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George Orwell - Mein Katalonien (1938)
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Achtes Kapitel

Die Tage und selbst die Nächte wurden angenehm warm. Auf einem von Kugeln zerzausten Baum vor unserem Graben bildeten sich dicke Kirschentrauben. Das Baden im Fluss hörte auf, eine Qual zu sein, und wurde fast ein Vergnügen. Wilde Rosen mit rosa Blüten von der Größe einer Untertasse wucherten über die Granatlöcher rund um Torre Fabian. Hinter der Kampflinie traf man Bauern, die wilde Rosen hinter ihren Ohren trugen. Am Abend zogen sie mit grünen Netzen aus, um Wachteln zu jagen. Man breitet das Netz über die Spitzen der Gräser, legt sich dann auf den Boden nieder und macht ein Geschrei wie eine weibliche Wachtel. Jede männliche Wachtel, die in Hörweite ist, rennt dann herbei, und wenn sie unter dem Netz ist, wirft man einen Stein, um sie zu erschrecken. Dann springt sie in die Luft und verfängt sich im Netz. Anscheinend wurden nur männliche Wachteln gefangen, was ich für unfair hielt.
Neben uns an der Front lag jetzt eine Abteilung Andalusier. Ich weiß nicht genau, wie sie an diesen Frontabschnitt kamen. Die gängige Erklärung lautete, sie seien so schnell von Malaga fortgelaufen, dass sie vergessen hätten, in Valencia zu halten. Diese Erklärung kam natürlich von den Kataloniern, die es sich angewöhnt hatten, auf die Andalusier wie auf einen Stamm Halbwilder herabzusehen. Sicherlich waren die Andalusier sehr einfältig. Wenige, ja vielleicht niemand von ihnen konnte lesen, und sie schienen nicht einmal zu wissen, was jeder in Spanien weiß, zu welcher politischen Partei er gehört. Sie glaubten, sie seien Anarchisten, aber sie waren sich dessen nicht ganz gewiss, vielleicht waren sie Kommunisten. Diese Männer sahen knorrig und bäuerlich aus, etwa wie Schafhirten oder Arbeiter aus den Olivenhainen. Die unerbittliche Sonne weiter südlich liegender Gefilde hatte ihre Gesichter tief gezeichnet. Sie waren sehr nützlich für uns, denn sie besaßen eine außerordentliche Geschicklichkeit, den vertrockneten spanischen Tabak zu Zigaretten zu drehen. Man hatte aufgehört, Zigaretten auszugeben, aber in Monflorite konnte man gelegentlich Päckchen mit sehr billigem Tabak kaufen. In Aussehen und Textur glich er gehacktem Häcksel. Sein Aroma duftete nicht schlecht, aber er war so trocken, dass der Tabak selbst dann, wenn es einem gelungen war, eine Zigarette zu rollen, sofort wieder herausfiel und eine leere Röhre zurückblieb. Die Andalusier aber konnten wunderbare Zigaretten drehen und hatten eine besondere Technik, die Enden festzustopfen.
Zwei Engländer wurden von einem Hitzschlag getroffen. Die deutlichsten Erinnerungen an diese Zeit sind für mich die Hitze der Mittagssonne und wie wir halbnackt Sandsäcke schleppten, die unsere Schultern aufrieben, die schon von der Sonne geschunden worden waren; dann unsere lausigen Kleider und Stiefel, die buchstäblich in Fetzen auseinander fielen, und das Ringen mit den Maultieren, die unsere Rationen brachten. Das Gewehrfeuer störte sie zwar nicht, aber sie flüchteten, wenn ein Schrapnell in der Luft zerbarst. Und die Moskitos (die gerade lebendig wurden) und die Ratten, die ein öffentliches Ärgernis waren und selbst Lederriemen und Patronentaschen verschlangen. Außer einer gelegentlichen Verwundung durch die Kugel eines Scharfschützen, den sporadischen Artilleriebeschuss und die Luftangriffe auf Huesca ereignete sich nichts. Nachdem die Bäume jetzt voller Laub waren, hatten wir Anstände für Scharfschützen, ähnlich den Machans (Anm.: Hochsitz bei der Tigerjagd in Indien), in den Pappeln entlang unserer Front errichtet. Auf der anderen Seite von Huesca ließen die Angriffe nach. Die Anarchisten hatten schwere Verluste erlitten, und es war ihnen noch nicht gelungen, die Straße nach Jaca vollständig abzuschneiden. Sie hatten sich auf beiden Seiten so nahe an die Straße heranzuschieben vermocht, dass sie diese unter Maschinengewehrfeuer halten und für den Verkehr unpassierbar machen konnten. Aber die Lücke war einen Kilometer breit, und die Faschisten hatten eine Grabenstraße konstruiert, eine Art riesigen Schützengraben, durch die eine gewisse Anzahl Lastwagen kommen und gehen konnte. Deserteure berichteten, dass es in Huesca viel Munition und wenig Lebensmittel gebe. Aber die Stadt fiel offensichtlich nicht. Wahrscheinlich wäre es unmöglich gewesen, sie mit den zur Verfügung stehenden fünfzehntausend schlecht bewaffneten Soldaten zu nehmen. Später im Juni brachte die Regierung Truppen von der Front um Madrid und konzentrierte dreißigtausend Mann und eine riesige Zahl Flugzeuge auf Huesca, aber die Stadt fiel immer noch nicht.
Als wir auf Urlaub gingen, war ich hundertfünfzehn Tage an der Front gewesen, und damals schien dieser Zeitraum einer der nutzlosesten meines ganzen Lebens gewesen zu sein. Ich war in die Miliz eingetreten, um gegen den Faschismus zu kämpfen. Ich hatte jedoch kaum gekämpft, sondern nur wie ein passives Objekt existiert. Ich tat nichts als Gegenleistung für meine Rationen, außer dass ich unter der Kälte und dem Mangel an Schlaf litt. Das ist aber vielleicht in den meisten Kriegen das Schicksal der Mehrzahl der Soldaten. Wenn ich jedoch heute diese ganze Zeit rückblickend betrachte, bedauere ich sie nicht vollständig. Ich wünsche allerdings, ich hätte der spanischen Regierung etwas wirkungsvoller dienen können. Aber von meinem persönlichen Gesichtspunkt, das heißt von dem Gesichtspunkt meiner persönlichen Entwicklung her gesehen, waren die ersten drei oder vier Monate, die ich an der Front verbrachte, weniger nutzlos, als ich dachte. Sie waren eine Art Interregnum in meinem Leben, völlig unterschieden von allem, was voraus-
gegangen war und was vielleicht auch noch kommen sollte. Diese Zeit lehrte mich Dinge, die ich auf keine andere Weise hätte lernen können.
Der wesentlichste Punkt bestand darin, dass ich während dieser ganzen Zeit isoliert war - denn an der Front war man fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten: selbst von dem, was sich in Barcelona ereignete, hatte man nur eine verschwommene Vorstellung, und das unter Leuten, die man etwas verallgemeinert und doch nicht zu ungenau als Revolutionäre bezeichnen konnte. Das war das Ergebnis des Milizsystems, das vor 1937 an der aragonischen Front nicht grundlegend geändert wurde. Die Arbeitermiliz, die auf den Gewerkschaften aufbaute und sich aus Leuten von ungefähr der gleichen politischen Meinung zusammensetzte, bewirkte, dass an einer Stelle die intensivsten revolutionären Gefühle des ganzen Landes zusammenkamen. Ich war mehr oder weniger durch Zufall in die einzige Gemeinschaft von nennenswerter Größe in Westeuropa gekommen, wo politisches Bewusstsein und Zweifel am Kapitalismus normaler waren als das Gegenteil. Hier in Aragonien lebte man unter Zehntausenden von Menschen, die hauptsächlich, wenn auch nicht vollständig, aus der Arbeiterklasse stammten. Sie lebten alle auf dem gleichen Niveau unter den Bedingungen der Gleichheit. Theoretisch herrschte vollkommene Gleichheit, und selbst in der Praxis war man nicht weit davon entfernt. In gewisser Weise ließe sich wahrhaftig sagen, dass man hier einen Vorgeschmack des Sozialismus erlebte. Damit meine ich, dass die geistige Atmosphäre des Sozialismus vorherrschte. Viele normale Motive des zivilisierten Lebens - Snobismus, Geldschinderei, Furcht vor dem Boss und so weiter - hatten einfach aufgehört zu existieren. Die normale Klasseneinteilung der Gesellschaft war in einem Umfang verschwunden, wie man es sich in der geldgeschwängerten Luft Englands fast nicht vorstellen kann. Niemand lebte dort außer den Bauern und uns selbst, und niemand hatte einen Herrn über sich. Natürlich konnte dieser Zustand nicht andauern. Es war einfach ein zeitlich und örtlich begrenzter Abschnitt in einem gewaltigen Spiel, das augenblicklich auf der ganzen Erdoberfläche gespielt wird. Aber es dauerte lange genug, um jeden, der es erlebte, zu beeindrucken. Wie sehr damals auch geflucht wurde, später erkannte jeder, dass er mit etwas Fremdem und Wertvollem in Berührung gewesen war. Man hatte in einer Gemeinschaft gelebt, in der die Hoffnung normaler war als die Gleichgültigkeit oder der Zynismus, wo das Wort Kamerad für Kameradschaft stand und nicht, wie in den meisten Ländern, für Schwindel. Man hatte die Luft der Gleichheit eingeatmet. Ich weiß sehr genau, wie es heute zum guten Ton gehört zu verleugnen, dass der Sozialismus etwas mit Gleichheit zu tun hat. In jedem Land der Welt ist ein ungeheurer Schwarm Parteibonzen und schlauer, kleiner Professoren beschäftigt zu >beweisen<, dass Sozialismus nichts anderes bedeutet als planwirtschaftlichen Staatskapitalismus, in dem das Motiv des Raffens erhalten bleibt. Aber zum Glück gibt es daneben auch eine Vision des Sozialismus, die sich hiervon gewaltig unterscheidet. Die Idee der Gleichheit zieht den normalen Menschen zum Sozialismus hin. Diese >Mystik< des Sozialismus lässt ihn sogar seine Haut dafür riskieren. Für die große Mehrheit der Menschen bedeutet der Sozialismus die klassenlose Gesellschaft, oder er bedeutet ihnen überhaupt nichts. Unter diesem Gesichtspunkt aber waren die wenigen Monate in der Miliz wertvoll für mich. Denn solange die spanischen Milizen sich hielten, waren sie gewissermaßen der Mikrokosmos einer klassenlosen Gesellschaft. In dieser Gemeinschaft, in der keiner hinter dem Geld herrannte, wo alles knapp war, es aber keine Privilegien und kein Speichellecken mehr gab, fand man vielleicht in groben Umrissen eine Vorschau davon, wie die ersten Schritte des Sozialismus aussehen könnten. Statt mir meine Illusionen zu rauben, fesselte mich die-
ser Zustand. Die Folge war, dass ich noch viel stärker als vorher wünschte, der Sozialismus möge verwirklicht werden. Teilweise kam das daher, weil ich das Glück gehabt hatte, unter Spaniern zu leben. Mit ihrer angeborenen Anständigkeit und ihrem immer gegenwärtigen anarchistischen Gefühl würden sie selbst die ersten Stadien des Sozialismus erträglicher machen, wenn man ihnen nur eine Chance gäbe.
Natürlich war ich mir damals kaum der Veränderungen bewusst, die sich in meinen Gedanken vollzogen. Wie alle von uns dachte ich hauptsächlich an Langeweile, Hitze, Kälte, Schmutz, Läuse, Entbehrung und die gelegentliche Gefahr. Das ist heute ganz anders. Der Zeitabschnitt, der damals so nutzlos und ereignislos zu sein schien, ist heute von großer Bedeutung für mich. Er unterscheidet sich so sehr von meinem übrigen Leben, dass er schon jetzt im Licht einer zauberhaften Qualität erscheint, die sich normalerweise nur bei Erinnerungen einstellt, die viele Jahre alt sind. Die Ereignisse selbst waren abscheulich, aber heute sind sie schon eine angenehme Erinnerung, bei der meine Gedanken gerne verweilen. Ich wünschte, ich könnte die Atmosphäre jener Zeit schildern. Ich hoffe jedenfalls, dass ich ein wenig davon in den voraufgehenden Kapiteln dieses Buches vermittelt habe. In meiner Erinnerung fällt sie zusammen mit der Winterkälte, den zerlumpten Uniformen der Milizsoldaten, den ovalen spanischen Gesichtern, den Maschinengewehren, die wie Funktasten hämmerten, dem Geruch von Urin und faulendem Brot, dem Bohnenstew, das nach der Konservenbüchse schmeckte und das wir hastig aus schmutzigen Kochgeschirren hinunterschlangen.
Ich sehe die ganze Zeit in merkwürdiger Lebendigkeit vor mir. In meiner Erinnerung erlebe ich noch einmal Ereignisse, die zu unwichtig scheinen, um sie wieder wachzurufen. Ich bin wieder im Unterstand am Monte Pocero, auf dem Kalksteinbrocken, der mein Bett war, und der junge Ramon schnarcht, seine Nase zwischen meine Schulterblätter
gepresst. Ich stolpere den schmutzigen Graben entlang durch den Nebel, der wie kalter Dampf um mich herumwirbelt. Ich hocke auf halber Berghöhe in einer Felsspalte, versuche mein Gleichgewicht zu halten und die Wurzel eines wilden Rosmarinbusches aus der Erde zu zerren. Hoch über meinem Kopf pfeifen einige sinnlose Kugeln.
Ich liege zusammen mit Kopp und Bob Edwards und drei Spaniern versteckt unter den kleinen Tannenbäumen auf dem flachen Gelände westlich von Monte Oscuro. Eine Gruppe Faschisten klettert wie Ameisen den kahlen, grauen Hügel auf unserer Rechten hinauf. Nicht weit von uns ertönt ein Hornsignal von den faschistischen Linien. Kopp schaut mich an und zeigt wie ein Schuljunge mit seiner Nase in die Richtung des Klanges.
Ich stehe in dem schmutzigen Hof bei La Granja, mitten unter dem Haufen Männer, die sich mit ihren Blechkochgeschirren um den großen Kessel mit Stew drängen. Der fette und geplagte Koch scheucht sie mit seiner Kelle fort. An einem Tisch in der Nähe steht ein bärtiger Mann mit einer gewaltigen automatischen Pistole an seinem Koppel und hackt Brotlaibe in fünf Stücke. Hinter mir singt eine Cockney-Stimme (es ist Bill Chambers, mit dem ich mich erbittert stritt und der später vor Huesca getötet wurde):
Wir haben Ratten, Ratten in Kammern und Kasematten, Ratten so groß wie Katzen!
Eine Granate zischt herüber. Fünfzehnjährige Kinder werfen sich auf ihr Gesicht. Der Koch duckt sich hinter dem Kochkessel. Als die Granate etwa hundert Meter weiter niedergeht und zerknallt, stehen sie alle mit einem einfältigen Ausdruck wieder auf.
Ich gehe die Reihe der Wachtposten unter den dunklen Zweigen der Pappeln auf und ab. In dem überfluteten Graben vor der Stellung paddeln die Ratten und machen einen Lärm wie Ottern. Wenn die gelbe Morgendämmerung hinter uns hochzieht, beginnt der andalusische Wachtposten, der sich in seinen Mantel eingehüllt hat, zu singen. Hundert oder zweihundert Meter über das Niemandsland hinweg kann man auch den faschistischen Wachtposten singen hören.
Nach den üblichen mananas löste uns am 27. April eine andere Abteilung ab, und wir übergaben ihr unsere Gewehre, packten unsere Tornister und marschierten nach Monflorite zurück. Es tat mir nicht leid, die Front zu verlassen. Die Läuse vermehrten sich viel schneller in meiner Hose, als ich sie abschlachten konnte, und seit einem Monat hatte ich keine Socken mehr. Von den Sohlen meiner Stiefel war so wenig übrig geblieben, dass ich mehr oder minder barfuss marschierte. Ich wünschte mir ein heißes Bad, saubere Kleidung und eine Nacht zwischen Betttüchern leidenschaftlicher, als man sich irgend etwas wünschen kann, wenn man ein normales zivilisiertes Leben führt. Wir schliefen einige Stunden in einer Scheune in Monflorite, sprangen in den frühen Morgenstunden auf einen Lastwagen, erreichten den Fünfuhrzug in Barbastro und - da wir Glück hatten und einen Eilzug in Lerida erwischten - waren am Sechsundzwanzigsten um drei Uhr nachmittags in Barcelona. Danach aber begann der Kummer.

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