Vierzehntes Kapitel
Wenn man in einer Stadt wie Barcelona von der Polizei gesucht wird, ist das schlimmste, dass überall so spät geöffnet wird. Wenn man im Freien schläft, wacht man immer mit dem Morgengrauen auf. In Barcelona öffnete aber keines der Cafes vor neun Uhr, so musste ich also Stunden warten, ehe ich mich rasieren lassen konnte oder eine Tasse Kaffee bekam. Es war recht eigenartig, im Friseurladen noch die anarchistische Bekanntmachung an der Wand zu finden, auf der erklärt wurde, dass Trinkgelder verboten seien. Auf der Ankündigung stand: »Die Revolution hat unsere Ketten zerschlagen.« Ich hätte den Friseuren am liebsten gesagt, dass sie bald wieder Ketten haben würden, für den Fall, dass sie nicht gut aufpassten.
Ich wanderte zum Zentrum der Stadt zurück. Die roten Flaggen über dem P.O.U.M.-Gebäude waren heruntergerissen worden, an ihrer Stelle wehten republikanische Fahnen. Ganze Gruppen bewaffneter Zivilgardisten drückten sich in den Torwegen herum. Die Polizei hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, die meisten Fensterscheiben des Zentrums der Roten Hilfe an der Plaza de Catalufia zu zerschlagen. Man hatte den Buchladen der P.O.U.M. leergeräumt; und das Anschlagbrett weiter unten an der Rambla war mit P.O.U.M.-feindlichen Karikaturen beklebt worden - der Karikatur mit der Maske und dem faschistischen Gesicht darunter. Am Ende der Rambla, in der Nähe der Kais, sah ich etwas Seltsames. Dort saß eine Reihe Milizsoldaten, noch zerlumpt und schmutzig von der Front, erschöpft auf den Stühlen der Schuhputzer. Ich wusste, wer sie waren - ja, ich erkannte sogar einen von ihnen. Sie waren Milizsoldaten der P.O.U.M., die am Tage vorher von der Front gekommen waren, um nun zu sehen, dass die P.O.U.M. unterdrückt wurde. Sie hatten die Nacht auf der Straße verbringen müssen, da man ihre Häuser besetzt hatte. Jeder Milizsoldat der P.O.U.M., der in diesem Augenblick nach Barcelona kam, hatte die Wahl, sich entweder sofort zu verstecken oder ins Gefängnis zu gehen. Das ist nach drei oder vier Monaten an der Front nicht gerade ein sehr angenehmer Empfang.
Wir waren in einer seltsamen Lage. Nachts wurde man wie ein Flüchtling gejagt, aber tagsüber konnte man fast ein normales Leben führen. Jedes Haus, von dem man wusste, dass in ihm Anhänger der P.O.U.M. wohnten, wurde sicher oder doch mit ziemlicher Sicherheit bewacht. Es war unmöglich, in ein Hotel oder in eine Pension zu gehen, denn es bestand eine Anordnung, wonach der Hotelbesitzer die Ankunft jedes Fremden sofort der Polizei mitteilen musste. Das hieß praktisch, dass man die Nacht auf der Straße verbringen musste. Tagsüber jedoch war man in einer Stadt von der Größe Barcelonas ziemlich sicher. Die Straßen waren voller Zivilgardisten, Sturmgardisten, Carabineros und normaler Polizei, daneben Gott weiß welche Spione in Zivil. Aber trotzdem konnten sie nicht jeden anhalten, der an ihnen vorbeiging, und wenn man normal aussah, konnte man ihrer Aufmerksamkeit entgehen. Man musste vor allen Dingen vermeiden, sich in der Nähe der P.O.U.M.-Gebäude aufzuhalten, und durfte nicht in jene Cafes und Restaurants gehen, wo einen die Kellner von Angesicht kannten. An diesem und dem nächsten Tag verbrachte ich ziemlich viel Zeit mit einem Bad in einer der öffentlichen Badeanstalten. Das erschien mir damals als eine gute Möglichkeit, mich verborgen zu halten. Leider hatten viele andere die gleiche Idee, und ein paar Tage nachdem ich Barcelona verlassen hatte, besetzte die Polizei eine der öffentlichen Badeanstalten und verhaftete eine Anzahl völlig nackter >Trotzkisten<.
In der Mitte der Rambla begegnete ich einem Verwundeten aus dem Sanatorium Maurin. Wir wechselten einen jener unsichtbaren Blicke, mit denen sich die Leute damals grüßten, und wir trafen uns unauffällig in einem der Cafes etwas weiter oben an der Straße. Er war der Verhaftung entgangen, als das Maurin besetzt wurde, war aber wie viele andere auf die Straße getrieben worden. Er war nur in Hemdsärmeln, denn er musste ohne Jacke fliehen und hatte kein Geld. Er schilderte mir, wie einer der Zivilgardisten das große farbige Porträt Maurins von der Wand herabgerissen und in Stücke getreten habe. Maurin, einer der Gründer der P.O.U.M., war Gefangener in den Händen der Faschisten, und man vermutete damals schon, dass er von ihnen erschossen worden sei.
Um zehn Uhr traf ich meine Frau auf dem britischen Konsulat. McNair und Cottman kamen kurze Zeit später auch dorthin. Als erstes erzählten sie mir, Bob Smillie sei tot. Er war in Valencia im Gefängnis gestorben, aber niemand wusste mit Sicherheit, wie. Man hatte ihn sofort beerdigt, und man hatte David Murray, dem örtlichen Vertreter der I.L.P., die Erlaubnis verweigert, seine Leiche zu sehen.
Natürlich vermutete ich sofort, Smillie sei erschossen worden. Das glaubte damals jeder, aber inzwischen bin ich zu der Überzeugung gelangt, ich könne unrecht gehabt haben. Später wurde eine Blinddarmentzündung als Todesursache angegeben, und wir hörten hinterher von einem anderen, entlassenen Gefangenen, Smillie sei tatsächlich im Gefängnis krank gewesen. So war vielleicht die Geschichte von der Blinddarmentzündung richtig. Vielleicht verweigerte man Murray aus Bosheit, die Leiche zu sehen. Ich muss jedoch etwas hinzufügen. Bob Smillie war nur zweiundzwanzig Jahre alt und körperlich einer der zähesten Leute, die ich je getroffen habe. Er war, glaube ich, der einzige Engländer oder Spanier unter meinen Bekannten, der drei Monate in den Schützengräben gelegen hatte und nicht ein einziges Mal krank gewesen war. So zähe Leute sterben normalerweise nicht an Blinddarmentzündung, wenn man sich um sie kümmert. Wenn man aber erfuhr, wie die spanischen Gefängnisse aussahen - die behelfsmäßigen Gefängnisse für politische Gefangene -, wusste man, wie wenig Aussichten ein Kranker hatte, dort anständig behandelt zu werden. Man kann die Gefängnisse nur als Verliese bezeichnen. In England müsste man bis ins achtzehnte Jahrhundert zurückgehen, um etwas Vergleichbares zu finden. Die Menschen wurden in kleinen Räumen zusammengepfercht, wo es für sie kaum genug Platz gab, um sich hinzulegen. Oft wurden sie auch in Kellern und anderen dunklen Orten festgehalten. Das war nicht nur eine vorübergehende Maßnahme, denn es gab Fälle, in denen Menschen vier oder fünf Monate gefangen gehalten wurden, ohne das Tageslicht gesehen zu haben. Man ernährte sie mit einer schmutzigen, unzureichenden Kost, die aus zwei Tellern Suppe und zwei Stücken Brot pro Tag bestand. (Einige Monate später scheint sich jedoch die Ernährung ein wenig gebessert zu haben.) Ich übertreibe wirklich nicht, man frage nur einen politisch Verdächtigen, der in Spanien im Gefängnis gewesen ist. Ich habe aus einer Reihe verschiedener Quellen Berichte über die spanischen Gefängnisse, und sie stimmen so sehr miteinander überein, dass es schwer fällt, ihnen nicht zu glauben. Außerdem habe ich selbst einige Male in ein spanisches Gefängnis hineingeschaut. Einer meiner anderen englischen Freunde, der später verhaftet wurde, schreibt, seine Erfahrungen im Gefängnis »machten Smillies Fall leichter verständlich«. Smillies Tod kann man nicht so leicht vergeben. Er war ein tapferer und fähiger Bursche, der seine Laufbahn an der Universität von Glasgow aufgegeben hatte, um gegen den Faschismus zu kämpfen. Wie ich selbst gesehen hatte, tat er an der Front seine Pflicht mit untadeligem Mut und mit Bereitwilligkeit. Das einzige aber, was sie sich ausdenken konnten, bestand darin, ihn in ein Gefängnis zu werfen und wie ein verlassenes Tier sterben zu lassen. Ich weiß, dass es keinen Zweck hat, mitten in einem großen, blutigen Krieg viel Aufhebens über einen einzelnen Tod zu machen. Eine Fliegerbombe, die in einer Straße voller Menschen explodiert, verursacht mehr Leiden als eine ganze Serie politischer Verfolgungen. Aber ich war wütend über die völlige Sinnlosigkeit dieses Todes. In der Schlacht getötet zu werden - ja, das erwartet man. Aber nicht einmal wegen irgendeiner eingebildeten Anschuldigung, sondern einfach aus dummer blinder Bosheit ins Gefängnis geworfen zu werden und dann in der Einsamkeit zu sterben, das ist etwas ganz anderes. Ich kann mir nicht vorstellen, wie so etwas den Sieg näher brachte; es ist auch nicht so, dass Smillies Fall eine Ausnahme gebildet hätte.
Am gleichen Nachmittag besuchten meine Frau und ich Kopp. Man durfte Gefangene besuchen, die nicht incomunicado gehalten wurden, obwohl es nicht gefahrlos war, mehr als ein- oder zweimal hinzugehen. Die Polizei beobachtete alle Leute, die kamen und gingen, und wenn man die Gefängnisse zu oft besuchte, wurde man selbst als >Trotzkisten<-Freund abgestempelt und kam wahrscheinlich am Ende selbst ins Gefängnis. Das war schon einer Reihe von Leuten passiert. Kopp wurde nicht incomunicado gehalten, und wir erhielten ohne Schwierigkeiten die Erlaubnis, ihn zu sehen. Als sie uns durch die Stahltore ins Gefängnis hineinließen, wurde ein spanischer Milizsoldat, den ich von der Front kannte, zwischen zwei Zivilgardisten hinausgeführt. Sein Auge traf meins, wieder dieses gespenstische Zwinkern. Der erste, den wir drinnen sahen, war ein amerikanischer Milizsoldat, der einige Tage vorher nach Hause abgereist war. Seine Papiere waren vollständig in Ordnung, aber trotzdem hatte man ihn an der Front verhaftet, wahrscheinlich weil er noch immer die Kordkniehosen trug und man ihn deshalb als Milizsoldaten identifizieren konnte. Wir gingen aneinander vorbei, als seien wir uns völlig fremd. Das war furchtbar. Ich kannte ihn seit Monaten, ich hatte einen Unterstand mit ihm geteilt, er hatte geholfen, mich nach meiner Verwundung aus der Front zu tragen, und doch war es das einzige, was man tun konnte. Die blauuniformierten Wächter schnüffelten überall herum. Es wäre fatal gewesen, zu viele Leute zu begrüßen.
Das so genannte Gefängnis war in Wirklichkeit das Erdgeschoß eines Geschäftes. Man hatte an die hundert Leute in zwei Räume hineingepfercht, von denen jeder etwa sechs mal sechs Meter groß war. Das Gefängnis sah aus wie das Newgate-Gefängnis auf einem Kalenderbild aus dem achtzehnten Jahrhundert, vor allem der abstoßende Schmutz, die zusammengedrängten menschlichen Körper, die Räume ohne Möbel, nur mit blankem Steinboden, einer Bank, einigen zerlumpten Decken und in fahles Licht getaucht, da man die verrosteten Stahljalousien vor den Fenstern herabgelassen hatte. Auf den nackten Wänden standen revolutionäre Parolen: »Visca P.O.U.M.!«, »Viva la Revolución!« und so weiter. In den letzten Monaten hatte man dieses Gebäude als Abladeplatz für politische Gefangene benutzt. Es herrschte ein ohrenbetäubender Lärm von Stimmen, denn es war Besuchsstunde, und das Gebäude war so voller Menschen, dass man sich nur schwer fortbewegen konnte. Fast alle gehörten der ärmsten Arbeiterschicht der Bevölkerung an. Man sah, wie Frauen erbärmliche Lebensmittelpakete öffneten, die sie für ihre gefangenen Männer mitgebracht hatten. Unter den Gefangenen waren auch einige Verwundete aus dem Sanatorium Maurin. Zwei von ihnen hatten amputierte Beine, einen hatte man ohne Krücken in das Gefängnis gebracht, und er hüpfte auf einem Fuß herum. Ich sah auch einen Jungen, der nicht älter als zwölf war; anscheinend verhafteten sie auch Kinder. Im Gebäude herrschte ein bestialischer Gestank, den man immer dort bemerkt, wo eine große Menschenmenge ohne anständige hygienische Verhältnisse zusammengepfercht wird.
Kopp bahnte sich einen Weg durch die Menge, um uns zu begrüßen. Sein plumpes, frisches Gesicht sah nicht anders als sonst aus, und er hatte seine Uniform selbst in diesem schmutzigen Gebäude sauber gehalten und es sogar bewerkstelligt, sich zu rasieren. Außer ihm war noch ein zweiter Offizier in der Uniform der Volksarmee unter den Gefangenen. Als sie sich in der Menge aneinander vorbeidrückten, grüßten er und Kopp sich. Die Geste war irgendwie pathetisch. Kopp schien in glänzender Verfassung zu sein. »Nun, ich vermute, wir werden alle erschossen!« sagte er gut gelaunt. Das Wort »erschießen« gab mir einen inneren Schauder. Es war noch nicht lange her, dass mein Körper von einer Kugel getroffen wurde, und ich erinnerte mich sehr lebhaft daran. Der Gedanke, dass es jemand passieren könne, den man gut kennt, ist nicht schön. Damals hielt ich es für selbstverständlich, dass alle wichtigen Leute in der P.O.U.M. erschossen würden, unter ihnen natürlich auch Kopp. Die ersten Gerüchte vom Tode Nins sickerten durch, und wir wussten, dass die P.O.U.M. des Verrates und der Spionage beschuldigt wurde. Alles deutete auf einen großen Schauprozess hin, dem ein Gemetzel der führenden >Trotzkisten< folgen würde. Es ist schrecklich, wenn man einen Freund im Gefängnis sieht und weiß, dass man selbst keine Macht hat, ihm zu helfen. Denn es gab nichts, was man tun konnte. Es war sogar nutzlos, sich an die belgischen Behörden zu wenden, denn Kopp hatte die Gesetze seines eigenen Landes gebrochen, als er hierherkam. Das Sprechen musste ich vor allem meiner Frau überlassen. Mit meiner krächzenden Stimme konnte ich mich bei dem großen Lärm nicht verständlich machen. Kopp erzählte, dass er sich mit einigen anderen Gefangenen angefreundet habe. Er sagte uns, dass einige der Wachtposten gute Kerle seien, andere aber schlügen und misshandelten die schüchterneren Gefangenen. Die Verpflegung, meinte er, sei nur ein >Schweinefraß<. Zum Glück hatten wir daran gedacht, ihm ein Paket Lebensmittel und auch Zigaretten mitzubringen. Dann erzählte uns Kopp von den Papieren, die man ihm abgenommen hatte, als er verhaftet wurde. Darunter war auch ein Brief des Kriegsministers an den Kommandierenden Oberst der Pioniereinheiten der Ostarmee. Die Polizei hatte den Brief beschlagnahmt und sich geweigert, ihn zurückzugeben. Angeblich sollte er im Büro des Polizeichefs liegen. Vielleicht würde es sehr wichtig sein, den Brief zurückzubekommen.
Ich erkannte sofort, wie wichtig das sein könnte. Vielleicht würde ein offizieller Brief dieser Art, mit einer Empfehlung des Kriegsministeriums und General Pozas, Kopps Ehrlichkeit bezeugen. Die Schwierigkeit bestand nur darin, die Existenz dieses Briefes zu beweisen. Wurde er im Büro des Polizeichefs geöffnet, konnte man sicher sein, dass irgendein Schuft ihn vernichten würde. Es gab nur einen Menschen, der ihn vielleicht zurückbekommen konnte. Das war der Offizier, an den der Brief adressiert war. Kopp hatte schon daran gedacht und einen Brief geschrieben, den ich aus dem Gefängnis schmuggeln und zur Post geben sollte. Aber es war offensichtlich schneller und sicherer, persönlich hinzugehen. Ich ließ meine Frau bei Kopp zurück, stürzte hinaus und fand nach langem Suchen ein Taxi. Ich wusste, dass Zeit alles war. Es war jetzt ungefähr halb sechs, der Oberst würde wahrscheinlich sein Büro um sechs Uhr verlassen, und morgen könnte der Brief Gott weiß wo sein. Vielleicht wäre er dann schon vernichtet oder unter einem Haufen anderer Dokumente verloren, die sich vermutlich zu Bergen häuften, während ein Verdächtiger nach dem anderen verhaftet wurde. Das Büro des Obersten lag in der Heereskommandantur unten am Kai. Als ich die Treppe hinaufstürzte, versperrte der wachhabende Sturmgardist am Tor den Weg mit seinem langen Bajonett und verlangte »Papiere«. Ich hielt ihm meinen Entlassungsschein vor die Nase. Offenbar konnte er nicht lesen und ließ mich passieren, beeindruckt von dem geheimnisvollen Wert der »Papiere«. Im Innern war das Gebäude ein riesiges, verschlungenes Gehege, das sich rund um einen zentralen Hof fügte. Auf jedem Stockwerk gab es Hunderte von Büros. Niemand hatte, da es in Spanien war, die leiseste Ahnung, wo das Büro lag, das ich suchte. Ich wiederholte dauernd: »El coronel - jefe de ingenieros, Ejercito de Este!»Die Leute lächelten und zuckten elegant mit ihren Schultern. Jeder, der irgendeine Vorstellung hatte, schickte mich in eine andere Richtung, diese Treppe hinauf, jene hinunter, durch endlose Gänge, die sich als Sackgassen erwiesen. Die Zeit aber wurde immer kürzer. Ich hatte das eigenartige Gefühl, unter einem Alpdruck zu stehen: Ich lief Treppen hinauf und hinab; ich sah geheimnisvolle Leute, die kamen und gingen; ich blickte durch offene Türen in chaotische Büros, in denen überall Papier umherlag und Schreibmaschinen ratterten; die Zeit verrann, und vielleicht lag ein Leben auf der Waagschale. Schließlich aber kam ich noch rechtzeitig an mein Ziel und wurde, ein wenig zu meiner Überraschung, sogar angehört. Ich sah den Oberst nicht, aber sein Adjutant oder Sekretär, ein kleiner Offizier mit großen und schielenden Augen in einer feinen Uniform, kam heraus, um mich im Vorzimmer zu befragen. Ich stieß meine Geschichte hervor. Ich sei wegen meines mir vorgesetzten Offiziers, Major Jorge Kopp, gekommen, der eine dringende Mission an der Front habe und der irrtümlich verhaftet worden sei. Der Brief an den Oberst sei vertraulicher Natur und müsse ohne Verzögerung wieder herbeigeschafft werden. Ich hätte monatelang unter Kopp gedient, er sei ein äußerst anständiger Offizier, offensichtlich sei seine Verhaftung ein Irrtum, die Polizei habe ihn mit irgend jemand verwechselt. Ich wiederholte und betonte die Dringlichkeit der Mission Kopps an der Front, denn ich wusste, dass dies das kräftigste Argument war. Aber es muss sich in meinem abscheulichen Spanisch, das jedes Mal in einem kritischen Moment in Französisch umschlug, wie eine recht sonderbare Geschichte angehört haben. Das schlimmste aber war, dass meine Stimme nahezu sofort aussetzte und ich nur mit größter Anstrengung ein Krächzen hervorbringen konnte. Ich befürchtete, dass sie vollständig verschwinden könnte und es dem kleinen Offizier überdrüssig würde, mir zuzuhören. Ich habe mich oft gefragt, was er sich wohl gedacht hat, wieso meine Stimme nicht in Ordnung sei. Ob er glaubte, ich sei betrunken, oder ich litte nur unter einem schlechten Gewissen. Aber er hörte mir geduldig zu, nickte häufig mit seinem Kopf und stimmte dem, was ich sagte, vorsichtig zu. Ja, es klänge so, als sei ein Irrtum unterlaufen. Natürlich solle man die Sache untersuchen. Manana -. Ich protestierte. Nicht manana! Die Sache war dringend; Kopp sollte schon an der Front sein. Wieder schien der Offizier zuzustimmen. Dann kam die Frage, die ich gefürchtet hatte:
»Dieser Major Kopp - in welcher Einheit dient er?« Das schreckliche Wort musste gesagt werden: »In der P.O.U.M.-Miliz.«
»P.O.U.M.!«
Könnte ich dem Leser nur die erschrockene Bestürzung in seiner Stimme vermitteln. Man muss sich vor Augen halten, was man in diesem Augenblick von der P.O.U.M. hielt. Die Furcht vor Spionen hatte ihren Höhepunkt erreicht. Vermutlich glaubten alle guten Republikaner ein oder zwei Tage lang, dass die P.O.U.M. wirklich eine riesige, von den Deutschen bezahlte Spionageorganisation sei. Wenn man so etwas also einem Offizier der Volksarmee sagte, war es genauso, als ob jemand nach dem Schrecken der Roten-Brief-Affäre in den Kavallerieklub gekommen wäre und sich als Kommunist bezeichnet hätte. Seine dunklen Augen musterten versteckt mein Gesicht. Nach einer weiteren langen Pause sagte er langsam:
»Und Sie sagten, dass Sie mit ihm an der Front zusammen waren. Dann haben Sie selbst also auch in der P.O.U.M.-Miliz gedient?«
»Ja.«
Er drehte sich um und verschwand im Büro des Obersten. Ich konnte ein erregtes Gespräch hören. »Jetzt ist alles vorbei« dachte ich. Wir würden Kopps Brief niemals zurückbekommen. Außerdem musste ich bekennen, dass ich selbst der
P.O.U.M. angehörte, und zweifellos würden sie die Polizei anrufen, damit sie mich verhafte, um so noch einen Trotzkisten zur Strecke zu bringen. Da kam der Offizier aber schon wieder heraus, setzte sich seine Mütze auf und bedeutete mir finster, ich solle ihm folgen. Wir gingen zum Amt des Polizeichefs. Es war ein langer Weg, wir mussten zwanzig Minuten gehen. Der kleine Offizier marschierte steif mit militärischem Schritt vor mir her. Auf dem ganzen Weg wechselten wir nicht ein einziges Wort. Als wir am Amt des Polizeichefs ankamen, drückte sich vor dem Tor ein Haufen recht abscheulich aussehender Halunken herum, vermutlich Polizeispitzel, Informanten und alle möglichen Spione. Der kleine Offizier ging hinein, ich hörte ein langes, erregtes Gespräch. Man konnte laute, wütende Stimmen hören, und man konnte sich heftige Gesten vorstellen, Achselzucken und auf den Tisch geschlagene Fäuste. Offenbar weigerte sich die Polizei, den Brief herauszugeben. Schließlich aber kam der Offizier wieder heraus, er war ganz rot im Gesicht, aber er hatte einen großen, offiziellen Umschlag in der Hand. Es war Kopps Brief. Wir hatten einen winzigen Sieg errungen, der aber nicht die geringste Bedeutung hatte, wie sich später herausstellte. Der Brief wurde pflichtgemäß abgeliefert, aber die militärischen Vorgesetzten konnten Kopp keinesfalls aus dem Gefängnis befreien.
Der Offizier versprach mir, den Brief dem Obersten auszuhändigen. Was aber sollte mit Kopp geschehen? sagte ich. Konnten wir ihn nicht frei bekommen? Er zuckte mit der Schulter. Das war eine ganz andere Sache. Sie wussten nicht, warum Kopp verhaftet worden war. Er sagte mir nur, dass die geeigneten Untersuchungen durchgeführt würden. Es gab nichts mehr zu sagen, wir mussten uns trennen. Wir bei-
de verbeugten uns leicht. Und dann geschah etwas sehr Seltsames und Erregendes. Der kleine Offizier zögerte einen Augenblick, dann trat er auf mich zu und schüttelte mir die Hand.
Ich weiß nicht, ob ich überzeugend genug schildern kann, wie sehr mich diese Geste ergriff. Es hört sich so unwichtig an. Aber das war es keinesfalls. Man muss sich vorstellen, welche Gefühle man damals hatte - die schreckliche Atmosphäre des Misstrauens und des Hasses, der Lügen und Gerüchte, die überall die Runde machten, die Plakate auf den Litfasssäulen, die laut verkündeten, dass ich und jeder, der der gleichen Gruppe angehörte, ein faschistischer Spion sei. Man muss sich auch vergegenwärtigen, dass wir vor dem Amt des Polizeichefs standen, genau vor dem schmutzigen Gesindel der Kolporteure und agents provocateurs. Jeder einzelne von ihnen konnte vielleicht wissen, dass ich von der Polizei >gesucht< wurde. Es war das gleiche, als ob man während des Ersten Weltkrieges in der Öffentlichkeit einem Deutschen die Hand geschüttelt hätte. Ich vermute, dass er sich wohl dazu durchgerungen hatte, dass ich wirklich kein faschistischer Spion sei. Aber es war dennoch sehr anständig von ihm, meine Hand zu schütteln.
Ich beschreibe diese Szene, so trivial sie auch klingen mag, denn sie ist etwas typisch Spanisches - sie zeigt einen jener Augenblicke der Großzügigkeit, die einem die Spanier unter den schlimmsten Umständen entgegenbringen. Ich habe die übelsten Erinnerungen an Spanien, aber ich habe nur wenige schlechte Erinnerungen an die Spanier. Ich kann mich nur an zwei Gelegenheiten erinnern, bei denen ich mit einem Spanier ernstlich böse war. Beide Male aber hatte ich vermutlich selbst unrecht, wenn ich heute darüber nachdenke. Die Spanier sind ohne Zweifel großzügig, sie haben einen gewissen Adel, der eigentlich nicht in das zwanzigste Jahrhundert gehört. Diese Haltung gibt uns die Hoffnung, dass in Spanien selbst der Faschismus eine verhältnismäßig lockere und erträgliche Form annehmen mag. Nur wenige Spanier besitzen die verdammenswerte Tüchtigkeit und Beständigkeit, die ein moderner totalitärer Staat benötigt. Als die Polizei einige Nächte vorher das Zimmer meiner Frau durchsuchte, hatte sie dafür eine eigentümliche kleine Illustration geliefert. Diese Durchsuchung war tatsächlich eine sehr interessante Sache, und ich hätte sie gerne gesehen, obwohl es vielleicht genauso gut ist, dass ich sie nicht sah, denn ich hätte mich wahrscheinlich nicht beherrschen können.
Die Polizei führte die Durchsuchung im bekannten Stil der Ogpu oder Gestapo durch. In den frühen Morgenstunden klopften sie an die Tür, und sechs Männer marschierten herein, schalteten das Licht an und postierten sich sofort in verschiedenen Ecken des Zimmers, worüber sie sich offensichtlich schon vorher geeinigt hatten. Dann durchsuchten sie beide Zimmer mit unfassbarer Gründlichkeit (nebenan war ein Badezimmer). Sie klopften die Wände ab, hoben die Läufer auf, untersuchten den Boden, befühlten die Vorhänge, stocherten unter die Badewanne und die Heizungskörper, leerten jede Schublade und jeden Koffer, betasteten alle Kleidungsstücke und hielten sie gegen das Licht. Sie beschlagnahmten alle Papiere, einschließlich dessen, was im Papierkorb lag, und obendrein unsere sämtlichen Bücher. Sie gerieten in eine Ekstase des Misstrauens, als sie herausfanden, dass wir eine französische Übersetzung von Hitlers Mein Kampf besaßen. Das hätte unser Schicksal besiegelt, wenn es das einzige Buch gewesen wäre, das sie bei uns fanden. Es ist eindeutig, dass ein Mensch, der Mein Kampf liest, ein Faschist sein muss. Im nächsten Augenblick jedoch fanden sie eine Ausgabe von Stalins Heft Wie man Trotzkisten liquidiert und mit anderen Verrätern umspringen muss. Das brachte sie etwas zur Beruhigung. In einer Schublade lag eine Anzahl Päckchen Zigarettenpapier. Sie nahmen jedes Päckchen auseinander und untersuchten jedes Stückchen Papier für sich, ob vielleicht eine Botschaft daraufgeschrie-
ben sei. Insgesamt durchsuchten sie unsere Sachen fast zwei Stunden lang. Aber während der ganzen Zeit durchsuchten sie das Bett nicht. Während der ganzen Zeit lag meine Frau im Bett, und es hätte bestimmt ein halbes Dutzend Maschinenpistolen unter der Matratze liegen können, gar nicht zu sprechen von einer Bibliothek trotzkistischer Dokumente unter dem Kissen. Aber die Geheimpolizisten dachten nicht daran, das Bett zu berühren, ja, sie sahen nicht einmal darunter. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies zur normalen Routine der Ogpu gehört. Man muss sich vorstellen, dass die Polizei fast vollständig unter kommunistischer Kontrolle stand und dass diese Leute wahrscheinlich kommunistische Parteimitglieder waren. Aber sie waren auch Spanier, und es wäre ein bisschen zu viel für sie gewesen, eine Frau aus dem Bett zu zerren. So wurde dieser Teil ihrer Aufgabe schweigend übergangen, und damit war die ganze Durchsuchung sinnlos.
In dieser Nacht schliefen McNair, Cottman und ich in hohem Gras am Rande eines verlassenen Baugeländes. Die Nacht war für die Jahreszeit sehr kalt, und keiner von uns schlief sehr viel. Ich erinnere mich noch an die langen trostlosen Stunden, die wir herumlungerten, ehe wir eine Tasse Kaffee bekommen konnten. Zum ersten Mal, seit ich nach Barcelona gekommen war, sah ich mir die Kathedrale an. Es war eine moderne Kathedrale, aber gleichzeitig eines der hässlichsten Gebäude der Welt. Sie hat vier mit Zinnen versehene Türme, die genau wie Rheinweinflaschen aussehen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kirchen in Barcelona war sie während der Revolution nicht beschädigt worden. Die Leute sagten, man hätte sie wegen ihres künstlerischen Wertes< verschont. Ich bin der Ansicht, dass die Anarchisten schlechten Geschmack bewiesen, als sie die Kirche nicht in die Luft sprengten, solange sie die Gelegenheit dazu hatten, obwohl sie ein rot-schwarzes Banner zwischen die Türme hängten. An diesem Nachmittag besuchten meine Frau und ich Kopp zum letzten Mal. Wir konnten nichts, aber wirklich nichts für ihn tun, nur auf Wiedersehen sagen und etwas Geld bei spanischen Freunden lassen, die ihm Nahrung und Zigaretten bringen würden. Etwas später aber, wir hatten schon Barcelona verlassen, wurde er auch incomunicado gehalten, und man konnte ihm nicht einmal mehr Lebensmittel schicken. Als wir an diesem Abend die Rambla hinuntergingen, kamen wir am Cafe >Moka< vorbei, das immer noch von den Zivilgardisten besetzt gehalten wurde. Spontan ging ich hinein und sprach zwei von ihnen an, die an der Theke lehnten und ihre Gewehre über dem Rücken trugen. Ich fragte sie, ob sie wüssten, wer von ihren Kameraden hier während der Maikämpfe Dienst getan hätte. Sie wussten es nicht und konnten mit der üblichen spanischen Ungenauigkeit auch niemanden ausfindig machen, der es wusste. Ich sagte ihnen, mein Freund Jorge Kopp läge im Gefängnis und würde vielleicht für etwas, was mit den Maikämpfen zusammenhing, vor Gericht gestellt. Die Leute aber, die hier Dienst getan hätten, wüssten, dass er die Kämpfe aufgehalten habe und einigen Leuten das Leben gerettet hätte. Sie sollten sich vielleicht überwinden und Zeugnis dafür ablegen. Einer der Leute, mit denen ich sprach, war ein stumpfer, schwerfälliger Mann, der dauernd seinen Kopf schüttelte, weil er durch den Verkehrslärm meine Stimme nicht hören konnte. Aber der zweite war anders. Er sagte, er hätte durch seine Kameraden von Kopps Aktion gehört; Kopp sei ein buen chico (ein guter Kerl). Aber selbst damals wusste ich schon, dass alles nutzlos war. Sollte Kopp wirklich vor Gericht gestellt werden, würde das wie in allen gleichartigen Prozessen auf Grund falscher Beweise geschehen. Wenn er inzwischen erschossen worden ist (ich befürchte, das ist ziemlich sicher), so wird dies sein Nachruf sein: das buen chico des einfachen Zivilgardisten, selbst ein Teil des schmutzigen Systems, aber noch menschlich genug, um eine anständige Handlung als solche zu erkennen.
Wir führten ein außergewöhnliches, verrücktes Dasein. Während der Nacht waren wir Verbrecher, während des Tages waren wir wohlhabende, englische Besucher - so gaben wir uns jedenfalls. Selbst wenn man eine Nacht draußen verbracht hat, bewirken eine Rasur, ein Bad und frisch geputzte Schuhe ein Wunder in bezug auf das Äußere. Augenblicklich war es das sicherste für uns, so bürgerlich wie möglich auszusehen. Wir hielten uns in den vornehmen Wohnvierteln der Stadt auf, wo man unsere Gesichter nicht kannte, gingen in teure Restaurants und behandelten die Kellner auf eine typisch englische Art. Zum ersten Mal in meinem Leben schrieb ich auch etwas auf die Wände. In den Eingängen verschiedener feiner Restaurants kritzelte ich »Visca P.O.U.M.!« so groß, wie ich es schreiben konnte, an die Wand. Während der ganzen Zeit war ich technisch auf der Flucht, fühlte mich aber nicht in Gefahr. Das Ganze erschien so absurd. Ich hatte den unausrottbaren englischen Glauben, dass >sie< mich nicht verhaften könnten, es sei denn, ich hätte ein Gesetz gebrochen. Das ist die gefährlichste Illusion, die man während eines politischen Pogroms haben kann. Der Befehl für die Verhaftung McNairs war erlassen worden, und es war durchaus möglich, dass auch der Rest von uns auf der Liste stand. Die Verhaftungen, Überfälle und Durchsuchungen gingen pausenlos weiter. Zu dieser Zeit war praktisch jeder, den wir kannten, im Gefängnis, mit Ausnahme derjenigen, die an der Front waren. Die Polizei ging sogar auf die französischen Schiffe, die von Zeit zu Zeit Flüchtlinge wegbrachten, und verhaftete verdächtige >Trotzkisten<.
Wir verdanken es der Gefälligkeit des britischen Konsuls, dass es uns gelang, unsere Pässe in Ordnung zu bringen. Er muss in dieser Woche eine recht anstrengende Zeit verbracht haben. Je eher wir abreisten, desto besser. Der Zug nach Port Bou sollte um halb acht Uhr abends fahren, und man hätte normalerweise erwarten können, dass er etwa um halb neun abfahren würde. Wir hatten verabredet, dass meine Frau vorher ein Taxi bestellen und ihre Koffer packen solle. Dann sollte sie im allerletzten Augenblick ihre Rechnung bezahlen und das Hotel verlassen. Erregte sie im Hotel zu viel Aufsehen, würde die Direktion sicherlich die Polizei benachrichtigen. Ich ging gegen sieben Uhr zum Bahnhof und erfuhr, dass der Zug schon abgefahren war. Er hatte um zehn vor sieben Barcelona verlassen. Wie üblich, hatte es sich der Lokomotivführer anders überlegt. Glücklicherweise konnten wir meine Frau noch rechtzeitig warnen. Der nächste Zug fuhr früh am nächsten Morgen. McNair, Cottman und ich aßen in einem kleinen Restaurant in der Nähe des Bahnhofs zu Abend und entdeckten durch vorsichtiges Fragen, dass der Besitzer des Restaurants Mitglied der C.N.T. und uns wohlgesinnt war. Er vermietete uns ein Dreibettzimmer und vergaß, die Polizei zu benachrichtigen. Es war das erste Mal seit fünf Nächten, dass ich ohne meine Kleider schlafen konnte.
Am nächsten Morgen gelang es meiner Frau, ohne Aufsehen zu erregen, aus dem Hotel zu entwischen. Der Zug fuhr mit einer Stunde Verspätung ab. Ich benutzte die Zeit, um einen langen Brief an das Kriegsministerium zu schreiben. Ich schilderte darin den Fall Kopps, wie er zweifellos irrtümlicherweise verhaftet worden sei, wie dringend er an der Front benötigt würde und wie viele Leute bescheinigen könnten, dass er sich nichts habe zuschulden kommen lassen. Ich weiß nicht, ob irgend jemand diesen Brief gelesen hat, den ich mit einer zittrigen Handschrift und einem noch unbeholfeneren Spanisch auf Blätter schrieb, die ich aus meinem Notizbuch herausgerissen hatte; meine Finger waren immer noch halb gelähmt. Jedenfalls hat weder dieser Brief noch sonst etwas eine Wirkung gehabt. Während ich heute, sechs Monate nach den Ereignissen, schreibe, ist Kopp (wenn er nicht erschossen worden ist) immer noch ohne Anklage und ohne Gerichtsurteil im Gefängnis. Anfangs erhielten wir ein oder zwei Briefe von ihm, die von entlassenen Gefangenen hinausgeschmuggelt und in Frankreich aufgegeben worden waren. Alle berichteten uns das gleiche - Gefangenschaft in schmutzigen, dunklen Verliesen, schlechte und unzureichende Ernährung, ernste Erkrankung infolge der Verhältnisse im Gefängnis und der Verweigerung ärztlicher Pflege. Diese Angaben wurden mir von verschiedenen anderen englischen und französischen Quellen bestätigt. Kürzlich verschwand er in einem der >Geheimgefängnisse<, mit denen anscheinend überhaupt keine Verbindung möglich ist. Sein Fall ist ein typisches Beispiel für Dutzende oder Hunderte von Ausländern und wer weiß wie viele Tausende von Spaniern.
Schließlich überschritten wir die Grenze ohne jeden Zwischenfall. Der Zug führte die erste Klasse und hatte einen Speisewagen, den ersten, den ich in Spanien gesehen hatte. Bis vor kurzem gab es in Katalonien nur Züge mit einer Klasse. Zwei Polizisten gingen durch den Zug und notierten die Namen der Ausländer, aber als sie uns im Speisewagen sahen, schienen sie von unserer Anständigkeit überzeugt zu sein. Es war eigenartig, wie sich alles verändert hatte. Noch sechs Monate vorher, als die Anarchisten an der Regierung waren, galt man dann als anständig, wenn man wie ein Proletarier aussah. Auf dem Wege von Perpignan nach Cerberes hatte ein französischer Kaufmann in meinem Eisenbahnwagen in vollem Ernst zu mir gesagt: »Sie müssen nicht so, wie Sie aussehen, nach Spanien gehen. Legen Sie Ihren Kragen und Ihre Krawatte ab. In Barcelona wird man sie Ihnen abreißen.« Er übertrieb, aber seine Bemerkung illustrierte, wie man über Katalonien dachte. An der Grenze hatten die anarchistischen Wachtposten einen vornehm gekleideten Franzosen und seine Frau zurückgeschickt. Ich vermute, sie taten es nur deshalb, weil sie zu bürgerlich aussahen. Jetzt war es genau umgekehrt; bürgerlich auszusehen war die einzige Rettung. Im Passbüro prüften sie, ob wir im Verzeichnis der Verdächtigen standen, aber dank der Nachlässigkeit der Polizei waren unsere Namen dort nicht vermerkt, nicht einmal der von McNair. Man durchsuchte uns von Kopf bis Fuß, aber wir besaßen außer meinen Entlassungspapieren nichts, was uns in Verdacht bringen konnte. Die Carabineros, die mich durchsuchten, wussten aber nicht, dass die 29. Division zur P.O.U.M. gehörte. So entwischten wir durch den Schlagbaum, und nach sechs Monaten war ich wieder auf französischem Boden. Meine einzigen Souvenirs aus Spanien waren eine Wasserflasche aus Ziegenfell und eine der winzigen Eisenlampen, in denen die Bauern in Aragonien ihr Olivenöl brennen. Diese Lampen haben fast die gleiche Form wie die kleinen Terrakottalampen, die die Römer vor zweitausend Jahren benutzten. Ich hatte sie in einer zerstörten Hütte gefunden, und sie war in meinem Gepäck geblieben.
Schließlich stellte sich aber heraus, dass wir keine Minute zu früh entkommen waren. Im ersten Zeitungsblatt, das wir in die Hände bekamen, lasen wir, dass McNair wegen Spionage verhaftet worden sei. Die spanischen Behörden hatten diese Verhaftung ein wenig zu früh angekündigt. Glücklicherweise lässt sich >Trotzkismus< nicht ausliefern.
Ich frage mich, was wohl angemessen ist, wenn man aus einem Land, in dem Krieg herrscht, kommt und seinen Fuß auf friedlichen Boden setzt. Ich rannte damals zum nächsten Tabakladen und kaufte so viel Tabak und Zigaretten, wie ich in meine Taschen stopfen konnte. Dann gingen wir alle an ein Büfett und tranken eine Tasse Tee, den ersten Tee mit frischer Milch, den wir seit Monaten bekommen hatten. Es dauerte einige Tage, ehe ich mich daran gewöhnt hatte, dass ich meine Zigaretten kaufen konnte, wann ich wollte. Ich erwartete immer noch, die Tür des Tabakladens verschlossen zu finden und ein Schild mit der Ankündigung »No hay tobaco« im Fenster zu sehen.
McNair und Cottman gingen nach Paris, meine Frau und ich verließen den Zug in Banyuls, der ersten Station an der Bahnlinie. Wir hatten das Gefühl, dass wir uns ein bisschen erholen sollten. Wir wurden nicht gerade sehr freundlich empfangen, als man Banyuls erfuhr, wir kämen aus Barcelona. Ich wurde häufig in das gleiche Gespräch verwickelt: »Sie kommen aus Spanien? Auf welcher Seite haben Sie gekämpft? Der Regierung? Oh!« - und dann kam eine spürbare Kühle. Die kleinste Stadt schien völlig für Franco eingenommen zu sein, zweifellos wegen der vielen spanischen faschistischen Flüchtlinge, die hier von Zeit zu Zeit ankamen. Der Kellner des Cafes, in das ich ging, war ein mit Franco sympathisierender Spanier und sah mich verächtlich an, als er mir einen Aperitif brachte. In Perpignan war es anders. Diese Stadt steckte voller Parteigänger der Regierung, und dort bekämpften sich die verschiedenen Gruppen fast genauso heftig wie in Barcelona. Dort gab es ein Café, wo das Wort P.O.U.M. die Freundschaft zu den Franzosen anknüpfte und ein Lächeln der Kellner hervorrief.
Ich glaube, wir blieben drei Tage in Banyuls. Es war eine eigentümlich unruhige Zeit. Wir hätten uns eigentlich in diesem ruhigen Fischerstädtchen vollständig erleichtert und dankbar fühlen sollen, da wir so weit von den Handgranaten entfernt waren, von den Maschinengewehren, den um Lebensmittel Schlange stehenden Leuten, der Propaganda und den Intrigen. Aber wir fühlten nichts dergleichen. Was wir in Spanien gesehen hatten, fiel jetzt, nachdem wir uns davon gelöst hatten, nicht zurück und verlor keinesfalls an Bedeutung. Die Erinnerung daran stürzte vielmehr erst recht auf uns ein und war viel lebhafter als vorher. Ununterbrochen dachten, sprachen und träumten wir von Spanien. Vorher hatten wir uns monatelang gesagt, dass wir an die Mittelmeerküste gehen, uns ausruhen und vielleicht ein wenig fischen würden, »wenn wir aus Spanien hinauskommen«. Nachdem wir aber jetzt hier waren, empfanden wir nur Langeweile und Enttäuschung. Das Wetter war kühl, vom Meer blies ein ständiger Wind, das Wasser war bewegt und glanzlos, am Hafenrand schwappten Asche, Korken und Fischeingeweide gegen die Steine. Es mag wahnsinnig klingen aber wir wären am liebsten wieder in Spanien gewesen. Obwohl es niemand genutzt, ja sogar ernsten Schaden angerichtet hätte, wünschten wir uns beide, mit den anderen im Gefängnis zu sein.
Ich vermute, dass es mir nicht gelungen ist, mehr als eine Spur davon zu vermitteln, was diese Monate in Spanien für mich bedeuteten. Ich habe einige äußere Ereignisse berichtet, aber ich kann nicht die Gefühle wiedergeben, die sie in mir hinterlassen haben. Sie vermischen sich unzertrennbar mit Erscheinungen, Gerüchen und Geräuschen, die man nicht mit Worten ausdrücken kann: der Geruch der Schützengräben, die Morgendämmerung in den Bergen, die sich in einer unfassbaren Entfernung verloren, das frostige Krachen der Kugeln, das Donnern und Blitzen der Handgranaten; das klare, kalte Licht der Morgenstunden in Barcelona, das Stampfen der Stiefel auf dem Kasernenhof, damals die Schlangen der Leute, die nach Lebensmitteln anstanden, die rot-schwarzen Fahnen und die Gesichter der spanischen Milizleute; vor allem die Gesichter der Milizleute, es waren Menschen, mit denen ich an der Front zusammen gewesen war und die nun Gott weiß wohin verstreut worden waren, einige waren in der Schlacht gefallen, einige zum Krüppel geschossen, einige im Gefängnis; die meisten aber, hoffe ich, sind noch in Sicherheit und gesund. Ich wünsche ihnen allen viel Glück. Ich hoffe, dass sie den Krieg gewinnen werden und alle Ausländer, ob Deutsche, Russen oder Italiener, aus Spanien vertreiben. Dieser Krieg, in dem ich eine so wirkungslose Rolle spielte, hat vor allem schlechte Erinnerungen in mir hinterlassen, und doch würde ich es bedauern, nicht daran teilgenommen zu haben. Wenn man nur einen Blick auf eine derartige Katastrophe geworfen hat, muss das Ergebnis nicht notwendigerweise Enttäuschung oder Zynismus sein. Wie auch der spanische Krieg enden mag, er wird sich jedenfalls als eine entsetzliche Katastrophe erweisen, ganz abgesehen von dem Gemetzel und den körperlichen Leiden. Seltsamerweise hat das ganze Erlebnis meinen Glauben an die Anständigkeit menschlicher Wesen nicht vermindert, sondern vermehrt. Ich hoffe deshalb, dass mein Bericht nicht zu irreführend ist. Ich nehme an, dass in einer derartigen Angelegenheit niemand vollständig wahrhaftig ist oder sein kann. Man weiß nichts mit Sicherheit, außer dem, was man mit eigenen Augen gesehen hat. Bewusst oder unbewusst schreibt jeder voreingenommen und nimmt Partei. Wenn ich es in diesem Buch nicht schon vorher gesagt habe, möchte ich es jetzt aussprechen: Der Leser hüte sich vor meiner lebhaften Parteinahme, meinen Fehlern in der Darstellung der Fakten und der Verzerrung, die unausweichlich dadurch verursacht wird, dass ich nur eine Ecke des Geschehens gesehen habe. Der Leser sollte sich vor genau den gleichen Fehlern hüten, wenn er einen anderen Bericht über diesen Abschnitt des spanischen Krieges liest.
Wir verließen Banyuls früher, als wir beabsichtigt hatten, in dem Gefühl, dass wir etwas tun sollten und es doch tatsächlich nichts gab, was wir tun konnten. Mit jedem Kilometer, den wir weiter nach Norden fuhren, wurde Frankreich grüner und sanfter. Weg von Berg und Rebe, zurück zu Wiese und Ulme. Als ich auf dem Weg nach Spanien durch Paris gekommen war, war es mir verfallen und düster erschienen, ganz anders als das Paris, das ich acht Jahre vorher gekannt hatte, als das Leben noch billig war und man noch nichts von Hitler gehört hatte. Die Hälfte aller mir bekannten Cafes hatte wegen Kundenmangels geschlossen, und jeder wurde geplagt von den hohen Lebenshaltungskosten und der Kriegsfurcht. Jetzt aber, nach der Armut Spaniens, erschien mir selbst Paris lustig und wohlhabend. Auch die Weltausstellung lief auf vollen Touren, trotzdem vermieden wir es, sie zu besuchen.
Dann kamen wir nach England - Südengland, das wahrscheinlich die einlullendste Landschaft der Welt ist. Wenn man diese Reise macht, ist es schwer zu glauben, dass überhaupt irgendwo etwas geschieht, besonders wenn man sich gerade mit den Plüschkissen im Eisenbahnwagen des Schiffszuges unter dem Hintern friedlich von der Seekrankheit erholt. Erdbeben in Japan, Hungersnöte in China, Revolution in Mexiko? Mach dir keine Sorgen, morgen früh wird die Milch auf der Türschwelle stehen, und am Freitag wird der New Statesman herauskommen. Die Industriestädte lagen weit weg, ein Schmutzfleck aus Qualm und Elend, der von der Rundung der Erdoberfläche verborgen wurde. Hier unten gab es immer noch das England, das ich in meiner Kindheit gekannt hatte: die Durchstiche der Eisenbahnlinie, die durch wilde Blumen verschönert wurden, die weitläufigen Weiden, auf denen große, glänzende Pferde grasen und meditieren, die langsam fließenden Bäche, die von Weiden gesäumt sind, die üppigen grünen Kronen der Ulmen, der Rittersporn in den Gärten; dann die riesige, friedliche Wildnis am Rande von London, die Kähne auf dem schmutzigen Fluss, die altgewohnten Straßen, die Plakate mit den Ankündigungen von Kricketspielen und königlichen Hochzeiten, die Männer mit ihren >Melonen<, die Tauben auf dem Trafalgar Square, die roten Autobusse, die blauen Polizisten - sie alle schliefen den tiefen, tiefen Schlaf Englands. Ich fürchte, wir werden nie daraus erwachen, ehe uns nicht das Krachen von Bomben daraus erweckt. |
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