren gezogen bekommen hatte, jagte es im Galopp vorwärts und holte die andern ein.
Etwa ein Dutzend Berittene überquerten den Höhenzug, von dem aus sich ein noch schneefreier schwarzer Erdstreifen hinzog.
Hier hielten die Reiter ihre Pferde an. Die Steigbügel stießen klirrend aneinander. Wiehernd schüttelte sich der vom weiten Lauf in Schweiß geratene Hengst des Vordermanns.
»Ein ganzer Haufen hat sich hier eingenistet«, meinte der Anführer.
»Nun, wir werden ihnen schon Beine machen. Der Ataman sagte, dass diese Kerle morgen von hier verschwinden müssen, sonst erreicht das lumpige Fabrikgesindel wirklich bald den Holzschlag.«
Im Gänsemarsch ritten sie in Richtung zur Bahnstation, den Damm der Schmalspurbahn entlang.
Langsam näherten sie sich der Lichtung vor der alten Forstschule. Sie ritten jedoch nicht auf die Waldwiese hinaus, sondern hielten sich immer dicht hinter den Bäumen.
Eine Salve zerriss die nächtliche Stille. Wie ein Eichhörnchen glitt ein Schneeklumpen von den Zweigen einer im Mondlicht silbern glänzenden Birke. Funken sprühten zwischen den Bäumen auf, Kugeln bohrten sich in den abbröckelnden Mauerputz. Kläglich klirrte das zersplitternde Glas der von Pankratow beschafften Fenster. Die Salve riss die Menschen vom Betonboden, brachte sie im Nu auf die Beine. Als jedoch die unheimlichen Leuchtkäfer durchs Zimmer zu schwirren begannen, warf sich ein jeder erschreckt nieder.
Sie fielen einer über den anderen.
»Wohin willst du denn?« Dubawa packte Pawel und hielt ihn am Mantel fest.
»Auf den Hof.«
»Leg dich hin, du Idiot! Sobald du dich nur zeigst, wirst du erschossen«, flüsterte Dmitri.
Sie kauerten im Zimmer dicht beieinander, unmittelbar vor der Tür. Dubawa presste sich an die Diele, die Pistole auf die Tür gerichtet. Kortschagin hockte daneben und tastete nervös das Magazin ab. Nur noch fünf Patronen sind drin!
Die Schießerei brach plötzlich ab. Alle verblüffte die eingetretene Stille.
»Jungs, wer eine Waffe hat, hierher!« befahl Dubawa im Flüsterton.
Behutsam öffnete Kortschagin die Tür.
Die Lichtung war leer. Langsam kreisend fielen die Schneeflocken zur Erde.
Und tiefer im Wald jagten zehn Reiter, ihre Pferde mit der Peitsche anspornend, von dannen.
Gegen Mittag traf aus der Stadt eine motorisierte Draisine ein. Shuchrai und Akim stiegen aus. Sie wurden von Tokarew und Choljawa empfangen.
Der Draisine wurden ein Maxim-Maschinengewehr, einige Kisten Patronen und zwei Dutzend Gewehre entnommen.
Eilig gingen sie zum Arbeitsplatz. Fjodors Mantelschöße zeichneten Zickzacklinien in den Schnee. Schwerfällig wie ein Bär tapste er dahin. Noch immer setzte er die Füße so, als hätte er das schwankende Deck eines Torpedoboots unter sich. Der lange Akim konnte mit Fjodor Schritt halten, Tokarew jedoch fiel es schwer, mitzukommen.
»Der Überfall der Bande ist noch nicht das schlimmste. Aber dieser Hügel da, der hat's in sich. Der musste uns gerade noch in die Quere kommen. Man wird viel Erde abtragen müssen.«
Der Alte machte halt, drehte sich mit dem Rücken zum Wind und zündete sich seine Pfeife an, indem er die Hand schützend vor das Streichholz hielt. Nach ein paar kräftigen Zügen lief er den Vorangegangenen nach. Akim war stehen geblieben, um auf ihn zu warten. Shuchrai schritt indessen unbeirrt weiter.
»Werden eure Kräfte ausreichen, um die Strecke bis zum Termin fertig zu stellen?« fragte Akim.
»Weißt du, mein Sohn, von Rechts wegen lässt es sich wohl nicht schaffen, aber es nicht schaffen geht nun einmal nicht, und daraus ergibt sich alles andere«, antwortete Tokarew nach einer kleinen Pause.
Sie holten Fjodor ein und gingen gemeinsam weiter. Mit verhaltener Erregung fuhr der Schlosser fort:
»Und in diesem ›aber‹ liegt eben der Hund begraben. Nur Patoschkin und ich wissen, dass es unter so hundsmiserablen Verhältnissen, mit solchem Werkzeug und einem derartigen Mangel an Arbeitskräften einfach unmöglich ist, die Strecke zu legen. Aber alle bis zum letzten Mann sind sich im klaren darüber, dass die Strecke gelegt werden muss, koste es, was es wolle. Deshalb konnte ich auch sagen: ›Wenn wir bis dahin noch nicht krepiert sind, werden wir es schaffen.‹ Schaut doch selbst, wir rackern uns hier bereits den zweiten Monat ab, das vierte Aufgebot ist schon dran. Der Stamm der Arbeiter aber ist ohne Ablösung dabei. Nur dank ihrer Jugend halten sie durch, und die Hälfte von ihnen ist schwer erkältet. Das Herz tut einem weh, wenn man sich die Jungen anschaut. Diese Prachtkerle … So manchen wird diese verfluchte gottverlassene Gegend hier noch ins Grab bringen.«
Einen Kilometer von der Station entfernt endete das vollständig fertige Schmalspurgleis.
Noch anderthalb Kilometer weiter lagen auf dem geraden Fahrdamm die in die Erde eingelassenen langen Holzscheite, die Eisenbahnschwellen, wie ein vom Wind umgewehter Bretterzaun. Noch weiter, direkt bis zum Bergabhang, war nichts als ebene Erde.
Hier arbeitete Pankratows erste Baugruppe, vierzig Menschen legten Schwellen.
Ein rotbärtiger Bauer in neuen Bastschuhen schleppte gemächlich Schwellen vom Schlitten und warf sie auf den Bahndamm. In bestimmten Abständen wurden noch mehr Schlitten ausgeladen. Zwei lange Eisenstangen lagen auf der Erde. Das waren Gleislehren, nach denen die Schwellen ausgerichtet wurden. Mit Äxten, Brechstangen und Schaufeln wurde die Erde festgestampft.
Schwellenlegen ist eine mühsame und langwierige Arbeit. Die Schwellen müssen fest und unverrückbar in der Bettung liegen, damit sich der Schienendruck gleichmäßig auf alle Schwellen verteilt.
Die Technik des Schwellenlegens kannte nur einer - der alte Vorarbeiter Lagutin, der trotz seiner vierundfünfzig Jahre noch kein einziges graues Haar hatte und einen in der Mitte gescheitelten pechschwarzen Bart trug. Er arbeitete freiwillig bereits mit dem vierten Aufgebot, ertrug gemeinsam mit der Jugend alle Entbehrungen und hatte sich die allgemeine Achtung der Abteilung erworben. Dieser Parteilose, es war Taljas Vater, hatte auf allen Parteiversammlungen stets einen Ehrenplatz inne.
Stolz auf diese Ehre, hatte der Alte gelobt, nicht vor der Beendigung des Baus wegzugehen.
»Wie kann ich euch denn allein lassen, sagt mir das doch bitte? Ihr werdet ja beim Schwellenlegen alles verkehrt machen ohne mich. Hier sind scharfe Augen und eine erfahrene Hand nötig. Ich habe ja mein Lebtag lang in ganz Russland Schwellen gelegt …«, erklärte er gutmütig bei jeder Ablösung und blieb auf der Baustelle zurück.
Patoschkin schenkte ihm volles Vertrauen und kontrollierte seinen Abschnitt nur selten. Als die drei sich den Arbeitenden näherten, lockerte der vor Schweiß triefende und rot angelaufene Pankratow gerade mit der Axt die Erde für eine Schwelle auf.
Akim erkannte den Hafenarbeiter kaum wieder. Pankratow war abgemagert, seine hohen Backenknochen traten schärfer hervor.
»Aha, die Obrigkeit aus dem Gouvernement ist eingetroffen«, sagte er und reichte Akim die heiße, feuchte Hand.
Das Klirren der Schaufeln verstummte. Akim sah ringsum blasse Gesichter. Die Soldatenmäntel und kurzen Schafpelze der Arbeitenden lagen neben ihnen auf dem Schnee.
Nachdem Tokarew mit Lagutin gesprochen hatte, nahm er Pankratow mit sich und führte die Eingetroffenen zu der Abtragstelle. Der Hafenarbeiter schritt an Fjodors Seite.
»Sag mal, Pankratow, wie ist das eigentlich mit dem Tschekisten in Motowilowka vor sich gegangen? Was meinst du, habt ihr's mit der Entwaffnung nicht doch ein wenig weit getrieben?« forschte Fjodor in ernstem Ton den wortkargen Hafenarbeiter aus.
Pankratow lächelte verlegen.
»Wir haben ihn ja mit seinem Einverständnis entwaffnet, er hat uns selbst darum gebeten. Ist ja ein prima Kerl, ganz unser Mann. Wir haben ihm alles genau erklärt, worum es sich handelt, und er sagte: ›Jungs, ich habe kein Recht, euch zu gestatten, dass ihr die Fenster und die Türen mitnehmt. Es existiert ein Befehl des Genossen Dzierzynski, die Plünderung von Bahneigentum zu verhindern. Der Stationsvorsteher hier steht mit mir auf Kriegsfuß. Er stiehlt, dieser Schurke, und ich hindere ihn daran. Wenn ich euch laufen lasse, wird er sicher eine dienstliche Anzeige gegen mich erstatten, und ich werde vors Revolutionstribunal gestellt. Entwaffnet mich lieber und trollt euch. Und wenn der Stationsvorsteher euch nicht anzeigt, so bleibt es eben dabei.‹ Und da haben wir es so gemacht. Wir haben doch die Türen und die Fenster nicht für uns privat weggeholt!«
Als Pankratow in Shuchrais Augen ein schelmisches Lächeln wahrnahm, fügte er hinzu:
»Man soll aber nur uns zur Verantwortung ziehen, den Burschen dort lassen Sie in Frieden, Genosse Shuchrai.«
»Die Sache ist erledigt. Aber in Zukunft unterbleiben bitte derartige Dinge. Das untergräbt die Disziplin. Bei uns gibt es Mittel und Wege genug, mit dem Bürokratismus auf organisierte Weise fertig zu werden. Aber lass gut sein, sprechen wir von etwas Wichtigerem«, und Fjodor begann sich nach den Einzelheiten des Überfalls zu erkundigen.

Viereinhalb Kilometer von der Station entfernt bissen sich die Spaten wütend in die Erde. Die Leute rückten dem steinigen Hügel, der ihnen im Wege stand, gehörig zu Leibe.
Und zu beiden Seiten standen Genossen, ausgerüstet mit dem Karabiner Choljawas und den Pistolen von Kortschagin, Pankratow, Dubawa und Chomutow. Das war alles, was die Abteilung an Waffen besaß.
Patoschkin hockte am Fuß des Abhangs und trug Ziffern in sein Notizbuch ein. Der Ingenieur war allein, ohne seinen Gehilfen. Wakulenko, der ein Disziplinarverfahren dem Tod durch eine Banditenkugel vorzog, hatte am Morgen Reißaus genommen.
»Für den Abbau des Hügels werden wir noch einen halben Monat brauchen. Der Boden ist völlig vereist«, sagte Patoschkin leise zu dem vor ihm stehenden, stets mürrischen, schwerfälligen und wortkargen Chomutow.
»Man hat uns für die Strecke insgesamt nur noch fünfundzwanzig Tage gegeben, und Sie rechnen für diesen Abbau hier allein fünfzehn«, erwiderte Chomutow und biss ärgerlich an seiner Schnurrbartspitze herum.
»Diese Frist ist irreal. Natürlich habe ich in meinem Leben noch nie unter solchen Verhältnissen und mit solchen Menschen gebaut. Ich kann mich also irren, was mir schon zweimal passiert ist.«
Während sie so sprachen, staksten Shuchrai, Akim und Pankratow heran. Vom Steilhang her hatte man sie schon nahen sehen.
»Schau, wer da kommt!« Petka Trofimow, ein Gewindedreher aus der Werkstatt, ein schlitzäugiger Bursche in einem alten, an den Ellbogen zerrissenen Sweater, stieß Kortschagin an und wies mit der Hand nach unten. Und schon stürmte Pawel, ohne die Schaufel aus der Hand zu legen, den Hang hinunter. Seine Augen unter dem Rotarmistenhelm strahlten. Fjodor drückte ihm lange die Hand.
»Sieh mal einer an, unser Pawel! Du bist ja kaum zu erkennen in dieser zusammengeschusterten Uniform.«
Pankratow verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
»Ja, der sieht lieblich aus. Und dazu haben ihm die Deserteure auch noch den Mantel geklaut. Pawel und Okunew haben eine Kommune gegründet. Da hat
ihm Okunew seine Jacke gegeben. Tut nichts, unser Pawel ist ein heißblütiger Bursche. Er wird sich eine Woche lang auf dem Beton wärmen - das Stroh hilft ja so gut wie gar nichts -, und dann wird er ins Gras beißen müssen«, sagte der Hafenarbeiter nicht gerade heiter zu Akim.
Der etwas stupsnasige Okunew kniff die schelmischen Augen unter den schwarzen Brauen zusammen und erwiderte:
»Unser Pawluscha wird bei uns schon nicht zugrunde gehen. Wir werden eine Versammlung abhalten und ihn zum Koch bestimmen, als Aushilfe. Dabei wird er, wenn er kein Dummkopf ist, sich tüchtig satt futtern und sich erwärmen, am Ofen oder bei der Odarka.« Die Worte gingen in herzlichem Gelächter unter. An diesem Tag wurde zum ersten Mal gelacht.
Fjodor besichtigte den Steilhang, er fuhr mit Tokarew und Patoschkin im Schlitten zum Holzschlag und kehrte zurück. Am Hang wurde noch immer hartnäckig gegraben. Fjodor sah die flitzenden Spaten, sah die angespannt gebeugten Rücken, und sagte leise:
»Ein Meeting brauchen wir nicht. Agitation ist hier überflüssig. Du hast recht, Tokarew, das sind Prachtkerle. Ja, so wird der Stahl gehärtet.«
Shuchrais Augen blickten begeistert mit herbem, liebevollem Stolz auf die Erdarbeiter. Manche von ihnen hatten ja vor kurzem noch, in der Nacht vor dem Aufstand, den Stahl des Bajonetts geführt. Und jetzt sind sie alle von dem einzigen Bestreben beseelt, das Stahlgeleise der Schienen zu den ersehnten Holzreichtümern, zur Quelle von Leben und Wärme zu legen.
Patoschkin wies Fjodor höflich, aber bestimmt nach, dass es unmöglich sei, den Einschnitt schneller als in zwei Wochen zu beenden. Fjodor lauschte den Berechnungen, und in ihm reifte ein Entschluss.
»Geben Sie den Leuten vom Abhang eine andere Arbeit. Führen Sie die Gleislegung weiter. Wir werden mit dem Hügel auf andere Weise fertig werden.«
Im Stationsgebäude saß Shuchrai lange am Telefon. Choljawa hielt vor der Tür Wache. Hinter seinem Rücken vernahm er Fjodors dumpfen Bass:
»Ruf gleich in meinem Namen den Stabschef des Militärbezirks an. Pusyrewskis Regiment soll unverzüglich zur Baustelle abkommandiert werden. Es ist notwendig, das ganze Gebiet von den Banden zu säubern. Schickt uns sofort einen Panzerzug mit einem Sprengkommando. Die weiteren Anweisungen werde ich hier erteilen. Nachts kehre ich zurück. Litke soll gegen zwölf Uhr mit dem Auto zum Bahnhof kommen.«
Akim hielt in der Baracke eine kurze Ansprache, und dann nahm Shuchrai das Wort. In kameradschaftlichem Gespräch verging unbemerkt eine Stunde. Fjodor erklärte den Arbeitern, dass die auf den 1. Januar festgelegte Frist unbedingt eingehalten werden müsse.
»Wir versetzen den Bahnbau in Kriegszustand. Die Kommunisten werden zu einer Sonderkompanie zusammengefasst. Genosse Dubawa ist zum Kompanieführer ernannt. Alle sechs Baugruppen erhalten präzise Aufgaben. Die noch auszuführenden Arbeiten werden in sechs gleiche Abschnitte aufgeteilt. Jede Gruppe erhält einen Arbeitsabschnitt. Bis zum. 1. Januar sind sämtliche Arbeiten zu beenden.
Diejenige Gruppe, die früher fertig wird, erhält Urlaub und kehrt in die Stadt zurück. Außerdem wird das Präsidium des Gouvernementskomitees beim Ukrainischen Zentralexekutivkomitee ein Gesuch einreichen, dem besten Arbeiter dieser Gruppe den Orden des Roten Banners zu verleihen.
Zu Leitern der Baugruppen werden ernannt: für den ersten Abschnitt -Genosse Pankratow, für den zweiten - Genosse Dubawa, für den dritten -Genosse Chomutow, für den vierten - Genosse Lagutin, für den fünften -Genosse Kortschagin, für den sechsten - Genosse Okunew.
Leiter des gesamten Baus bleibt«, schloss Shuchrai seine Rede, »sein geistiger Führer und Organisator, unser unersetzlicher Anton Nikiforowitsch Tokarew.«
Wie ein plötzlich aufflatternder Vogelschwarm flogen die Hände in die Höhe und klatschten Beifall. Die rauen Gesichter hellten sich auf. Die letzten in freundschaftlich-scherzhaftem Ton gesprochenen Worte des sonst so ernsten
Mannes entluden die gespannte Aufmerksamkeit zu heiterem Gelächter.
Etwa zwanzig Menschen begleiteten Akim und Fjodor zur Draisine.
Während Fjodor von Kortschagin Abschied nahm, blickte er auf dessen im Schnee steckenden Gummischuh und sagte leise:
»Ich schicke dir nächstens ein Paar Stiefel. Hast dir hoffentlich die Füße noch nicht abgefroren?«
»Es scheint da so etwas im Gange zu sein, sie beginnen anzuschwellen«, antwortete Pawel. Plötzlich erinnerte er sich an eine Bitte, die er schon längst an Fjodor hatte richten wollen, und sagte:
»Gib mir doch ein paar Patronen für meinen Revolver. Ich habe nur noch drei sichere.«
Shuchrai schüttelte bekümmert den Kopf.
Als er jedoch die Enttäuschung in Pawels Augen sah, schnallte er kurzerhand seine Mauserpistole ab.
»Hier nimm - ich schenk sie dir.«
Pawel konnte es kaum glauben, dass ihm da ein schon lange erträumtes Geschenk gemacht wurde, aber Shuchrai warf ihm den Riemen der Pistolentasche über die Schulter.
»Nimm, nimm nur! Ich weiß ja, dass du schon seit langem scharf auf die Pistole bist. Geh nur vorsichtig mit ihr um, dass du ja nicht einen von den Jungen erschießt. Hier hast du noch drei Päckchen Patronen dazu.«
Neidische Blicke streiften Pawel von allen Seiten, und jemand rief ihm zu:
»Los, Pawka, lass uns tauschen - ich geb dir ein Paar Stiefel und einen Bauernpelz dafür.«
Pankratow stieß Pawel mutwillig an.
»Tausch sie doch gegen Filzstiefel, zum Teufel. In dem Gummischuh wirst du Weihnachten sowieso nicht überleben.«
Den Fuß auf das Trittbrett der Draisine gestützt, füllte Shuchrai den Waffenschein für die geschenkte Pistole aus.

Am frühen Morgen näherte sich der Panzerzug der Station. Dumpf ratterten seine Räder. Gleich einem üppigen Federbusch stieg der schwanenweiße Dampf aus dem Schornstein und zerfloss in der kalten Winterluft.
Den gepanzerten Kästen entstiegen Leute, von Kopf bis Fuß in Leder gekleidet. Einige Stunden darauf gruben drei Mineure aus dem Panzerzug zwei mächtige Kürbisse aus brüniertem Stahl in den Hang ein, befestigten lange Zündschnüre an ihnen und gaben Signalschüsse ab. Sofort stoben die Menschen nach allen Seiten auseinander. Ein Streichholz wurde angezündet, und schon glimmte das Ende der Zündschnur auf.
Hunderte von Menschen standen einen Augenblick lang wie erstarrt. Ein, zwei Minuten banger Erwartung … und die Erde erbebte - eine furchtbare Kraft fegte die Spitze des Hügels hinweg und schleuderte riesige Erdklumpen gen Himmel. Es folgte eine zweite, noch mächtigere Detonation. Ohrenbetäubendes Getöse erdröhnte im Walddickicht. Donnernd prasselten die hochgeschleuderten Erdklumpen auf den hartgefrorenen Boden.
Dort, wo eben noch ein Hügel gestanden hatte, gähnte ein tiefes Loch, und Dutzende von Metern ringsum war der zuckerweiße Schnee mit schwarzen Erdballen bedeckt.
Leute mit Hacken und Schaufeln stürzten sich in die Sprengtrichter.

Seit Shuchrais Abfahrt war auf dem Bau ein hartnäckiger Wettstreit entbrannt - ein Wettstreit um den ersten Platz.
Noch lange vor der Dämmerung erhob sich Kortschagin leise, ohne die anderen zu stören, von seinem Lager und ging, mühsam die vor Kälte erstarrten Füße schleppend, in die Küche. Nachdem er im Kessel Teewasser aufgesetzt hatte, kehrte er in den Schlafraum zurück und weckte seine Gruppe.
Als die Abteilung antrat, war es draußen schon hell.
Während des Morgentees erschien Pankratow am Tisch, wo Dubawa mit seinen Arsenalleuten saß.
»Hast du so was schon gesehen, Dmitri? Pawel hat seine Brigade noch vor Tagesanbruch auf die Beine gebracht. Die haben sicher schon zehn Klafter gelegt. Die Jungen sagen, er habe seine Leute aus der Hauptwerkstatt derart aufgepulvert, dass sie die Arbeiten in ihrem Abschnitt bis zum 25. Dezember beenden wollen. Der hat im Sinn, uns allen den Platz an der Sonne streitig zu machen. Aber, meine Herrschaften, da haben wir auch ein Wörtchen mitzureden«, sagte er entrüstet zu Dubawa.
Dmitri lächelte sauer. Er wusste sehr genau, weshalb das Vorgehen der Gruppe aus der Hauptwerkstatt den Parteisekretär so kränkte. Auch ihm, Dubawa, hatte der gute Pawluscha eins versetzt, forderte, ohne ein Wort zu verlieren, die ganze Abteilung heraus.
»Bei aller Freundschaft, hier gilt das Motto: Wer - wen«, sagte Pankratow.
Gegen Mittag unterbrach Kortschagins Gruppe plötzlich die fieberhafte Arbeit. Der Posten, der die Gewehre bewachte, hatte zwischen den Bäumen eine Gruppe Berittener bemerkt und das Alarmsignal gegeben.
»Zu den Waffen, Jungs! Banditen!« schrie Pawel, warf die Schaufel zur Seite und rannte zum Baum, an dem seine Mauserpistole hing.
Die Gruppe griff nach den Waffen und legte sich an der Bahnböschung in den Schnee.
Die vordersten Reiter winkten aber mit den Mützen, und einer rief:
»Nicht schießen, Genossen!«
Ein halbes Hundert Berittener, an den Budjonny-Mützen den roten Stern, kam die Straße heraufgesprengt.
Es stellte sich heraus, dass es ein Zug aus Pusyrewskis Regiment war, der den Streckenbau besichtigen wollte. Pawel bemerkte das zerfetzte Ohr des Pferdes, auf dem der Kommandeur ritt. Die schöne, graue Stute mit dem weißen Mal auf der Stirn wollte nicht auf einer Stelle stehen, tänzelte hin und her. Erschrocken wich sie zurück, als Pawel auf sie zulief und ihre Zügel ergriff.
»Lyska, du Wildfang, hier treffen wir uns also wieder! Wie bist du heil davongekommen, meine einohrige Schöne!«
Zärtlich umfing er den Hals der rassigen Stute und streichelte ihre zuckenden Nüstern.
Der Kommandeur sah Pawel unverwandt an, und als er ihn erkannte, rief er verblüfft:
»Sieh einer an, das ist ja Kortschagin…! Das Pferd hat er erkannt, aber den Sereda nicht. - Grüß dich, alter Junge!«

In der Stadt waren alle Hebel in Bewegung gesetzt worden. Sharki hatte die Mitglieder des Bezirkskomitees und die bisher noch nicht mobilisierten Genossen der Organisation nach Bojarka geschickt. In Solomenka waren nur Mädchen zurückgeblieben. Im Eisenbahntechnikum hatte Sharki die Entsendung einer neuen Studentengruppe für den Bau durchgesetzt.
Als er Akim darüber Bericht erstattete, sagte er halb im Scherz:
»Jetzt bin ich mit dem weiblichen Proletariat allein zurückgeblieben. An meine Stelle setze ich die Lagutina. An die Tür hängen wir ein Schild ›Frauenabteilung‹, und ich dampfe ebenfalls nach Bojarka ab. Es geht nicht, verstehst du, dass ich mich hier als einziger Mann zwischen den Frauen herumtreibe. Die Mädel schauen mich auch so schon misstrauisch an. Wahrscheinlich schwatzen sie untereinander: ›Alle hat er davongeschickt, er selbst aber ist hier geblieben, dieser Schlaumeier‹, oder vielleicht sogar noch Schlimmeres. Bitte, erlaubt mir hinzufahren.«
Akim lehnte diese Bitte lachend ab.
In Bojarka trafen wieder Menschen ein. Auch die sechzig Eisenbahnstudenten erschienen.
Auf Shuchrais Betreiben entsandte die Eisenbahnverwaltung vier Waggons, die als Wohnung für die Neuangekommenen dienen sollten.
Die Gruppe Dubawas wurde von ihrer Arbeit entbunden und nach Pustscha-Wodiza geschickt. Sie erhielt den Auftrag, die Kleinlokomotiven und fünfundsechzig Transportwagen für Schmalspurbahnen an die Baustelle zu befördern.
Diese Arbeit wurde ebenso bewertet wie die an einem Bauabschnitt.
Vor der Abreise riet Dubawa dem Bauleiter Tokarew, Klavicek wieder zur Baustelle zu berufen, um ihm die Leitung der neuorganisierten Gruppe anzuvertrauen. Tokarew gab den entsprechenden Befehl, ohne den wahren Grund zu ahnen, der Dubawa dazu bewegen hatte, sich der Existenz des Tschechen zu erinnern. Die Ursache war aber ein Briefchen von Anna, das einer der eingetroffenen Genossen aus Solomenka gebracht hatte.
Anna schrieb: Dmitri, Klavicek und ich haben für Euch eine ganze Menge Literatur zusammengesucht. Wir senden Dir und allen anderen Kämpfern von Bojarka innige Grüße. Was seid Ihr doch für Prachtkerle! Wir wünschen Euch Kraft und Energie. Gestern sind die letzten Holzvorräte aus den Lagern verteilt worden. Klavicek lässt Euch grüßen. Er ist ein fabelhafter Kerl! Das Brot für Euch bäckt er selbst. Das vertraut er in der Bäckerei niemandem an. Selbst siebt er das Mehl, selbst knetet er den Teig mit der Maschine. Er hat irgendwo gutes Mehl aufgetrieben, und das Brot, das er liefert, ist ausgezeichnet, gar nicht zu vergleichen mit dem, das wir erhalten. Abends kommen unsere Freunde zu mir: Talja Lagutina, Artjuchin, Klavicek und manchmal Sharki. Wir setzen langsam und allmählich unseren Unterricht fort, aber größtenteils unterhalten wir uns über alles und alle, am allermeisten aber über Euch. Unsere Mädels sind empört darüber, dass Tokarow es ablehnt, sie zum Bau zuzulassen. Sie beteuern, dass sie die Entbehrungen nicht schlechter ertragen würden als alle anderen. Talja sagt: »Ich werde Vaters Kleider anziehen und bei Papachen auftauchen. Soll er versuchen, mich von dort wegzujagen.«
Sie ist fähig, das wirklich zu machen.
Grüß den Schwarzäugigen von mir. Anna.

Das Schneegestöber kam ganz plötzlich. Der Himmel überzog sich mit grauen, niedrig dahinziehenden Wolken. Der Schnee fiel in dichten Flocken. Am Abend heulte der Wind in den Schornsteinen, er rauschte in den Baumwipfeln, jagte den wirbelnden Schnee, und sein durchdringendes Pfeifen schrillte durch den Wald.
Der Schneesturm wütete mit zornigem Ungestüm die ganze Nacht hindurch. Die Menschen waren bis auf die Knochen durchfroren, obwohl die Öfen unentwegt geheizt wurden. Das halb verfallene Gebäude der Forstschule wollte nicht warm werden.
Als die Abteilung am anderen Morgen zur Arbeit antrat, versanken die Menschen im tiefen Schnee, über den Bäumen strahlte die Sonne, und am tiefblauen Himmel war kein Wölkchen zu sehen.
Die Gruppe Kortschagins säuberte ihren Streckenabschnitt vom Schnee. Erst jetzt empfand Pawel, wie quälend die Kälte einem zusetzen kann. Okunews altes Jackett wärmte ihn nicht, in den Gummischuh drang immer Feuchtigkeit, und mehr als einmal war er im Schnee stecken geblieben. Auch der Stiefel am anderen Fuß drohte völlig auseinander zufallen. Am Hals hatte Pawel zwei große Furunkel bekommen. Als Schal diente ihm Tokarews Handtuch.
Abgemagert, mit entzündeten Augen, schaufelte Pawel wütend den Schnee zur Seite. Gerade um diese Zeit kam ein Personenzug auf die Bahnstation zugekrochen. Die Lokomotive schnaufte mit letzter Kraft und konnte die Waggons kaum noch heranschleppen. Auf dem Tender lag kein einziges Holzscheit mehr, die letzten Reste kohlten in der Feuerung.
»Wenn Sie uns Holz geben, dann fahren wir weiter, wenn nicht, dann überführen Sie den Zug aufs Nebengleis, solange er sich noch fahren lässt«, rief der Lokomotivführer mit heiserer Stimme dem Stationsvorsteher zu.
Der Zug wurde aufs Nebengleis geschoben. Man teilte den niedergeschlagenen Passagieren die Ursache des Aufenthalts mit. In den überfüllten Wagen begann man zu seufzen und zu wettern.
»Sprechen Sie mit dem Alten da - er geht jetzt dort, am Bahnsteig. Das ist der Bauleiter. Er kann den Befehl erteilen, Holz für die Lokomotive auf Schlitten heranzuschaffen«, riet der Stationsvorsteher den Zugschaffnern.
»Es wird nämlich hier zum Schwellenlegen benutzt.« Und die Schaffner gingen zu Tokarew.
»Holz gebe ich euch, aber nicht umsonst. Es ist ja unser Baumaterial. Der Schnee hat uns alles verweht. Im Zug sind sechs- bis siebenhundert Passagiere. Frauen mit Kindern können im Wagen bleiben, die übrigen aber sollen sich mit Schaufeln bewaffnen und bis zum Abend Schnee schippen. Dafür gebe ich euch Holz. Sollten sie sich weigern, dann können sie ruhig bis Neujahr hier sitzen«, antwortete Tokarew den Schaffnern.
»Schaut, Jungs, was für 'ne Masse Volk da heranzieht. Sogar Frauen!« hörte Kortschagin hinter sich verwundert ausrufen. Pawel drehte sich um.
»Hier hast du hundert Mann zur Arbeit. Pass aber auf, dass sie nicht müßig herumstehen«, sagte Tokarew im Näher kommen.
Kortschagin verteilte die Arbeit an die Neueingetroffenen. Ein großer Mann in einem Eisenbahnermantel mit Pelzkragen und warmer Persianermütze drehte empört die Schaufel in der Hand hin und her und wandte sich an eine neben ihm stehende junge Dame in einer Mütze aus Seebärfell, die eine buschige Bommel zierte.
»Ich werde keinen Schnee schippen«, protestierte er.
»Niemand kann mich dazu zwingen. Wenn man mich darum bittet, kann ich als Bahningenieur die Arbeit leiten, aber Schneeschaufeln haben weder du noch ich nötig. Das sieht keine Instruktion vor. Der Alte handelt gesetzwidrig. Ich werde ihn zur Verantwortung ziehen lassen. Wer ist hier der Vorarbeiter?« erkundigte er sich bei einem der Nächststehenden. Kortschagin kam heran.
»Weshalb arbeiten Sie nicht, Bürger?« Der Mann maß Pawel verächtlich von Kopf bis Fuß.
»Wer sind denn Sie?«
»Ich bin Arbeiter.«
»Dann habe ich mit Ihnen nichts zu verhandeln. Schicken Sie mir Ihren Vorarbeiter oder sonst einen von denen da …« Kortschagin sah ihn finster an.
»Wenn Sie nicht arbeiten wollen, so lassen Sie es sein. Ohne unseren Vermerk auf der Fahrkarte kommen Sie nicht wieder in den Zug. Das ist die Anweisung unseres Bauleiters.«
»Und Sie, Bürgerin, weigern Sie sich auch zu arbeiten?« Pawel wandte sich jetzt an die junge Dame und war plötzlich wie vom Donner gerührt. Vor ihm stand Tonja Tumanowa.
Nur mit Mühe erkannte sie in dem zerlumpten Burschen Pawel Kortschagin. In abgetragener, zerrissener Kleidung und phantastischem Schuhwerk, mit einem schmutzigen Handtuch um den Hals und ungewaschenem Gesicht, stand Pawel vor ihr. Nur seine Augen glühten noch im alten Feuer. Ja, das waren seine Augen. Und es ist noch gar nicht so lange her, dass sie diesen zerlumpten Burschen, der eher einem Landstreicher glich, geliebt hat. Wie anders war doch alles geworden!
Jetzt ist sie seit kurzem verheiratet und ist gerade mit ihrem Mann auf der Hochzeitsreise in die große Stadt, wo er einen verantwortlichen Posten bei der Bahnverwaltung bekleidet. Und ausgerechnet hier muss sie ihrer Jugendliebe begegnen. Es war ihr sogar peinlich, ihm die Hand zu reichen. Was würde Wassili denken? Wie unangenehm, dass Kortschagin so heruntergekommen ist. Offensichtlich hat es der Heizer im Leben nicht weiter als bis zum Erdarbeiter gebracht.
Unentschlossen stand sie da und wurde über und über rot vor Verlegenheit. Den Bahningenieur ärgerte das, wie ihm schien, unverfrorene Benehmen dieses Landstreichers, der unverwandt seine Frau anstarrte. Er warf die Schaufel hin und ging auf Tonja zu.
»Gehen wir, Tonja. Ich kann diesen Lazzarone nicht mehr ruhig anschauen.«
Kortschagin wusste aus dem Roman »Guiseppe Garibaldi«, was Lazzarone bedeutete.
»Wenn ich ein Lazzarone bin, so bist du einfach ein irrtümlich am Leben gebliebener Bourgeois«, erwiderte er dem Bahningenieur dumpf und fügte, sich an Tonja wendend, betont kalt hinzu:
»Greifen Sie zur Schaufel, Genossin Tumanowa, und gehen Sie an die Arbeit. Nehmen Sie sich kein Beispiel an diesem gemästeten Büffel. Verzeihen Sie, ich weiß nicht, in welchen Beziehungen Sie zu ihm stehen.«
Pawel lächelte nicht besonders liebenswürdig und sagte noch mit einem Blick auf Tonjas Pelzüberschuhe flüchtig: »Hierzubleiben rate ich Ihnen nicht. Vor einigen Tagen hatten wir Banditenbesuch.«
Er drehte ihnen den Rücken zu und ging, den Gummischuh nachschleppend, zu seiner Brigade.
Pawels letzte Worte hatten auch auf den Bahningenieur ihre Wirkung nicht verfehlt. Tonja überredete ihn mitzuarbeiten.
Am Abend, nach Beendigung der Arbeit, kehrten alle zum Bahnhof zurück. Tonjas Mann war vorausgeeilt, um im Zug Plätze zu belegen. Tonja blieb stehen und ließ die Arbeiter vorübergehen. Als letzter folgte, auf die Schaufel gestützt, der völlig erschöpfte Kortschagin.
»Guten Tag, Pawluscha. Ich muss gestehen, dass ich nicht erwartet hatte, dich so wieder zu sehen. Hast du denn unter der Sowjetmacht wirklich nichts Besseres verdient, als in der Erde herumzubuddeln? Ich dachte, du seiest schon längst Kommissar oder so etwas Ähnliches geworden. Was bist du doch bloß für ein Pechvogel…«, sagte Tonja, neben ihm hergehend.
Pawel blieb stehen und maß Tonja mit erstauntem Blick.
»Ach, ich habe nicht erwartet, dich so - affektiert wieder zu sehen«, erwiderte Pawel, der einen Moment nach einem passenden, nicht allzu groben Ausdruck gesucht hatte.
Tonja errötete bis in die Ohrenspitzen.
»Du bist immer noch so grob!«
Kortschagin schwang die Schaufel auf die Schulter und ging weiter. Erst nachdem er einige Schritte zurückgelegt hatte, sagte er:
»Meine Grobheit ist noch unvergleichlich erträglicher als Ihre so genannte Höflichkeit, Genossin Tumanowa. Um mein Leben brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, da ist schon alles in Ordnung. Ihr Leben aber hat sich schlimmer gestaltet, als ich mir vorgestellt hatte. Vor zwei Jahren hast du dich noch nicht geschämt, einem Arbeiter die Hand zu reichen. Und jetzt riechst du schon ganz nach Mottenpulver. Und, offen gestanden, wir haben einander nichts mehr zu sagen.«

Pawel hatte einen Brief von Artjom erhalten. Der Bruder schrieb ihm von seiner bevorstehenden Heirat und bat ihn, unbedingt zu kommen.
Der Wind entriss Kortschagins Händen das flatternde weiße Papier und wirbelte es, einer Taube gleich, in die Höhe.
Er wird der Hochzeit nicht beiwohnen können. Ist es denn denkbar, jetzt von hier wegzufahren? Schon gestern hat dieser Bär, Pankratow, seine Gruppe überholt und stürmt in einem solchen Tempo vorwärts, dass allen Hören und Sehen vergeht. Der Hafenarbeiter steuert unaufhaltsam auf sein Ziel los und spornt, selber aus der ihm eigenen Ruhe gebracht, auch seine Leute zu unerhörten Leistungen an.
Patoschkin beobachtete den stummen und erbitterten Wettkampf der Bauarbeiter. Erstaunt fragte er sich: Was sind das bloß für Menschen? Welche unbegreifliche Kraft beseelt sie? Wenn jetzt das Wetter nur noch acht Tage anhält, so erreichen wir den Holzschlag. Das alte Sprichwort ist also wahr: Ein Menschenalter lebst du, ein Menschenalter lernst du, und im Alter bleibst du doch derselbe Narr. Diese Leute werfen mit ihrer Arbeit alle Berechnungen und Normen über den Haufen.
Aus der Stadt traf Klavicek ein und brachte frisches Brot mit. Nachdem er mit Tokarew gesprochen hatte, suchte er Kortschagin an seiner Arbeitsstelle auf. Sie begrüßten sich herzlich. Lächelnd holte Klavicek aus seinem Rucksack eine schöne gelbe schwedische Pelzjacke hervor, klatschte dabei auf das schmiegsame Chromleder und sagte:
»Die gehört dir. Errätst du, von wem? - Hoho! Du bist aber schön dumm, mein Junge! Das schickt dir Genossin Ustinowitsch, damit du Esel nicht
erfrierst. Die Jacke hat sie vom Genossen Olschinski geschenkt bekommen, und kaum aus seinen Händen empfangen, gab sie mir das kostbare Stück mit den Worten: ›Für Kortschagin.‹ Akim hatte ihr erzählt, dass du in dieser Kälte ohne Mantel arbeitest. Olschinski rümpfte dabei ein wenig die Nase. ,Ich kann ja diesem Genossen einen Mantel schicken', sagte er. Aber Rita lachte nur und meinte: ›Macht nichts, in der Jacke kann er besser arbeiten! ‹ Also nimm, da hast du sie.«
Pawel musterte erstaunt das teure Geschenk und zog es dann, ein wenig zögernd, über den verfrorenen Körper. Der weiche Pelz erwärmte rasch Schultern und Brust.

Rita schrieb in ihr Tagebuch:

20. Dezember
Schneesturm auf Schneesturm. Nichts als Wind und Schnee. In Bojarka waren sie fast am Ziel, aber Fröste und Schneegestöber haben ihnen Halt geboten. Sie versinken im Schnee. Gefrorene Erde zu graben ist sehr schwer. Es bleiben ihnen nur noch dreiviertel Kilometer, aber die schwierigsten.
Tokarew meldet, dass auf dem Bau Typhusfälle vorgekommen sind. Drei Mann sind erkrankt.

22. Dezember
Zur Plenarsitzung des Gouvernements-Jugendkomitees ist aus Bojarka niemand erschienen. Siebzehn Kilometer von Bojarka entfernt haben die Banditen einen Getreidezug zum Entgleisen gebracht. Laut Befehl des Bevollmächtigten des Volkskommissariats für Ernährung ist die gesamte Bauabteilung dorthin geschickt worden.

23. Dezember
Aus Bojarka sind weitere sieben Typhuskranke in die Stadt gebracht worden. Unter ihnen ist auch Okunew.
Ich war auf dem Bahnhof. Von den Puffern eines aus Charkow eingetroffenen Zuges wurden erstarrte Leichen heruntergeholt. In den Krankenhäusern herrscht Kälte. Verfluchter Schneesturm! Wann wird er endlich aufhören?

24. Dezember
Komme eben von Shuchrai. Es ist also wahr: Gestern Nacht hat Orlik mit seiner ganzen Bande Bojarka überfallen. Zwei Stunden lang dauerte der Kampf. Die Banditen hatten die Telefondrähte zerschnitten, und erst heute morgen gelang es Shuchrai, genaue Nachrichten zu erhalten. Die Bande ist zurückgeschlagen worden. Tokarew hat einen Brustschuss abbekommen. Heute wird er in die Stadt gebracht. Klavicek, der in jener Nacht Wachhabender war, ist umgebracht worden. Er hatte als erster die Bande bemerkt und Alarm geschlagen. Schießend zog er sich zurück, es gelang ihm jedoch nicht mehr, die Schule zu erreichen; er wurde niedergesäbelt. Von den Bauarbeitern sind elf verwundet. Ein Panzerzug und zwei Kavallerieschwadronen sind dort bereits eingetroffen.
Bauleiter ist jetzt Pankratow.
Ein Teil der Bande wurde im Laufe des Tages von Pusyrewski beim Weiler Gluboki eingeholt und bis auf den letzten Mann niedergemacht.
Viele von den parteilosen Arbeitern sind, ohne auf den Zug zu warten, zu Fuß die Strecke entlang davongelaufen.

25. Dezember
Tokarew und die übrigen Verwundeten sind in die Stadt gebracht worden. Sie liegen im Spital. Die Ärzte haben versprochen, den Alten zu retten. Er liegt bewusstlos. Das Leben der anderen Genossen ist außer Gefahr.
Das Gouvernements-Parteikomitee und wir haben aus Bojarka ein Telegramm erhalten:
»Als Antwort auf die Banditenüberfälle erklären die auf einer Kundgebung versammelten Bauarbeiter der Schmalspurbahn, gemeinsam mit der Besatzung des Panzerzuges und den Rotarmisten des Kavallerieregiments, dass wir der Stadt, trotz aller Hindernisse, am 1. Januar das Holz liefern werden. Mit Anspannung aller unserer Kräfte gehen wir an die Arbeit. Es lebe die Kommunistische Partei, die uns hierher beordert hat! Vorsitzender der Kundgebung: Kortschagin. Sekretär: Bersin.«
Klavicek wurde in Solomenka mit militärischen Ehren begraben. -

Das heißersehnte Holz war schon nahe, aber die letzten Arbeiten gingen quälend langsam voran; täglich legte der Typhus Dutzende der dringend notwendigen Hände lahm.
Schwach auf den Beinen, wie ein Betrunkener schwankend, kehrte Kortscha-gin zur Station zurück. Schon seit Tagen lief er mit hoher Temperatur umher. Heute aber spürte er das Fieber, das ihn schüttelte, stärker als sonst.
Der Bauchtyphus, der die Abteilung heimsuchte, hatte auch Pawel gepackt. Sein kräftiger Körper leistete jedoch Widerstand, und fünf Tage lang brachte er die Kraft auf, sich von dem mit Stroh bedeckten Betonboden zu erheben und gemeinsam mit den ändern zur Arbeit zu gehen. Weder die Pelzjacke noch die Filzstiefel - ein Geschenk Fjodors -, die er über die schon erfrorenen Füße gezogen hatte, konnten ihm jetzt helfen.
Bei jedem Schritt spürte er ein schmerzhaftes Stechen in der Brust, seine Zähne schlugen aufeinander, ihm schwindelte, und die Bäume schienen sich im Reigen zu drehen.
Mit Mühe erreichte er die Station. Er staunte über den ungewöhnlichen Lärm und schaute auf: Ein langer Zug stand auf der Bahnstation. Auf den offenen Wagen standen kleine Lokomotiven, Schienen und Schwellen lagen aufgestapelt - sie wurden von den Leuten abgeladen, die mit dem Zug eingetroffen waren.
Pawel machte noch einige Schritte, dann verlor er das Gleichgewicht. Er fühlte dumpf, wie sein Kopf auf den Boden aufschlug. Der Schnee kühlte die glühenden Wangen.
Man fand ihn erst nach einigen Stunden, trug ihn in die Baracke. Kortschagin atmete schwer und erkannte die ihn Umgebenden nicht. Der vom Panzerzug herbeigerufene Feldscher erklärte: »Kruppöse Lungenentzündung und Bauchtyphus. Temperatur 41,5. Dazu noch die entzündeten Gelenke und die Geschwüre am Hals. Das sind jedoch Lappalien, verglichen mit den ersten zwei Krankheiten, die völlig ausreichen, ihn ins Jenseits zu befördern.«
Pankratow und der wieder eingetroffene Dubawa taten alles, um Pawel zu retten.
Ein Landsmann Kortschagins - Aljoscha Kochanski - wurde beauftragt, den Kranken in seine Heimatstadt zu schaffen.
Unter Choljawas Druck und mit Hilfe der gesamten Brigade Kortschagins gelang es Pankratow und Dubawa schließlich, den besinnungslosen Pawel und Aljoscha in einem vollgepfropften Eisenbahnwagen unterzubringen.
Aus Angst vor Flecktyphus wollte man sie nicht hereinlassen. Die Passagiere weigerten sich und drohten, den Typhuskranken unterwegs an die Luft zu setzen.
Choljawa fuchtelte mit der Pistole vor den Nasen derer, die sich der Unterbringung des Kranken widersetzten, und schrie:
»Der Junge hat keine ansteckende Krankheit! Er wird fahren, und wenn wir gezwungen sein sollten, euch alle rauszuschmeißen! Merkt euch das, egoistisches Gesindel. Sollte es jemand wagen, den Kranken auch nur anzurühren -ich werde die Tscheka an der ganzen Strecke darauf aufmerksam machen -, dann werdet ihr alle aus dem Zug geholt und kommt hinter Schloss und Riegel. Hier, Aljoscha, hast du Pawkas Pistole. Schieß nur los, wenn sich jemand einfallen lässt, ihn anzufassen«, fügte Choljawa hinzu, um den Passagieren einen Schreck einzujagen.
Der Zug setzte sich in Bewegung. Auf dem leer gewordenen Bahnsteig trat Pankratow an Dubawa heran.
»Was denkst du, wird er's überstehen?«
Er erhielt keine Antwort.
»Lass uns gehen, Dmitri. Wie's kommt, so kommt es eben. Jetzt tragen wir für alles die Verantwortung. Die Lokomotiven müssen noch heute Nacht abgeladen werden. Morgen wollen wir versuchen sie zu heizen.«
Währenddessen telefonierte Choljawa mit allen seinen Tschekafreunden auf der ganzen Strecke und bat sie eindringlich, nicht zuzulassen, dass der kranke Kortschagin von den Reisenden aus dem Zug gesetzt werde, und erst nachdem er das feste Versprechen erhalten hatte, dass sie dies nicht dulden würden, begab er sich zur Ruhe.
An dem nächsten Eisenbahnknotenpunkt wurde aus dem Zug die Leiche eines während der Reise verstorbenen unbekannten jungen Burschen auf den Bahnsteig geschleppt. Wer es gewesen war und woran er gestorben war, das wusste niemand. Die Eisenbahntschekisten liefen, der Bitte Choljawas eingedenk, zum Wagen, um das Abladen zu verhindern. Nachdem sie sich jedoch überzeugt hatten, dass der Junge tot war, ließen sie ihn in die Leichenkammer des Lazaretts schaffen.
Darauf riefen sie sogleich Choljawa an und teilten ihm den Tod seines Freundes mit, um dessen Leben er so besorgt gewesen war.
Ein kurzes Telegramm aus Bojarka informierte das Gouvernementskomitee vom Tode Kortschagins.
Indessen lieferte Aljoscha Kochanski den Schwerkranken bei seiner Mutter ab und legte sich selbst mit heftigem Typhus nieder.

9. Januar
Warum ist mir nur so schwer ums Herz? Bevor ich mich niedersetzte, habe ich geweint. Wer hätte je gedacht, dass auch die Rita schluchzen kann, und noch dazu so herzzerreißend? Weint man denn immer nur aus Schwäche? Ein brennender Schmerz ist heute die Ursache. Warum musste nur dieser Kummer kommen? Und warum ausgerechnet heute, am Tag unseres großen Sieges, wo die Schrecken der Kälte überwunden, wo auf den Eisenbahnstationen Riesenmengen kostbaren Heizmaterials auf Verladung warten, wo ich eben erst bei der Siegesfeier im Plenum des Stadtsowjets anwesend war, auf der die Erbauer der Bahnstrecke als Helden gefeiert wurden? Ja, das ist ein Sieg, aber zwei haben ihn mit ihrem Leben bezahlt, Klavicek und Kortschagin.
Pawels Tod hat mir die Wahrheit offenbart: Er war mir teurer, als ich je gedacht habe.
Damit breche ich meine Aufzeichnungen ab. Ich weiß nicht, ob ich sie jemals wiederaufnehmen werde. Morgen schreibe ich nach Charkow, dass ich einverstanden bin, im Zentralkomitee des Ukrainischen Jugendverbandes zu arbeiten.

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