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George Orwell - Mein Katalonien (1938)
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Neuntes Kapitel

Von Mandalai im oberen Burma kann man mit der Eisenbahn nach Maimio, der bedeutendsten Bergstation der Provinz am Ende des Shan-Plateaus, reisen. Es ist ein ziemlich eigenartiges Erlebnis. Man beginnt die Reise in der typischen Atmosphäre einer Stadt des Ostens - dem sengenden Sonnenlicht, den staubigen Palmen, dem Geruch von Fischen, Gewürzen und Knoblauch, den breiigen tropischen Früchten und dem Schwarm dunkelhäutiger, menschlicher Wesen. Weil man so daran gewöhnt ist, trägt man diese Atmosphäre mit, wenn man in den Eisenbahnwagen einsteigt. Wenn der Zug in Maimio zwölfhundert Meter über dem Meeresspiegel hält, ist man im Geiste immer noch in Mandalai. Aber wenn man aus dem Waggon aussteigt, tritt man in eine völlig andere Hemisphäre. Plötzlich atmet man eine kühle, süße Luft wie in England, und rundherum wachsen grünes Gras, Farnkraut und Tannenbäume, und die rotwangigen Frauen des Hügellandes verkaufen Körbe mit Erdbeeren.
Ich wurde daran erinnert, als ich nach dreieinhalb Monaten von der Front nach Barcelona zurückkam. Hier erlebte ich den gleichen jähen und erschreckenden Wechsel der Atmosphäre. Auf dem ganzen Weg nach Barcelona herrschte im Zug die Atmosphäre der Front: der Schmutz, der Lärm, die Unbequemlichkeiten, die zerlumpte Kleidung, das Gefühl der Entbehrung, der Kameradschaft und der Gleichheit. Immer mehr Bauern stiegen an jeder Station der Eisenbahnlinie in den Zug, der schon beim Verlassen von Barbastro voller Milizsoldaten war. Die Bauern brachten Bündel Gemüse, verängstigtes Geflügel, das sie mit dem Kopf nach unten trugen, und Säcke, die sich am Boden hin
und her wanden und in denen ich lebendige Kaninchen entdeckte. Zum Schluss wurde noch eine ziemlich große Schafherde in die Abteile getrieben und in jede freie Ecke gequetscht. Die Milizsoldaten schrieen Revolutionslieder, die das Rattern des Zuges übertönten. Jedem hübschen Mädchen längs der Bahnlinie warfen sie Kusshände zu oder winkten ihm mit ihren roten und schwarzen Taschentüchern. Flaschen mit Wein und Anis, dem schmutzigen aragonischen Schnaps, wanderten von Hand zu Hand. Mit einer spanischen Wasserflasche aus Ziegenhaut lässt sich ein Schuss Wein quer durch einen Eisenbahnwaggon in den Mund eines Freundes spritzen, so erspart man sich große Umstände. Neben mir erzählte ein schwarzäugiger fünfzehnjähriger Junge sensationelle und zweifellos völlig unwahre Geschichten von seinen Heldentaten an der Front. Er erzählte sie zwei alten Bauern mit lederartigen Gesichtern, die ihm mit offenem Mund zuhörten. Bald öffneten die Bauern ihre Bündel und gaben uns etwas klebrigen dunkelroten Wein. Jeder war völlig glücklich, glücklicher, als ich es beschreiben kann. Aber als der Zug durch Sabadell gerollt war und Barcelona erreichte, schritten wir in eine Atmosphäre, die uns und unseresgleichen gegenüber kaum fremder und feindseliger sein konnte, als wenn es Paris oder London gewesen wäre.
Jeder, der während des Krieges im Abstand von einigen Monaten Barcelona zweimal besuchte, hat sich zu dem außerordentlichen Wechsel geäußert, der in dieser Zeit stattfand. Ob jemand zuerst im August und dann im Januar hingekommen war oder, wie ich selbst, zuerst im Dezember und dann wieder im April, er sagte merkwürdigerweise immer das gleiche: Die Atmosphäre der Revolution war verschwunden. Zweifellos sah für jeden, der im August dagewesen war, als das Blut in den Straßen kaum getrocknet und die Miliz in den feinen Hotels einquartiert war, Barcelona im Dezember bürgerlich aus. Für mich glich es, als ich gerade frisch aus England kam, eher einer Arbeiterstadt als irgend etwas sonst, was ich mir vorgestellt hatte. Aber jetzt war die Flut zurückgerollt.
Es war wieder eine gewöhnliche Stadt, ein wenig vom Krieg gezwickt und zerstört, aber sonst ohne ein äußeres Zeichen der Vorherrschaft der Arbeiterklasse.
Der Wechsel im Aussehen der Menge war überraschend. Die Milizuniform und die blauen Overalls waren fast verschwunden. Jeder schien einen schmucken Sommeranzug zu tragen, auf den sich die spanischen Schneider spezialisiert haben. Überall gab es fette, wohlhabende Männer, elegante Frauen und rassige Autos. (Es schien so, als gäbe es noch keine Privatwagen. Aber trotzdem schien jeder, der >etwas< war, über ein Auto zu verfügen). Die Offiziere der neuen Volksarmee, ein Typ, der kaum existierte, als ich Barcelona verließ, zeigten sich in überraschender Anzahl. In der Volksarmee gab es auf je zehn Mann einen Offizier. Eine gewisse Anzahl dieser Offiziere hatte in der Miliz gedient und war zur technischen Unterweisung aus der Front gezogen worden. Aber die meisten von ihnen waren junge Leute, die die Kriegsschule besucht hatten, statt in die Miliz einzutreten. Ihr Verhältnis zu den Soldaten war nicht genau das gleiche wie in einer Bourgeoisarmee. Aber in der Volksarmee gab es entschieden soziale Unterschiede, die sich im Unterschied der Bezahlung und der Uniform ausdrückten.
Die Soldaten trugen eine Art grober brauner Overalls, die Offiziere trugen eine elegante Khakiuniform mit enger Taille. Sie sahen ungefähr wie die Uniformen der britischen Armeeoffiziere aus, nur noch übertriebener. Ich glaube nicht, dass mehr als einer von zwanzig schon an der Front gewesen war. Aber sie alle trugen automatische Pistolen, die sie an ihr Koppel geschnallt hatten, während wir an der Front weder für Geld noch für gute Worte eine Pistole bekommen konnten. Als wir die Straße hinaufgingen, be-
merkte ich, wie die Leute uns wegen unseres schmutzigen Aussehens anstarrten. Natürlich boten wir, wie alle Männer, die einige Monate in der vordersten Stellung gelegen haben, einen scheußlichen Anblick. Ich wusste, dass ich wie eine Vogelscheuche aussah. Meine Lederjacke war ganz zerfetzt, meine wollene Mütze hatte ihre Form verloren und glitt dauernd über eines meiner Augen. Meine Stiefel bestanden fast nur noch aus dem auswärtsgebogenen Oberteil. Wir alle befanden uns mehr oder weniger im gleichen Zustand, außerdem waren wir schmutzig und unrasiert, so dass es nicht verwunderlich war, dass die Leute uns anstarrten. Aber es entsetzte mich ein wenig und brachte mir zum Bewusstsein, dass während der letzten drei Monate einige eigentümliche Dinge geschehen waren.
Während der nächsten Tage entdeckte ich an zahllosen Anzeichen, dass mein erster Eindruck durchaus nicht falsch gewesen war.
Ein einschneidender Wechsel war über die Stadt gekommen. Zwei Tatsachen boten den Schlüssel für alles andere. Einmal hatten die Leute - also die Zivilbevölkerung - sehr viel von ihrem Interesse am Krieg verloren; zum zweiten behauptete sich wieder die normale Unterscheidung der Gesellschaft in reich und arm, Ober- und Unterklasse.
Die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber dem Krieg war überraschend und ziemlich widerwärtig. Das erschreckte auch die Leute, die von Madrid oder sogar von Valencia nach Barcelona kamen. Zum Teil mochte es damit zusammenhängen, dass Barcelona von den wirklichen Kämpfen so weit entfernt war. Ich beobachtete einige Monate später das gleiche in Tarragona, wo das normale Leben eines angenehmen Badeortes nahezu ungestört weitergeführt wurde. Aber es war bezeichnend, dass sich etwa seit Januar der freiwillige Zugang zur Armee in ganz Spanien verringert hatte. Im Februar erlebte Katalonien eine Welle der Begeisterung für die erste große Werbung der Volksarmee. Aber sie führte nicht zu einem großen Zuwachs bei der Rekrutierung. Der Krieg dauerte gerade ungefähr sechs Monate, als die spanische Regierung Zuflucht zur Zwangsaushebung nehmen musste. Im Krieg mit einem anderen Land mag das natürlich hingehen, aber in einem Bürgerkrieg erscheint es mir ungewöhnlich. Ohne Zweifel hing es zusammen mit der Enttäuschung der revolutionären Hoffnungen, mit denen der Krieg begonnen hatte. Während der ersten Kriegswochen hatten die Gewerkschaftsmitglieder sich vor allem deshalb zu Milizen zusammengeschlossen und die Faschisten nach Saragossa zurückgetrieben, weil sie glaubten, selbst für die Kontrolle durch die Arbeiterklasse zu kämpfen. Aber es wurde immer deutlicher, dass die Kontrolle durch die Arbeiterklasse eine verlorene Sache war. So konnte man die einfachen Leute, besonders das Proletariat in der Stadt, die in jedem Krieg, ob Bürgerkrieg oder Nationalkrieg, herhalten müssen, nicht für eine gewisse Gleichgültigkeit kritisieren. Niemand wollte den Krieg verlieren, aber die Mehrheit wünschte vor allem, dass er zu Ende gehe. Wohin man auch ging, konnte man das bemerken. Überall hörte man die gleiche oberflächliche Bemerkung: »Dieser Krieg -furchtbar, nicht wahr? Wann geht er zu Ende?« Politisch interessierte Menschen wussten weit mehr über die mörderische Auseinandersetzung zwischen Anarchisten und Kommunisten als über den Kampf gegen Franco. Für die Masse der Bevölkerung war das wichtigste der Mangel an Nahrungsmitteln. Unter >der Front< stellte man sich allmählich einen sagenhaften, weit entfernten Raum vor, wohin junge Männer entschwanden und entweder nicht oder aber nach drei oder vier Monaten mit großen Summen Geld in der Tasche zurückkehrten. (Ein Milizsoldat erhielt gewöhnlich seine ausstehende Löhnung, wenn er auf Urlaub ging.) Den Verwundeten, selbst wenn sie auf Krücken humpelten, schenkte man keine besondere Beachtung. Es war nicht mehr fein, der Miliz anzugehören. Das zeigte sich besonders deutlich in den Läden, die immer ein Barometer des öffentlichen Geschmacks sind. Als ich zum ersten Mal nach Barcelona kam, hatten sich die Läden trotz deren Armut und Schäbigkeit auf die Ausrüstung der Milizsoldaten spezialisiert. In allen Schaufenstern lagen Feldmützen, Windjacken, Sam-Browne-Koppel, Jagdmesser, Wasserflaschen und Revolverhalter. Jetzt waren die Geschäfte bedeutend vornehmer, aber der Krieg war aus den Auslagen verdrängt worden.
Als ich später meine Ausrüstung kaufte, bevor ich an die Front zurückging, entdeckte ich sogar, dass bestimmte Dinge, die an der Front dringend gebraucht wurden, nur sehr schwer zu beschaffen waren.
Inzwischen wurde eine systematische Propaganda gegen die Parteimiliz und für die Volksarmee betrieben. Die Verhältnisse waren hier recht merkwürdig. Seit Februar waren theoretisch die gesamten Streitkräfte in die Volksarmee übergeführt worden. Auf dem Papier waren die Milizen nach dem Muster der Volksarmee umgebildet worden, also mit unterschiedlichen Löhnen, amtlich veröffentlichten Dienstgraden und so weiter. Die Divisionen wurden aus >gemischten Brigaden< gebildet, die teils aus Soldaten der Volksarmee und teils aus der Miliz bestehen sollten. Aber in Wirklichkeit wurden nur die Namen geändert. So waren jetzt beispielsweise die P.O.U.M.-Truppen, die vorher Lenin-Division genannt wurden, die 29. Division. Bis zum Juni kamen nur sehr wenig Truppen der Volksarmee an die aragonische Front, folglich konnte die Miliz ihre eigene Struktur und ihren besonderen Charakter erhalten. Aber die Propagandisten der Regierung hatten schon auf jede Mauer gemalt: »Wir brauchen eine Volksarmee.« Im Rundfunk und in der kommunistischen Presse lief ununterbrochen und manchmal bösartig die Hetzkampagne gegen die Miliz, der vorgeworfen wurde, sie sei schlecht ausgebildet, undiszipliniert und so weiter. Die Volksarmee wurde immer mit dem Beiwort >heroisch< beschrieben. Auf Grund eines guten Teils dieser Propaganda musste man den Eindruck gewinnen, es sei schändlich, freiwillig an die Front gegangen zu sein, und lobenswert, zu warten, bis man eingezogen würde. Zur Zeit jedoch hielt die Miliz die Front, während die Volksarmee in der Etappe übte. Das durfte natürlich sowenig wie möglich bekannt gemacht werden. Abteilungen der Miliz, die zur Front zurückkehrten, ließ man nicht mehr mit Trommelklang und fliegenden Fahnen durch die Straßen marschieren. Sie wurden früh um fünf Uhr mit der Eisenbahn oder mit Lastwagen hinausgeschmuggelt. Einige Abteilungen der Volksarmee marschierten nun auch zur Front, sie wurden wie vorher mit allen Zeremonien durch die Straßen geschickt. Aber selbst ihnen gegenüber zeigte man infolge des schwindenden Interesses am Krieg verhältnismäßig wenig Begeisterung. In der Zeitungspropaganda wurde erfolgreich die Tatsache ausgeschlachtet, dass die Milizen zumindest auf dem Papier Truppen der Volksarmee waren.
Jedes mögliche Verdienst ging automatisch auf das Konto der Volksarmee, während jeder Tadel den Milizen angelastet wurde. Es geschah manchmal, dass dieselben Truppen in der einen Eigenschaft gelobt und in der anderen getadelt wurden.
Ü ber diese Veränderungen hinaus gab es aber einen bemerkenswerten Wechsel in der Atmosphäre der Gesellschaftsordnung - etwas, das man sich schwer vorstellen kann, es sei denn, man hat es wirklich erlebt. Als ich zum ersten Mal nach Barcelona kam, glaubte ich in einer Stadt zu sein, in der Klassenunterschiede und große Unterschiede im Wohlstand kaum existierten. So sah es tatsächlich aus. >Feine< Kleider waren etwas Ungewöhnliches, niemand war ein Kriecher oder nahm ein Trinkgeld an. Kellner und Blumenverkäuferinnen und Schuhputzer schauten jedem in die Augen und sprachen ihre Kunden mit >Kamerad< an. Ich hatte nicht begriffen, dass diese Erscheinung vor allem eine Mischung aus Hoffnung und Tarnung war. Die Arbeiterklasse glaubte an eine Revolution, die begonnen, aber nie gefestigt worden war. Die Bourgeoisie hatte Angst und verkleidete sich vorübergehend unter der Maske der Arbeiter. Während der ersten Monate der Revolution muss es viele tausend Menschen gegeben haben, die absichtlich Overalls anzogen und revolutionäre Phrasen schrieen, um auf diese Weise ihre Haut zu retten. Jetzt aber kehrte alles wieder zum Normalen zurück. Die feinen Restaurants und Hotels waren voll reicher Leute, die teure Mahlzeiten herunterschlangen, während die Lebensmittelpreise für die arbeitende Bevölkerung ohne eine entsprechende Erhöhung der Löhne phantastisch in die Höhe gesprungen waren. Außer der allgemeinen Teuerung herrschte dauernd Mangel an diesem und jenem, was natürlich die Armen härter traf als die Reichen. Die Restaurants und Hotels hatten anscheinend wenig Schwierigkeiten, zu bekommen, was sie wollten. Aber die Schlangen nach Brot, Olivenöl und anderen Notwendigkeiten in den Quartieren der Arbeiterklasse waren manchmal Hunderte von Metern lang. Zuvor hatte ich über die Abwesenheit von Bettlern in Barcelona gestaunt, jetzt sah ich sie in großen Mengen. Vor den Delikatessenläden am oberen Ende der Rambla warteten immer ganze Banden barfüßiger Kinder, um den hinaustretenden Käufern nachzulaufen und sie um ein paar Brocken Lebensmittel anzuhalten. Die revolutionärem Floskeln der Sprache wurden nicht mehr gebraucht. Fremde sprachen jetzt nur selten jemand mit tu und camarada an, normalerweise war es senor und usted. Buenos dias begann salud zu ersetzen. Die Kellner trugen wieder Frackhemden, und die Ladenaufseher machten ihre Bücklinge in der gewohnten Weise. Meine Frau und ich gingen in ein Strumpfgeschäft in der Rambla, um Strümpfe zu kaufen. Der Ladenbesitzer verbeugte sich und rieb seine Hände, wie man es heute nicht einmal mehr in England tut, obwohl es dort vor zwanzig oder dreißig Jahren noch üblich war. Die Gewohnheit, Trinkgelder zu geben, kam auf eine verstohlene, indirekte Weise wieder in Gebrauch. Die Auflösung der Arbeiterpatrouillen war angeordnet worden, und die Polizei der Vorkriegstage war wieder auf den Straßen. Eine Folge davon war, dass die Kabaretts und Bordelle der oberen Klassen, die von den Arbeiterpatrouillen geschlossen worden waren, prompt wieder öffneten (Anm.: Eine Anmerkung Orwells in der Originalausgabe lautete: »Es hieß, die Arbeiterpatrouillen hätten fünfundsiebzig Prozent der Bordelle geschlossen.« In einer nach seinem Tode gefundenen Korrekturnotiz heißt es: »Diese Bemerkung muss geändert werden. Ich habe keinen einwandfreien Beweis, dass die Prostitution in den ersten Tagen des Krieges um fünfundsiebzig Prozent zurückging, und ich glaube, die Anarchisten kollektivierten die Bordelle, unterdrückten sie aber nicht. Aber es gab eine Kampagne gegen die Prostitution (Plakate und so weiter). Es steht außerdem fest, dass die schicken Bordell- und Nacktshows der Kabaretts während der ersten Monate des Krieges geschlossen wurden und erst wieder öffneten, als der Krieg schon ein Jahr lang andauerte.«). Ein kleines, aber bezeichnendes Beispiel dafür, wie sich alles wieder zugunsten der wohlhabenden Klasse ordnete, zeigte der Mangel an Tabak. Für die Masse der Bevölkerung war die Tabakknappheit so verzweifelt, dass mit zerhackten Lakritzwurzeln gefüllte Zigaretten in den Straßen verkauft wurden. Einmal versuchte ich einige davon. (Viele Leute probierten sie einmal.) Franco beherrschte die Kanarischen Inseln, wo der ganze spanische Tabak angepflanzt wird. Folglich gab es auf der Regierungsseite nur jene Tabakvorräte, die schon vor dem Krieg dort gelagert hatten. Diese Vorräte hatten sich so verringert, dass die Tabakläden nur einmal in der Woche geöffnet wurden. Wenn man ein paar Stunden in einer Schlange gewartet und Glück hatte, konnte man ein Fünfundzwanzig-Gramm-Päckchen Tabak erhalten. Theoretisch erlaubte die Regierung nicht, dass Tabak im Ausland gekauft wurde, denn das bedeutete eine Verminderung der Goldreserven, die für Waffen und andere notwendige Güter eingeteilt werden mussten. In Wirklichkeit gab es ständig Nachschub an geschmuggelten ausländischen Zigaretten der teureren Sorten, Lucky Strike und so weiter. Das war natürlich eine großartige Gelegenheit für die Profitmacher. Man konnte die geschmuggelten Zigaretten offen in den feinen Hotels und kaum weniger offen in den Straßen kaufen, vorausgesetzt, dass man zehn Peseten für ein Päckchen bezahlen konnte (den Tagessold eines Milizsoldaten). Der Schmuggel kam den wohlhabenden Leuten zugute und wurde deshalb stillschweigend geduldet. Wenn man Geld hatte, gab es nichts, das man nicht in irgendeiner Qualität kaufen konnte, mit der einzigen Ausnahme von Brot, das ziemlich scharf rationiert wurde. Ein paar Monate früher, als die Arbeiterklasse noch an der Macht war oder es zumindest so schien, wäre dieser offene Kontrast zwischen Wohlstand und Armut unmöglich gewesen. Aber es wäre nicht fair, dies allein dem Wechsel in der politischen Gewalt zuzuschreiben. Zum Teil war es die Folge der Sicherheit des Lebens in Barcelona, wo es außer einem gelegentlichen Luftangriff wenig gab, was einen an den Krieg erinnern konnte. Jeder, der in Madrid gewesen war, sagte, dort sei es vollständig anders. In Madrid zwang die gemeinsame Gefahr Leute fast jeder Herkunft zu einer Art Kameradschaft. Es sieht abscheulich aus, wenn ein fetter Mann Wachteln isst, während Kinder um Brot betteln. Aber so etwas sieht man kaum in der Nähe des Kanonendonners. Ich erinnere mich, dass ich ein oder zwei Tage nach den Straßenkämpfen durch eine der vornehmen Straßen kam und einen Süßigkeitenladen fand, dessen Schaufenster feinstes Gebäck und Bonbons zu unglaublichen Preisen enthielt. Es war ein Laden, wie man sie in der Bond Street oder der Rue de la Paix sieht. Ich erinnere mich, wie ich einen unbestimmbaren Schrecken und Verwunderung darüber verspürte, dass man in einem hungrigen, vom Kriege heimgesuchten Land noch Geld auf solche Dinge verschwenden konnte. Aber Gott verhüte, dass ich persönliche Überheblichkeit vorschütze. Nach mehreren Monaten voll Unbequemlichkeit erfüllte mich ein heißhungriger Wunsch nach anständigem Essen und Wein, Cocktails, amerikanischen Zigaretten und so weiter. Ich gebe zu, dass ich mich in jeglichem Luxus wälzte, solange ich das Geld dazu hatte. Während dieser ersten Woche, ehe die Straßenkämpfe begannen, war ich mit verschiedenen Dingen beschäftigt, die auf seltsame Weise Einfluss aufeinander hatten. Zunächst einmal bemühte ich mich, wie schon gesagt, es mir so bequem wie möglich zu machen. Dann fühlte ich mich während der ganzen Woche wegen des vielen Essens und Trinkens nicht wohl. Ich war ein wenig benommen, legte mich einen halben Tag ins Bett, stand auf und aß ein neues, überreichliches Mahl und fühlte mich dann wieder krank. Zur gleichen Zeit führte ich geheime Verhandlungen, um einen Revolver zu kaufen. Ich wollte unbedingt einen Revolver haben - der im Grabenkampf viel nützlicher ist als ein Gewehr -, aber man konnte ihn nur sehr schwer bekommen. Die Regierung verteilte sie an Polizisten und Offiziere der Volksarmee, weigerte sich aber, sie der Miliz zu geben. Man musste sie illegal aus den geheimen Lagern der Anarchisten kaufen. Nach viel Mühen und Theater gelang es einem meiner anarchistischen Freunde, mir eine kleine, automatische 0,26-Inch-Pistole zu beschaffen; eine schlechte Waffe, die für eine Entfernung über fünf Meter nutzlos war, aber dennoch besser als nichts. Außerdem unternahm ich gleichzeitig die ersten Bemühungen, um die P.O.U.M.-Miliz zu verlassen und in eine andere Einheit einzutreten, um sicherzugehen, dass ich an die Front von Madrid geschickt würde.
Seit einiger Zeit erzählte ich jedem, ich beabsichtige, die P.O.U.M. zu verlassen. Wäre es allein um meine persönliche Vorliebe gegangen, hätte ich mich am liebsten den Anarchisten angeschlossen. Würde man ein Mitglied der C.N.T., war es möglich, in die F.A.I.-Miliz einzutreten. Aber man sagte mir, dass mich die F.A.I. eher nach Teruel als nach Madrid schicken würde. Wollte ich nach Madrid gehen, so müsste ich mich der Internationalen Brigade anschließen. Das aber hieß, ich musste die Empfehlung eines Mitgliedes der kommunistischen Partei bekommen. Ich suchte einen kommunistischen Freund auf, der in der spanischen Sanitätstruppe diente, und erklärte ihm meinen Fall. Er schien sehr darauf bedacht zu sein, mich zu rekrutieren, und fragte mich, ob ich nicht noch einige andere Engländer von der I.L.P. überreden könne, mit mir zu kommen. Wäre ich damals in einem besseren Gesundheitszustand gewesen, hätte ich mich wahrscheinlich sofort entschlossen zuzustimmen. Heute ist es schwer zu sagen, welchen Unterschied es ausgemacht hätte. Möglicherweise hätte man mich nach Albacete geschickt, ehe die Kämpfe in Barcelona ausbrachen. In diesem Fall hätte ich die Kämpfe nicht aus unmittelbarer Nähe gesehen und vielleicht die offizielle Version als wahr akzeptiert. Andererseits wäre meine Lage unmöglich gewesen, wenn ich noch in Barcelona gewesen wäre. Dann hätte ich während des Kampfes unter kommunistischem Kommando gestanden und gleichzeitig das Gefühl der persönlichen Loyalität für meine Kameraden in der P.O.U.M. empfunden. Mir stand jedoch noch eine Woche Urlaub zu, und ich war sehr bemüht, bevor ich an die Front zurückkehrte, meine Gesundheit zu kräftigen. Außerdem musste ich warten - das ist eine der Kleinigkeiten, die immer das Schicksal lenken -, während der Schuhmacher mir ein neues Paar Stiefel herstellte. (Der ganzen spanischen Armee war es nicht gelungen, ein Paar Stiefel herbeizubringen, die groß genug für mich waren.) Ich sagte meinem kommunistischen Freund, dass ich einen endgültigen Entschluss später fassen würde, in der Zwischenzeit wolle ich mich ein bisschen ausruhen. Ich war sogar der Ansicht, dass wir - meine Frau und ich - für zwei oder drei Tage an die See gehen könnten. Was für eine Idee! Die politische Atmosphäre hätte mich warnen müssen, dass das nicht das Richtigste war, was man augenblicklich tun konnte. Denn hinter dem oberflächlichen Bild der Stadt, hinter dem Luxus und der wachsenden Armut, hinter der scheinbaren Fröhlichkeit der Straßen mit ihren Blumenständen, ihren vielfarbigen Fahnen, ihren Propagandaplakaten und den sich drängenden Menschenmengen gab es ein unbezweifelbares und schreckliches Gefühl politischer Rivalität und des Hasses. Menschen mit den verschiedensten Anschauungen sagten ahnungsvoll: »In Kürze wird es Ärger geben.« Die Gefahr war einfach und verständlich. Es war der Gegensatz zwischen denen, die die Revolution vorantreiben wollten, und jenen, die sie kontrollieren und verhindern wollten. Letzten Endes also zwischen den Anarchisten und den Kommunisten. Neben der P.S.U.C. und ihren liberalen Verbündeten gab es politisch keine Macht in Katalonien. Dem gegenüber stand die unbekannte Macht der C.N.T. Sie war weniger gut bewaffnet, und ihre Anhänger waren weniger eindeutig davon überzeugt, was sie wollten, als ihre Feinde. Aber sie waren mächtig durch ihre Zahl und ihre Vorherrschaft in einigen Schlüsselindustrien. Bei dieser Anordnung der Kräfte musste es zu einer Auseinandersetzung kommen. Vom Standpunkt der Generalidad, die von der P.O.U.M. kontrolliert wurde, bestand die erste Notwendigkeit darin, ihre eigene Position zu sichern und die Waffen aus den Händen der C.N.T.-Arbeiter zu nehmen. Wie ich schon vorher gezeigt habe, war im Grunde die Aktion zur Auflösung der Parteimiliz ein Manöver mit diesem Ziel. Zur gleichen Zeit waren die bewaffneten Polizeistreitkräfte aus der Vorkriegszeit, die Zivilgarde und so weiter wieder eingesetzt, verstärkt und bewaffnet worden. Das konnte nur eins bedeuten. Vor allem die Zivilgarde war eine Gendarmerie im normalen, kontinentalen Sinn, die nahezu ein Jahrhundert lang als Leibwache der besitzenden Klasse gedient hatte. In der Zwischenzeit war ein Dekret erlassen worden, wonach alle Waffen, die im Besitz von Privatpersonen waren, zurückgegeben werden mussten. Natürlich war diese Anordnung nicht befolgt worden. Es war klar, dass man die Waffen den Anarchisten nur durch Gewalt abnehmen konnte. Während der ganzen Zeit wurden recht vage und wegen der Zeitungszensur widersprüchliche Gerüchte kolportiert, wonach sich in ganz Katalonien kleinere Kämpfe abspielten. An verschiedenen Orten hatten die bewaffneten Polizeistreitkräfte Angriffe auf anarchistische Stützpunkte unternommen. Bei Puigcerda an der französischen Grenze hatte man eine Gruppe Carabineros beordert, das Zollhaus zu besetzen, das bis dahin von den Anarchisten kontrolliert wurde, und Antonio Martin, ein bekannter Anarchist, wurde dabei getötet (Anm.: Korrekturnotiz, die nach Orwells Tod gefunden wurde: »Man hat mir gesagt, dass mein Hinweis auf diesen Vorfall falsch und irreführend ist.«). Ähnliche Vorfälle hatten sich in Figueras und, so glaube ich, in Tarragona ereignet. In Barcelona hatte es eine Anzahl mehr oder weniger inoffizieller Keilereien in den Arbeitervorstädten gegeben. Schon seit einiger Zeit hatten sich Mitglieder der C.N.T. und U.G.T. gegenseitig ermordet. Aus verschiedenen Anlässen folgten große, herausfordernde Begräbnisse auf diese Morde, die ganz bewusst arrangiert wurden, um den politischen Hass zu schüren. Kurze Zeit vorher war ein Mitglied der C.N.T. ermordet worden, und die C.N.T. brachte einige hunderttausend Mitglieder auf die Beine, um dem Leichenzug zu folgen. Gegen Ende April, gerade als ich nach Barcelona gekommen war, wurde Roldan Cortada, ein prominentes Mitglied der U.G.T., ermordet, vermutlich durch einen Anhänger der C.N.T. Die Regierung ordnete an, alle Läden zu schließen, und arrangierte eine riesige Begräbnisprozession, hauptsächlich mit Truppen der Volksarmee. Diese Prozession benötigte zwei Stunden, um an einer Stelle vorbeizumarschieren. Ohne Begeisterung sah ich sie vom Hotelfenster aus. Es war offensichtlich, dass das so genannte Begräbnis nur eine Schaustellung der Macht war. Noch mehr davon, und es würde Blutvergießen geben. In der gleichen Nacht wurden meine Frau und ich durch eine Serie Schüsse aus der Richtung der Plaza de Cataluna aufgeweckt, die hundert oder zweihundert Meter entfernt lag. Am nächsten Tag erfuhren wir, dass man einen C.N.T.-Mann getötet hatte, vermutlich durch einen Anhänger der U.G.T. ES war natürlich durchaus möglich, dass alle diese Morde durch Provokateure begangen wurden. Man kann die Haltung der ausländischen, kapitalistischen Presse im kommunistisch-anarchistischen Bruderkampf daran ermessen, wie über die Ermordung Roldans groß berichtet wurde, während der andere Mord sorgfältig verschwiegen wurde.
Der 1. Mai näherte sich, und man sprach von einer großen Demonstration, an der sowohl die C.N.T. als auch die U.G.T. teilnehmen würden. Seit einiger Zeit hatten sich die C.N.T.-Führer, gemäßigter als viele ihrer Gefolgsleute, um eine Versöhnung mit der U.G.T. bemüht. Ja, der Tenor ihrer Politik bestand in dem Versuch, aus den zwei Blöcken der Gewerkschaften eine riesige Koalition zu formen. Man war der Ansicht, dass die C.N.T. und die U.G.T. zusammen marschieren und ihre Solidarität zeigen sollten. Aber im letzten Moment wurde die Demonstration abgesagt. Es war vollständig klar, dass sie nur zu einem Aufruhr führen würde. So ereignete sich am 1. Mai nichts. Es war ein seltsamer Zustand. Barcelona, die so genannte Revolutionsstadt, war wahrscheinlich an diesem Tage die einzige Stadt im nichtfaschistischen Europa, wo es keine Feiern gab. Aber ich gebe zu, dass ich sehr erleichtert war. Die I.L.P.-Gruppe sollte in der P.O.U.M.-Abteilung des Umzuges marschieren, und jeder erwartete Unruhen. In einen bedeutungslosen Straßenkampf verwickelt zu werden war das letzte, was ich mir wünschte. Hinter einer roten Fahne mit erhebenden Parolen die Straße hinaufzumarschieren und dann aus einem der oberen Fenster von einem völlig Fremden mit einer Maschinenpistole erschossen zu werden, so stelle ich mir jedenfalls einen nützlichen Tod nicht vor.

 

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