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George Orwell - Mein Katalonien (1938)
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Zehntes Kapitel

Am 3. Mai gegen Mittag sagte ein Freund, der durch die Hotelhalle ging, beiläufig: »Am Telefonamt hat es einige Unruhen gegeben, wie ich höre.« Aus irgendeinem Grund schenkte ich ihm damals keine Beachtung.
Als ich am gleichen Nachmittag zwischen drei und vier Uhr etwa in der Mitte der Rambla war, hörte ich einige Gewehrschüsse. Ich drehte mich um und sah einige Burschen mit Gewehren in den Händen und rot-schwarzen Taschentüchern der Anarchisten um den Hals, die eine Seitenstraße entlangschlichen, welche von der Rambla nach Norden abzweigt. Sie schossen offensichtlich auf jemand in einem hohen, achteckigen Turm - ich glaube einer Kirche -, der diese Seitenstraße beherrschte. Sofort dachte ich: »Nun geht's los.« Aber ich war nicht sonderlich überrascht, denn tagelang hatte jeder erwartet, dass »es« jeden Augenblick losgehen werde. Ich war mir im klaren darüber, dass ich sofort ins Hotel zurückgehen musste, um zu sehen, ob meine Frau in Sicherheit war. Aber die Anarchisten an der Einmündung der Seitenstraße winkten die Leute zurück und schrieen, sie sollten die Schusslinie nicht überqueren. Weitere Schüsse fielen. Die Kugeln, die vom Turm kamen, flogen über die Straße, und ein Haufen Leute rannte in Panik von der Schießerei weg die Rambla hinunter. Entlang der ganzen Straße hörte man ein Schnapp, Schnapp, Schnapp, als die Ladenbesitzer die Stahljalousien vor ihren Schaufenstern herabließen. Ich sah, wie zwei Offiziere der Volksarmee, die Hand am Revolver, vorsichtig von Baum zu Baum zurücksprangen. Vor mir flutete die Menge in die U-Bahn-Station in der Mitte der Rambla, um Deckung zu suchen. Ich entschloss mich sofort, ihnen nicht zu folgen. Es konnte bedeuten, dass man stundenlang unter der Erde gefangen blieb.
In diesem Augenblick lief ein amerikanischer Arzt, der mit mir an der Front gewesen war, auf mich zu und packte mich am Arm. Er war ziemlich aufgeregt.
»Los, wir müssen zum Hotel >Falcon< hinunter.« (Das Hotel >Falcon< war ein Gästehaus der P.O.U.M. und wurde hauptsächlich von Milizsoldaten im Urlaub benutzt.) »Die P.O.U.M.-Leute werden sich dort treffen. Die Unruhen haben begonnen. Wir müssen zusammenhalten.«
»Aber, zum Teufel, worum geht es denn?« sagte ich.
Der Arzt zog mich am Arm weiter. Er war zu aufgeregt, um mir eine genaue Erklärung geben zu können. Anscheinend war er auf der Plaza de Cataluna gewesen, als einige Lastwagen mit bewaffneten Zivilgardisten (Anm.: Eine nach dem Tode Orwells gefundene Korrekturnotiz lautet: »In sämtlichen Kapiteln werden >Zivilgardisten< erwähnt. Es sollte überall >Sturmgardisten< heißen. Ich wurde getäuscht, da die Sturmgardisten in Katalonien eine andere Uniform trugen als diejenigen, die später aus Valencia geschickt wurden. Außerdem nannten die Spanier alle Verbände >la guardia<. Die unbestrittene Tatsache, dass die Zivilgardisten sich, wenn irgend möglich, Franco anschlössen (vgl. Anmerkung S. 198), wirft kein schlechtes Licht auf die Sturmgardisten, deren Verband erst nach Beginn der Zweiten Republik aufgestellt wurde. Aber die allgemeine Bemerkung über die öffentliche Feindseligkeit gegen >la guardia<, auch gegen ihre Rolle bei den Kämpfen in Barcelona, sollte stehen bleiben.«) vor dem Telefonamt auffuhren, in dem hauptsächlich C.N.T.-Arbeiter beschäftigt waren, und es überraschend angriffen. Danach waren einige Anarchisten eingetroffen, und es kam zu einem allgemeinen Handgemenge. Ich schloss, dass die Schwierigkeiten früher am Tage darin bestanden hatten, dass die Regierung verlangte, ihr das Telefonamt zu übergeben, was natürlich verweigert wurde.
Als wir die Straße hinuntergingen, raste ein Lastwagen aus der entgegengesetzten Richtung an uns vorbei. Er war voll Anarchisten, die Gewehre in ihren Händen hielten. Vorne lag ein zerlumpter Junge auf einem Haufen Matratzen hinter einem leichten Maschinengewehr. Als wir zum Hotel >Falcon< kamen, das am unteren Ende der Rambla lag, brandete eine Menschenmenge in die Empfangshalle. Es herrschte ein großes Durcheinander, und niemand schien zu wissen, was er tun sollte. Außer der Handvoll Stoßtruppen, die gewöhnlich als Wache des Gebäudes dienten, war niemand bewaffnet. Ich ging hinüber zum Komiteelokal der P.O.U.M., das fast genau gegenüberlag. In einem Zimmer im oberen Stockwerk, wo die Milizsoldaten normalerweise ihre Löhnung erhielten, drängte sich ebenfalls die Menge. Ein großer, blasser, ziemlich stattlicher, etwa dreißigjähriger Mann in Zivilkleidung versuchte, die Ordnung wiederherzustellen, und verteilte Koppel und Patronentaschen von einem Haufen in der Ecke. Es schien bis jetzt noch keine Gewehre zu geben. Der Arzt war verschwunden - ich glaube, es hatte schon Verlust gegeben und man hatte nach Ärzten gerufen -, aber ein anderer Engländer war hinzugekommen. In diesem Augenblick begannen der große Mann und einige andere damit, Gewehre aus einem inneren Büro zu bringen und zu verteilen. Als Ausländern traute man dem anderen Engländer und mir selbst nicht so recht, und niemand wollte uns zunächst ein Gewehr geben. Dann kam ein Milizsoldat, mit dem ich an der Front zusammen gewesen war, und erkannte mich, worauf man uns etwas widerwillig Gewehre und einige Patronenstreifen gab.
Aus einiger Entfernung hörte man Schüsse, und die Straßen waren von Menschen vollständig leergefegt. Jeder sagte, dass es unmöglich sei, die Rambla hinaufzugehen. Die Zivilgarde hatte Gebäude an beherrschenden Stellen besetzt und schoss auf jeden, der vorbeiging. Ich hätte riskiert, zum Hotel zurückzugehen, aber ein Gerücht wurde laut, wonach das Komiteelokal jeden Augenblick angegriffen werden könnte, so dass wir besser zur Verteidigung hier blieben. Im ganzen Gebäude, auf den Treppen und draußen auf dem Bürgersteig standen kleine Menschengruppen und redeten aufgeregt miteinander. Niemand schien genau zu wissen, was eigentlich los war. Ich konnte nur erfahren, dass die Zivilgarde das Telefonamt angegriffen und verschiedene strategische Punkte besetzt hatte, die jene Gebäude beherrschten, die den Arbeitern gehörten. Man hatte den allgemeinen Eindruck, dass die Zivilgarde es generell auf die C.N.T. und die Arbeiterklasse >abgesehen< habe. Es ist bemerkenswert, dass zu diesem Zeitpunkt niemand der Regierung die Schuld zuzuschieben schien. Die ärmeren Klassen in Barcelona hielten die Zivilgarde eher für eine Art Black-and-Tan-Truppe (Anm.: Eine militärische Einheit, die 1920 von der britischen Regierung nach Irland geschickt wurde). Man schien es für selbstverständlich zu halten, dass sie diesen Angriff aus eigener Initiative begonnen hatten. Sobald ich hörte, wie die Dinge standen, fühlte ich mich erleichtert. Der Streitfall war eindeutig. Auf der einen Seite die C.N.T., auf der anderen Seite die Polizei. Ich mache mir nichts Besonderes aus dem idealisierten >Arbeiter<, wie er sich in den Gedanken des bürgerlichen Kommunismus spiegelt. Wenn ich aber einen lebendigen Arbeiter aus Fleisch und Blut im Kampf mit seinem natürlichen Feind, dem Polizisten sehe, brauche ich mich nicht zu fragen, auf wessen Seite ich stehe.
Lange Zeit verging, und in unserem Teil der Stadt schien sich nichts zu ereignen. Ich dachte nicht daran, dass ich ja das Hotel anrufen könnte, um herauszufinden, ob es meiner Frau gut gehe. Ich hielt es für selbstverständlich, dass das Telefonamt nicht mehr arbeitete, obwohl es tatsächlich nur ein paar Stunden außer Aktion war. In den beiden Gebäuden schienen etwa dreihundert Menschen zu sein. Sie waren hauptsächlich Leute der ärmsten Klasse aus den Hinterhöfen an den Kais. Unter ihnen befand sich eine Reihe Frauen, und einige von ihnen trugen Babys, außerdem gab es noch eine Menge zerlumpter kleiner Jungen. Ich nehme an, dass die meisten von ihnen keine Ahnung davon hatten, was vor sich ging, und einfach Schutz suchend in die P.O.U.M.-Gebäude geflohen waren. Ferner waren eine Reihe Urlauber aus der Miliz und eine Handvoll Ausländer da. Soviel ich schätzen konnte, gab es nur etwa sechzig Gewehre für uns alle. Die Offiziere im oberen Stockwerk wurden unablässig von einer Menschenmenge belagert, die Gewehre verlangte und der man mitteilte, dass keine mehr übrig seien. Die jüngeren Milizburschen schienen die ganze Geschichte für eine Art Picknick zu halten. Sie streiften umher und versuchten jedem, der ein Gewehr hatte, dies abzuschmeicheln oder zu stehlen. Es dauerte nicht lange, ehe einer von ihnen mit einem Trick auch mein Gewehr wegnahm und sich sofort aus dem Staube machte. So war ich mit Ausnahme meiner winzigen Pistole, für die ich aber nur einen Rahmen Patronen hatte, wieder unbewaffnet.
Es dunkelte, und ich wurde hungrig, anscheinend gab es keine Lebensmittel im >Falcon<. Mein Freund und ich schlüpften hinaus zu seinem Hotel, das nicht weit weg lag, um etwas zum Abendessen zu bekommen. Die Straßen waren vollständig dunkel und ruhig, keine Menschenseele bewegte sich, die Stahljalousien waren vor allen Schaufenstern herabgelassen, aber man hatte noch keine Barrikaden gebaut. Ehe wir in das Hotel hineingelassen wurden, gab es große Schwierigkeiten, da es verschlossen und barrikadiert war. Als wir zurückkamen, hörte ich, das Telefonamt funktioniere, und ging an das Telefon im Büro im oberen Stockwerk, um meine Frau anzurufen. Es war typisch, dass es im ganzen Gebäude kein Telefonbuch gab, auch kannte ich die Nummer des Hotels >Continental< nicht. Nachdem ich vielleicht eine Stunde von Zimmer zu Zimmer gesucht hatte, fand ich schließlich einen Stadtführer, in dem die Nummer stand. Ich konnte keine Verbindung mit meiner Frau bekommen, aber es gelang mir, John McNair, den Vertreter der I.L.P. in Barcelona, zu erreichen. Er sagte mir, dass alles in Ordnung sei und niemand erschossen wurde. Er fragte mich, ob auch im Komiteelokal alles in Ordnung sei. Ich sagte, wir müssten zufrieden sein, wenn wir nur einige Zigaretten hätten. Ich hatte das als Witz gemeint, trotzdem erschien McNair eine halbe Stunde später mit zwei Päckchen Lucky Strike. Er hatte sich mutig durch die pechschwarzen Straßen geschlichen, die nur von anarchistischen Patrouillen durchstreift wurden, die ihn zweimal mit gezogener Pistole angehalten und seine Papiere durchsucht hatten. Ich werde diese kleine mutige Tat nicht vergessen. Wir freuten uns sehr über die Zigaretten.
An den meisten Fenstern waren bewaffnete Wachen aufgestellt worden, und unten auf der Straße hielt eine kleine Gruppe der Stoßtruppe jeden an, der vorbeiging, und untersuchte ihn. Ein waffenstarrender anarchistischer Patrouillenwagen fuhr vor. Neben dem Fahrer spielte ein hübsches, dunkelhaariges, etwa achtzehnjähriges Mädchen mit einer Maschinenpistole auf ihrem Schoß. Ich verbrachte einige Zeit damit, im Gebäude umherzuwandern. Es war ein großer, weitläufiger Platz, dessen Plan man sich unmöglich einprägen konnte. Überall lag der übliche Unrat, zerbrochene Möbel und zerrissenes Papier, die die unvermeidlichen Produkte einer Revolution zu sein scheinen. Im ganzen Gebäude schliefen Menschen. Auf einem zerbrochenen Sofa in einem Flur schnarchten friedlich zwei arme Frauen von den Kais. Dieses Gebäude war ein Kabarett-Theater gewesen, ehe es von der P.O.U.M. besetzt wurde. In verschiedenen Räumen gab es erhöhte Bühnen, auf einer stand ein einsamer Flügel. Schließlich entdeckte ich, was ich gesucht hatte -die Waffenkammer. Ich wusste nicht, wie die ganze Geschichte ausgehen würde, und ich wollte unbedingt eine Waffe besitzen. Ich hatte so oft gehört, alle rivalisierenden Parteien, die P.S.U.C., die P.O.U.M. und die C.N.T.-F.A.I, hätten Waffen in Barcelona gehamstert, dass ich nicht glauben konnte, in den zwei wichtigsten Gebäuden der P.O.U.M., die ich gesehen hatte, gebe es nur fünfzig oder sechzig Gewehre. Der als Waffenkammer dienende Raum war unbewacht und hatte eine dünne Tür. Es war für mich und einen anderen Engländer nicht schwierig, sie aufzudrücken. Als wir hineinkamen, sahen wir, dass es stimmte, was man uns gesagt hatte - es gab keine Waffen mehr. Wir fanden nur etwa zwei Dutzend uralte, kleinkalibrige Gewehre und einige Schrotbüchsen, aber ohne Patronen. Ich ging zum Büro und fragte, ob man noch zusätzliche Pistolenmunition habe; sie hatten keine. Sie hatten aber einige Kisten mit Handgranaten, die uns der anarchistische Patrouillenwagen gebracht hatte. Ich steckte ein paar in eine meiner Patronentaschen. Man zündete diese plumpe Handgranate, indem man eine Art Streichholz über die Spitze rieb, sie zündeten sehr leicht von selbst. Auf dem Boden streckten sich überall schlafende Menschen. In einem Raum weinte ein Baby, es weinte ununterbrochen. Obwohl es Mai war, wurde die Nacht kalt. Auf einer Kabarettbühne hingen noch Vorhänge; mit meinem Messer trennte ich eine Seite des Vorhanges ab, rollte mich darin ein und schlief ein paar Stunden. Ich erinnere mich, wie mein Schlaf durch den Gedanken an diese abscheulichen Handgranaten gestört wurde, die mich in die Luft sprengen würden, wenn ich zu heftig auf ihnen herumrollte. Um drei Uhr morgens weckte mich der große, stattliche Mann, der das Kommando zu führen schien, gab mir ein Gewehr und stellte mich an eins der Fenster auf Wache. Er sagte mir, dass der Polizeichef Salas, der für den Angriff auf das Telefonamt verantwortlich war, in Haft genommen worden sei. Wie wir später erfuhren, war er in Wirklichkeit nur von seinem Posten entfernt worden. Trotzdem bestätigte diese Nachricht den allgemeinen Eindruck, dass die Zivilgarde ohne Befehl gehandelt habe. Sobald es dämmerte, begannen die Leute unten, zwei Barrikaden zu bauen, eine vor dem Komiteelokal und die andere vor dem Hotel >Falcon<. Die Straßen Barcelonas sind mit viereckigen Kopfsteinen gepflastert, mit denen man leicht eine Mauer bauen kann. Unter den Pflastersteinen liegt ein grober Kies, der sich gut zum Füllen von Sandsäcken eignet. Es war ein eigenartiges und wunderbares Bild, wie diese Barrikaden gebaut wurden. Ich hätte etwas dafür gegeben, es zu fotografieren. Eine lange Reihe Männer, Frauen und ganz kleine Kinder rissen die Pflastersteine mit jener leidenschaftlichen Energie auf, welche die Spanier entfalten, wenn sie sich endgültig entschlossen haben, mit irgendeiner Arbeit zu beginnen. Sie schleppten sie in Handkarren, die sie irgendwo gefunden hatten, herbei und stolperten unter schweren Sandsäcken hin und her. Im Torweg des Komiteelokals stand ein deutschjüdisches Mädchen in Milizhosen, deren Knieknöpfe gerade ihre Knöchel bedeckten, und beobachtete alles mit einem Lächeln. In ein paar Stunden waren die Barrikaden kopfhoch. Schützen wurden an den Schießscharten postiert, hinter einer Barrikade brannte ein Feuer, und die Leute brieten Eier.
Man hatte mir mein Gewehr wieder weggenommen, und es schien keine nützliche Beschäftigung für mich zu geben. Ein anderer Engländer und ich selbst entschlossen uns, zum Hotel >Continental< zurückzugehen. Weiter weg wurde viel geschossen, aber anscheinend nicht in der Rambla. Auf unserem Wege die Straße hinauf schauten wir in den Lebensmittelmarkt hinein. Einige Stände hatten geöffnet. Sie wurden von einer Menschenmenge umlagert, es waren Arbeiter aus den Vierteln südlich der Rambla. Gerade als wir dorthin kamen, ertönte draußen das laute Krachen von Gewehrfeuer. Einige Glasscheiben im Dach zersplitterten, und die Menge flüchtete zu den rückwärtigen Ausgängen. Aber einige Stände blieben offen. Es gelang uns, für jeden eine Tasse Kaffee zu bekommen und ein Stück Ziegenmilchkäse zu kaufen, das ich zu den Handgranaten einsteckte. Ein paar Tage später freute ich mich sehr über diesen Käse.
An der Straßenecke, wo ich am Tage zuvor beobachtet hatte, wie die Anarchisten mit der Schießerei begannen, stand jetzt eine Barrikade. Der Mann hinter der Barrikade (ich stand auf der anderen Straßenseite) rief mir zu, vorsichtig zu sein. Die Zivilgardisten auf dem Kirchturm schossen unterschiedslos auf jeden, der vorbeikam. Ich wartete und überquerte dann das offene Stück im Laufschritt. Und tatsächlich pfiff eine Kugel unangenehm nahe an mir vorbei. Als ich mich immer noch auf der anderen Seite der Straße dem Amtsgebäude der P.O.U.M. näherte, hörte ich von einigen Männern der Stoßtrüppe, die im Torweg standen, neue Warnungsschreie, die ich im ersten Augenblick nicht verstand. Zwischen mir und dem Gebäude standen Bäume und ein Zeitungsstand (derartige Straßen haben in Spanien in der Mitte einen breiten Bürgersteig), und ich konnte nicht sehen, wohin sie zeigten. Ich ging zum >Continental< hinauf, überzeugte mich, dass alles in Ordnung sei, wusch mein Gesicht und ging dann zum Amtsgebäude der P.O.U.M. zurück (etwa hundert Meter weit die Straße hinunter), um nach Befehlen zu fragen. Zu diesem Zeitpunkt war der Lärm des Gewehr- und Maschinengewehrfeuers aus den verschiedenen Richtungen fast so laut wie der Lärm einer Schlacht. Ich hatte gerade Kopp gefunden und fragte ihn, was wir tun sollten, als wir von weiter unten eine Reihe schrecklicher Explosionen hörten. Der Lärm war so laut, dass ich überzeugt war, jemand feuere mit einer Kanone auf uns. In Wirklichkeit waren es nur Handgranaten, die doppelt soviel Krach machen als gewöhnlich, wenn sie zwischen Steingebäuden explodieren.
Kopp warf einen Blick aus dem Fenster, spannte seinen Stock hinter dem Rücken und sagte: »Wir wollen die Sache einmal untersuchen«, dann schlenderte er in seiner gewohnten, unbekümmerten Art die Treppe hinunter, während ich ihm folgte. Direkt vom Torweg aus rollte eine Gruppe der Stoßtruppe Handgranaten so den Bürgersteig hinunter, als ob sie Kegel spielten. Zwanzig Meter weiter explodierten die Handgranaten mit entsetzlichem, ohrenbetäubendem Krach, der sich mit dem Knallen der Gewehre mischte. In der Mitte der Straße schaute ein Kopf hinter einem Zeitungskiosk hervor - es war der Kopf eines amerikanischen Milizsoldaten, den ich gut kannte —, und er sah wie eine Kokosnuss auf der Kirmes aus. Später erst begriff ich, was hier eigentlich los war. Neben dem P.O.U.M.-Gebäude lag ein Cafe, darüber ein Hotel, es hieß Cafe >Moka<. Am Vortage waren zwanzig oder dreißig bewaffnete Zivilgardisten in das Cafe gekommen und hatten es plötzlich besetzt und sich im Gebäude verschanzt, als die Kämpfe begannen. Vermutlich hatten sie Befehl erhalten, das Cafe zu besetzen, um von hier aus später die P.O.U.M.-Büros anzugreifen. Frühmorgens hatten sie versucht hinauszukommen, es wurden Schüsse gewechselt, ein Mann der Stoßtruppe verwundet und ein Zivilgardist getötet. Die Zivilgardisten waren ins Cafe zurückgeflüchtet, aber als der Amerikaner die Straße hinunterkam, hatten sie das Feuer auf ihn eröffnet, obwohl er nicht bewaffnet war. Der Amerikaner hatte sich hinter den Kiosk in Deckung geworfen, und die Männer der Stoßtruppe warfen Handgranaten auf die Zivilgardisten, um sie wieder in das Haus hineinzutreiben.
Kopp erfasste die Situation mit einem Blick, drängte sich nach vorne und zog einen rothaarigen deutschen Mann der Stoßtruppe zurück, der gerade den Sicherheitsstift einer Handgranate mit seinen Zähnen herauszog. Er schrie allen zu, sich vom Torweg zurückzuziehen, und sagte uns in verschiedenen Sprachen, wir müssten jedes Blutvergießen vermeiden. Dann trat er in das Blickfeld der Zivilgardisten auf den Bürgersteig hinaus, schnallte großtuerisch seine Pistole ab und legte sie auf den Boden. Zwei spanische Milizoffiziere taten das gleiche, und die drei gingen langsam zu dem Torweg, in dem sich die Zivilgardisten zusammendrängten. Das hätte ich nicht einmal für zwanzig Pfund getan. Sie gingen unbewaffnet auf die Männer zu, die vor Angst fast den Verstand verloren hatten und geladene Gewehre in ihren Händen hielten. Ein Zivilgardist in Hemdsärmeln kam aschgrau vor Furcht aus der Tür heraus, um mit Kopp zu sprechen. Er zeigte ganz aufgeregt auf zwei nicht explodierte Handgranaten, die auf dem Bürgersteig lagen. Kopp kam zurück und sagte uns, dass wir besser die Handgranaten zur Explosion brächten. So wie sie dort lägen, seien sie für jeden, der vorbeikomme, eine Gefahr. Ein Mann der Stoßtruppe schoss sein Gewehr auf eine der Handgranaten ab und brachte sie zur Explosion. Dann feuerte er auf die andere und schoss vorbei. Ich bat ihn, mir sein Gewehr zu geben, kniete nieder und schoss auf die zweite Handgranate. Leider traf ich sie auch nicht. Das war der einzige Schuss, den ich während der Unruhen abfeuerte. Der Bürgersteig war mit zerbrochenem Glas des Schildes über dem Cafe >Moka< bedeckt. Zwei Wagen, die vor dem Cafe parkten, einer davon Kopps Dienstwagen, waren von Kugeln durchlöchert und ihre Windschutzscheiben von berstenden Handgranaten zertrümmert worden.
Kopp nahm mich wieder nach oben und erklärte mir die Lage. Wir mussten die P.O.U.M.-Gebäude im Falle eines Angriffes verteidigen. Aber die Anführer der P.O.U.M. hatten Anweisungen ausgegeben, dass wir in der Defensive bleiben und, wenn irgend möglich, das Feuer nicht eröffnen sollten. Uns genau gegenüber lag ein Kino, es hieß >Poliorama<. Darüber war ein Museum und oben, hoch über den Dächern, ein kleines Observatorium mit zwei Kuppeln. Die Kuppeln beherrschten die Straße, und wenn ein paar Männer dort mit Gewehren postiert wurden, konnten sie jeden Angriff auf die P.O.U.M.-Gebäude verhindern. Die Hausmeister im Kino waren Mitglieder der C.N.T. und ließen uns kommen und gehen. Was die Zivilgardisten im Cafe >Moka< anbelangte, so würden sie uns keinen Kummer bereiten. Sie wollten nicht kämpfen und würden glücklich sein, am Leben zu bleiben und andere leben zu lassen. Kopp wiederholte, unser Befehl laute, nicht zu schießen, außer wenn man auf uns schieße oder unsere Gebäude angreife.
Obwohl er es nicht sagte, vermute ich, dass die Anführer der P.O.U.M. wütend darüber waren, in diese Geschichte hineingezogen worden zu sein, aber das Gefühl hatten, der C.N.T. zur Seite stehen zu müssen.
Man hatte Wachen im Observatorium aufgestellt. Die nächsten drei Tage und Nächte verbrachte ich ununterbrochen auf dem Dach des >Poliorama< mit nur kurzen Unterbrechungen, wenn ich über die Straße zum Hotel lief, um meine Mahlzeiten einzunehmen. Ich war nicht in Gefahr und litt nur unter Hunger und Langeweile, aber dennoch war es einer der unerträglichsten Abschnitte meines ganzen Lebens. Ich glaube kaum, ein Erlebnis könnte übler sein, eine größere Enttäuschung bringen oder schließlich auch nervenaufreibender sein als jene bösen Tage des Straßenkampfes.
Ich saß auf dem Dach und wunderte mich über die Unsinnigkeit der ganzen Sache. Aus den kleinen Fenstern im Observatorium konnte man kilometerweit im Umkreis sehen: Blick über Blick auf hohe, schlanke Gebäude, Glaskuppeln und phantastisch gewellte Dächer mit leuchtend grünen, kupferfarbenen Ziegeln. Nach Osten hinüber sah man das glitzernde blassblaue Meer. Es war mein erster Blick auf das Meer seit meiner Ankunft in Spanien. Die ganze riesige Stadt mit zwei Millionen Menschen war in eine Art gewaltsamer Trägheit verfallen, einen Alpdruck unbeweglichen Lärms. Die sonnendurchfluteten Straßen waren völlig leer. Es ereignete sich nichts, nur die Kugeln schwirrten zwischen den Barrikaden und den mit Sandsäcken verstellten Fenstern umher. In den Straßen bewegte sich kein Fahrzeug. Hier und da standen die Straßenbahnen bewegungslos auf der Rambla, wo die Fahrer hinausgesprungen waren, als die Kämpfe begannen. Dauernd aber schallte der teuflische Lärm von Tausenden von Steinbauten zurück, lief im Kreise umher wie ein tropischer Regen. Krach-krach, ratt-tatt-tatt dröhnte es - manchmal starb der Lärm bis auf einzelne Schüsse ab, manchmal steigerte er sich zu einem ohrenbetäubenden Gewehrfeuer. Aber er endete nie, solange das Tageslicht anhielt, und begann wieder pünktlich mit der folgenden Morgendämmerung.
Was sich, zum Teufel, eigentlich ereignete, wer gegen wen kämpfte und wer gewann, konnte man zunächst nur schwer feststellen. Die Einwohner von Barcelona sind an Straßenkämpfe gewöhnt und kennen die örtlichen Gegebenheiten so gut, dass sie durch einen bestimmten Instinkt wissen, welche politische Partei diese oder jene Straße oder Bauten halten wird. Ein Ausländer ist hoffnungslos im Nachteil. Als ich vom Observatorium hinunterschaute, konnte ich begreifen, dass die Rambla, eine der Hauptstraßen der Stadt, gewissermaßen die Trennungslinie bildete. Die Stadtviertel der Arbeiterklasse rechts von der Rambla waren vollständig in Händen der Anarchisten. Links der Rambla spielte sich in den unübersichtlichen Nebenstraßen ein verwirrender Kampf ab, aber auf dieser Seite übten die P.S.U.C. und die Zivilgarde mehr oder weniger die Kontrolle aus. Oben, an unserem Ende der Rambla, rund um die Plaza de Cataluna war die Lage so kompliziert, dass niemand sich auskennen konnte, wenn nicht jedes Gebäude eine Parteifahne gehisst hätte. Das Hauptwahrzeichen war das Hotel >Colon<, das Hauptquartier des P.S.U.C., das die Plaza de Cataluna beherrschte. In einem Fenster in der Nähe des vorletzten O in der großen Aufschrift >Hotel Colon<, die sich über die ganze Front erstreckte, hatte man ein Maschinengewehr aufgebaut, das den ganzen Platz mit tödlicher Wirkung bestreichen konnte. Hundert Meter rechts von uns die Rambla hinunter hielt die J.S.U., der Jugendverband der P.S.U.C. (die Parallele zur Jungen Kommunistischen Liga in England), ein großes Kaufhaus besetzt, dessen von Sandsäcken geschützte Seitenfenster unserem Observatorium gegenüberlagen. Sie hatten ihre große Fahne eingeholt und die katalonische Nationalflagge aufgezogen. Auf dem Telefonamt, dem Ausgangspunkt der Unruhen, wehten die katalonische Nationalflagge und die anarchistische Flagge Seite an Seite. Man hatte dort einen zeitweiligen Kompromiss geschlossen: das Amt arbeitete ohne Unterbrechung, und aus dem Gebäude wurde nicht geschossen.
In unserer Stellung war es seltsam friedlich. Die Zivilgardisten im Cafe >Moka< hatten die Stahljalousien herabgelassen und die Möbel des Cafes aufgehäuft, um eine Barrikade zu errichten. Später kam ein halbes Dutzend von ihnen auf das Dach uns gegenüber und baute eine weitere Barrikade aus Matratzen, über die sie eine katalonische Nationalflagge hängten. Aber es war eindeutig, dass sie keinen Kampf beginnen wollten, Kopp hatte mit ihnen ein genau festgelegtes Abkommen geschlossen: Wenn sie nicht auf uns schossen, würden wir auch nicht auf sie schießen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich ziemlich weit mit den Zivilgardisten angefreundet und sie mehrere Male im Cafe >Moka< besucht. Natürlich hatten sie alles, was es an Trinkbarem im Cafe gab, geplündert, und so gaben sie Kopp fünfzehn Flaschen Bier zum Geschenk. Dafür hatte ihnen Kopp tatsächlich eines unserer Gewehre gegeben, um eins zu ersetzen, das sie am vorhergehenden Tage verloren hatten. Trotzdem war es ein seltsames Gefühl, auf diesem Dach zu sitzen. Manchmal langweilte mich die ganze Geschichte, und ich achtete gar nicht auf den höllischen Lärm. Ich verbrachte Stunden damit, eine Reihe Bücher der Penguinbooks zu lesen, die ich glücklicherweise ein paar Tage vorher gekauft hatte. Manchmal spürte ich dabei sehr bewusst die bewaffneten Männer, die mich aus fünfzig Meter Entfernung beobachteten. Es war beinahe ein wenig, als sei man wieder im Schützengraben. Manchmal erwischte ich mich dabei, wie ich aus Gewohnheit von den Zivilgardisten als »den Faschisten« sprach. Normalerweise waren wir zu sechst oben im Beobachtungsstand. Wir stellten je einen Mann als Wache in jeden der Observatoriumstürme, und der Rest saß auf dem Bleidach darunter, wo es außer einer Steinwand keinen Schutz gab. Ich war mir im klaren darüber, dass die Zivilgardisten jeden Augenblick den telefonischen Befehl erhalten könnten, das Feuer zu eröffnen. Sie hatten zugestimmt, uns zu warnen, ehe sie das täten, aber es gab keine Sicherheit, dass sie ihr Abkommen einhalten würden. Aber nur einmal sah es so aus, als gebe es Ärger. Einer der Zivilgardisten uns gegenüber kniete nieder und begann über die Barrikade zu schießen. Ich stand in diesem Augenblick im Observatorium auf Wache. Ich richtete mein Gewehr auf ihn und schrie hinüber:
»He! Schieß nur ja nicht auf uns!«
»Was?«
»Schieß nur ja nicht auf uns, oder wir schießen zurück!«
»Nein, nein! Ich habe nicht auf euch geschossen. Schau -dort unten!«
Er zeigte mit seinem Gewehr auf eine Seitenstraße, die unten an unserem Gebäude vorbeiführte. Tatsächlich drückte sich dort ein Junge im blauen Overall, mit einem Gewehr in der Hand, um die Ecke. Offenbar hatte er gerade auf die Zivilgardisten auf dem Dach geschossen.
»Ich schoss auf ihn. Er schoss zuerst.« (Ich glaube, das stimmte.)
»Wir wollen euch nicht erschießen! Wir sind Arbeiter genau wie ihr.«
Er winkte den antifaschistischen Gruß herüber, den ich erwiderte. Ich rief hinüber:
»Habt ihr noch Bier übrig?«
»Nein. Alles ist weg.«
Am gleichen Tag hob plötzlich ohne ersichtlichen Grund ein Mann im J.C.U.-Gebäude weiter unten an der Straße sein Gewehr und schoss auf mich, als ich mich aus dem Fenster hinauslehnte. Vielleicht war ich ein verlockendes Ziel. Ich schoss nicht zurück. Obwohl er nur hundert Meter weit entfernt war, ging die Kugel so weit daneben, dass sie nicht einmal das Dach des Observatoriums traf. Wie üblich hatte mich die spanische Schießkunst gerettet. Ich wurde mehrere Male von diesem Gebäude aus beschossen.
Der teuflische Unsinn dieser Schießerei ging weiter. Aber soviel ich sehen konnte und nach allem, was ich hörte, kämpfte man auf beiden Seiten defensiv. Die Männer blieben einfach in ihren Gebäuden oder hinter ihren Barrikaden und feuerten nur auf die ihnen gegenüberliegenden Leute. Ungefähr achthundert Meter von uns gab es eine Straße, wo sich die Hauptbüros der C.N.T. und der U.G.T. fast direkt gegenüberlagen. Das Ausmaß des Lärms aus dieser Richtung war phantastisch. Ich ging einen Tag nach den Kämpfen diese Straße hinab, und die Scheiben der Schaufenster waren wie Siebe durchlöchert. (Die meisten der Geschäftsinhaber in Barcelona hatten Papierstreifen kreuzweise über ihre Scheiben geklebt, damit sie nicht in tausend Stücke zersplitterten, wenn sie von einer Kugel getroffen wurden.) Manchmal wurde das Geratter des Gewehr- und Maschinengewehrfeuers noch vom Krachen der Handgranaten unterstrichen. In langen Zeitabschnitten, vielleicht insgesamt zwölfmal, gab es riesige Explosionen, die ich mir zunächst nicht erklären konnte. Sie hörten sich wie Fliegerbomben an, aber das war unmöglich, weil keine Flugzeuge da waren. Man erzählte mir später - es ist gut möglich, dass es die Wahrheit ist —, agents provocateurs hätten große Mengen Sprengstoff in die Luft gejagt, um den allgemeinen Lärm und die Panik noch zu vergrößern. Es gab jedenfalls kein Artilleriefeuer. Ich horchte darauf, denn mit Kanonenfeuer wäre die ganze Geschichte ernst geworden (Artillerie ist der entscheidende Faktor im Straßenkampf). Hinterher standen in den Zeitungen wilde Geschichten über den Straßenkampf ganzer Kanonenbatterien, aber niemand konnte ein Gebäude zeigen, das von einer Granate getroffen worden war. Jedenfalls lässt sich der Lärm von Kanonenfeuer, wenn man daran gewöhnt ist, nicht überhören.
Fast von Anfang an waren Lebensmittel sehr knapp. Unter Schwierigkeiten und im Schutz der Dunkelheit (denn die Zivilgardisten in der Rambla schossen ständig) wurde Essen vom Hotel >Falcon< für die siebzehn oder zwanzig Milizsoldaten im Amtsgebäude der P.O.U.M. herbeigebracht. Aber das reichte für alle kaum aus, und so viele von uns wie möglich gingen zum Hotel >Continental<, um dort zu essen. Das >Continental< war durch die Generalidad und nicht, wie die meisten anderen Hotels, durch die C.N.T. oder U.G.T. >kollektiviert< worden, und man behandelte es als neutrales Territorium. Kaum hatten die Kämpfe begonnen, füllte sich das Hotel bis zum Rande mit einer der außerordentlichsten Menschenansammlungen. Darunter fanden sich ausländische Journalisten, politisch Verdächtige aller Schattierungen, ein amerikanischer Flugpilot im Dienste der Regierung, verschiedene kommunistische Agenten, einschließlich eines fetten, düster aussehenden Russen, der ein Agent der Ogpu sein sollte, dessen Spitzname Charlie Chan lautete und der an seinem Gürtel einen Revolver und eine nette, kleine Handgranate trug, dann einige wohlhabende spanische Familien, die wie Mitläufer der Faschisten aussahen, zwei oder drei Verwundete der Internationalen Brigade, ein Trupp Lastwagenfahrer riesiger französischer Lastwagen, die eine Ladung Orangen nach Frankreich zurückbrachten und vom Kampf aufgehalten worden waren, und mehrere Offiziere der Volksarmee. Die Volksarmee blieb als Einheit während der ganzen Kämpfe neutral, obwohl einige Soldaten aus den Kasernen flohen und auf eigene Faust an den Kämpfen teilnahmen. Am Dienstag morgen hatte ich einige von ihnen auf den P.O.U.M.-Barrikaden gesehen. Ehe die Lebensmittelknappheit spürbar wurde und die Zeitungen den Hass schürten, hielt man anfangs allgemein die ganze Geschichte für einen Scherz. Die Leute sagten, so etwas passiere jedes Jahr in Barcelona. George Tioli, ein italienischer Journalist und großer Freund von uns, kam mit blutgetränkten Hosen zu uns herein. Er war hinausgegangen, um zu sehen, was sich ereignete. Dabei hatte er einen verwundeten Mann auf dem Bürgersteig verbunden, als jemand wie im Spiel eine Handgranate nach ihm warf, die ihn aber zum Glück nicht ernstlich verwundete. Es fällt mir ein, dass er einmal vorschlug, man solle die Pflastersteine in Barcelona nummerieren, denn damit erspare man sich beim Auf- und Abbau der Barrikaden große Mühen. Ich erinnere mich auch an ein paar Leute der Internationalen Brigade, die in meinem Hotelzimmer saßen, als ich müde, hungrig und schmutzig nach einer Nachtwache zurückkam. Sie verhielten sich vollständig neutral. Wären sie gute Parteimitglieder gewesen, meine ich, so hätten sie mich auffordern sollen, die Seite zu wechseln. Zumindest aber hätten sie mich fesseln und mir die Handgranaten, von denen meine Taschen überquollen, abnehmen müssen. Statt dessen bedauerten sie mich nur, dass ich meinen Urlaub damit verbringen müsse, auf einem Dach Wache zu schieben. Die allgemeine Einstellung lautete: »Es ist nur eine Auseinandersetzung zwischen den Anarchisten und der Polizei - sie hat überhaupt keine Bedeutung.«
Ich glaube, diese Beurteilung kam der Wahrheit trotz des Ausmaßes der Kämpfe und der vielen Toten näher als die offizielle Version, nach der es sich um einen im voraus geplanten Aufstand handelte.
Ungefähr Mittwoch (den 5. Mai) schien sich die Lage zu ändern. Wegen der verschlossenen Läden sahen die Straßen gespenstisch aus. Nur wenige Fußgänger, die aus irgendeinem Grund gezwungen waren auszugehen, schlichen hin und her und schwenkten weiße Taschentücher. An einer Stelle in der Mitte der Rambla, die vor Kugeln sicher war, riefen einige Verkäufer Zeitungen für die leere Straße aus. Am Dienstag hatte die anarchistische Zeitung Solidaridad Obrera den Angriff auf das Telefonamt als eine »ungeheure Provokation« (oder mit einem ähnlichen Wort) beschrieben.
Am Mittwoch aber änderte sie ihren Ton und beschwor alle, zur Arbeit zurückzukehren. Über den Rundfunk verbreiteten die anarchistischen Führer die gleiche Botschaft. Das Büro der P.O.U.M.-Zeitung La Batalla, das nicht verteidigt worden war, wurde von den Zivilgardisten zur gleichen Zeit wie das Telefonamt überfallen und besetzt. Die Zeitung wurde aber an einer anderen Stelle gedruckt und in wenigen Exemplaren verteilt. Ich drängte jeden, bei den Barrikaden zu bleiben. Die Leute waren geteilter Meinung und überlegten sich mit Unbehagen, wie zum Teufel die ganze Geschichte enden solle. Ich bezweifele, dass jemand die Barrikaden schon verlassen hatte. Aber alle waren des sinnlosen Kampfes überdrüssig, der wahrscheinlich zu keiner wirklichen Entscheidung führen konnte, weil niemand wünschte, dass er sich zu einem richtigen Bürgerkrieg entwickele. Das hätte die Niederlage im Krieg gegen Franco bedeutet. Ich hörte, wie diese Befürchtung auf allen Seiten ausgesprochen wurde. Soviel man aus dem Gerede der Leute entnehmen konnte, wollten alle Mitglieder der C.N.T. von Anfang an zwei Dinge erreichen: die Rückgabe des Telefonamtes und die Entwaffnung der verhassten Zivilgarde. Hätte die Generalidad diese beiden Forderungen und die Bekämpfung des Lebensmittel-Schwarzmarktes versprochen, wären ohne Zweifel die Barrikaden innerhalb von zwei Stunden abgerissen worden. Aber es war augenfällig, dass die Generalidad nicht nachgeben wollte. Hässliche Gerüchte wurden kolportiert. Man sagte, die Regierung von Valencia schicke sechstausend Mann, um Barcelona zu besetzen, und fünftausend Anarchisten und P.O.U.M.-Truppen hätten die aragonische Front verlassen, um sich ihnen entgegenzustellen. Nur der erste Teil dieser Gerüchte stimmte. Von unserem Wachtposten auf dem Observatoriumsturm sahen wir auch die langen grauen Schatten der Kriegsschiffe, die sich dem Hafen näherten. Douglas Moyle, der Marinesoldat gewesen war, sagte, sie sähen wie britische Zerstörer aus. Es waren tatsächlich britische Zerstörer, obwohl wir das erst hinterher erfuhren.
An jenem Abend hörten wir, dass vierhundert Zivilgardisten sich auf der Plaza de Espana ergeben und ihre Waffen den Anarchisten ausgeliefert hätten. Außerdem hörten wir ungenaue Berichte, wonach die Vorstädte (hauptsächlich die Viertel der Arbeiterklasse) unter der Kontrolle der C.N.T. standen. Es sah so aus, als würden wir gewinnen. Aber am gleichen Abend ließ Kopp mich zu sich kommen und sagte mir mit ernstem Gesicht, dass die Regierung nach Informationen, die er gerade bekommen habe, die P.O.U.M. für ungesetzlich erklären und den Kriegszustand gegen sie verhängen wolle. Diese Nachricht versetzte mir einen Schlag. Das war das erste Anzeichen für die Auslegung, die man später wahrscheinlich der ganzen Geschichte geben würde. Ich konnte in groben Umrissen voraussehen, dass man nach Beendigung der Kämpfe die ganze Schuld der P.O.U.M. zuschieben würde, da sie die schwächste Partei und deshalb der geeignetste Sündenbock war. Inzwischen war auch unser lokaler Neutralitätszustand zu Ende. Wenn uns die Regierung den Krieg erklärte, hatten wir keine andere Wahl, als uns zu verteidigen. Dann konnten wir hier im Amtsgebäude sicher sein, dass die Zivilgardisten nebenan den Befehl erhielten, uns anzugreifen. Kopp wartete am Telefon auf Befehle. Falls wir mit Sicherheit erfuhren, dass die P.O.U.M. geächtet worden war, mussten wir Vorbereitungen treffen, um das Cafe >Moka< sofort zu besetzen.
Ich erinnere mich an den langen Abend, der wie ein Alpdruck war und den wir damit verbrachten, das Gebäude zu befestigen. Wir ließen die Stahljalousie vor dem Haupteingang herunter und bauten dahinter eine Barrikade aus Steinplatten, die von Arbeitern zurückgelassen worden waren, die Umbauten ausgeführt hatten. Wir machten eine Bestandsaufnahme unserer Waffen. Einschließlich der sechs Gewehre auf dem Dach des >Poliorama< gegenüber besaßen
wir einundzwanzig Gewehre. Eins davon war nicht in Ordnung. Außerdem hatten wir fünfzig Rahmen Munition für jedes Gewehr und ein paar Dutzend Handgranaten. Sonst hatten wir außer einigen Pistolen und Revolvern nichts. Ungefähr ein Dutzend Männer, die meisten von ihnen Deutsche, hatten sich freiwillig für einen Angriff auf das Cafe >Moka< gemeldet, wenn es soweit wäre. Wir sollten natürlich irgendwann frühmorgens vom Dach aus angreifen und sie überraschen. Sie waren in der Übermacht, aber unsere Moral war besser, und ohne Zweifel konnten wir das Haus stürmen, obwohl Menschen dabei wahrscheinlich getötet werden würden. Wir hatten außer ein paar Tafeln Schokolade keine Lebensmittel in unserem Gebäude. Ein Gerücht machte die Runde, dass »sie« die Wasserversorgung abdrehen würden. (Niemand wusste, wer »sie« waren. Damit konnte die Regierung gemeint sein, die die Wasserwerke kontrollierte, oder die C.N.T. - niemand wusste es.) Wir verbrachten lange Zeit damit, jedes Becken in den Waschräumen, jeden Eimer, der uns in die Hände fiel und schließlich die fünfzehn Bierflaschen, die die Zivilgardisten Kopp gegeben hatten und die jetzt leer waren, mit Wasser zu füllen. Nach rund sechzig Stunden ohne viel Schlaf war ich in einer scheußlichen Gemütsverfassung und hundemüde. Es war jetzt spät in der Nacht. Hinter der Barrikade im Erdgeschoß schliefen überall auf dem Boden Leute. Oben gab es ein kleines Zimmer mit einem Sofa, das wir als Verbandstation benutzen wollten, obwohl ich kaum zu sagen brauche, dass es weder Jod noch Verbandzeug im Gebäude gab, wie wir entdeckt hatten. Meine Frau war vom Hotel heruntergekommen, falls wir eine Krankenschwester benötigten. Ich legte mich mit dem Gefühl auf das Sofa, dass ich vor dem Angriff auf das >Moka<, bei dem ich wahrscheinlich getötet werden würde, gerne eine halbe Stunde Ruhe haben möchte. Ich erinnere mich an das unerträgliche Unbehagen, das mir meine Pistole bereitete, die ich an mein Koppel gebunden hatte und die sich in meine Hüfte drückte. Als nächstes erinnere ich mich, wie ich mit einem Ruck aufwachte und meine Frau neben mir stehend fand. Es war helles Tageslicht, nichts war geschehen, die Regierung hatte der P.O.U.M. nicht den Krieg erklärt, das Wasser war nicht abgedreht worden, und außer der gelegentlichen Schießerei in den Straßen war alles normal. Meine Frau sagte, sie habe es nicht über sich gebracht, mich aufzuwecken, und habe in einem der vorderen Zimmer in einem Lehnsessel geschlafen.
Am gleichen Nachmittag gab es eine Art Waffenstillstand. Die Schießerei hörte langsam auf, und überraschend plötzlich füllten sich die Straßen mit Menschen. Einige Läden begannen die Jalousien aufzuziehen, und der Markt war mit einer riesigen Menge voll gestopft, die Lebensmittel verlangte, obwohl die Stände fast leer waren. Man konnte jedoch beobachten, dass die Straßenbahnen noch nicht wieder fuhren. Die Zivilgardisten saßen im >Moka< immer noch hinter Barrikaden. Auf keiner Seite verließ man die befestigten Gebäude. Jeder rannte los und versuchte, Lebensmittel zu kaufen. Und auf jeder Seite hörte man die gleiche, ängstliche Frage: »Denkst du, es hat aufgehört? Glaubst du, es fängt wieder an?« »Es« - das Gefecht in den Straßen - wurde jetzt wie eine Naturgewalt betrachtet, wie ein Hurrikan oder ein Erdbeben, von dem alle gleichzeitig betroffen wurden und das aufzuhalten niemand von uns die Kräfte besaß. Und richtig, fast sofort danach jagte der plötzliche Krach von Gewehrfeuer wie ein Wolkenbruch im Juni alle in die Flucht. Ich nehme zwar an, dass der Waffenstillstand einige Stunden gedauert hat, aber das schienen eher Minuten als Stunden gewesen zu sein. Die Stahljalousien rollten wieder herunter, die Straßen leerten sich wie durch einen Zauberspruch, die Barrikaden waren besetzt und »es« hatte wieder begonnen.
Ich ging mit einem Gefühl aufgestauter Wut und Abscheu zu meinem Posten auf dem Dach zurück. In gewisser Weise, vermute ich, macht man Geschichte, wenn man an solchen Ereignissen teilnimmt, und sollte sich Rechtens wie eine historische Gestalt fühlen. Aber das tut man nie, denn in diesen Augenblicken überwiegen die körperlichen Einzelheiten immer alles andere. Während der ganzen Kämpfe machte ich keine korrekte >Analyse< der Situation, wie sie so leichtfertig von Journalisten Hunderte von Kilometern entfernt gemacht wurde. Ich dachte nicht so sehr über Recht und Unrecht dieses elenden, mörderischen Streites nach, sondern einfach über das Unbehagen und die Langeweile, Tag und Nacht auf diesem unerträglichen Dach zu sitzen, während unser Hunger stärker und stärker wurde, denn niemand von uns hatte seit Montag eine anständige Mahlzeit gehabt. Ich dachte dauernd, dass ich, sobald diese Geschichte vorbei war, zur Front zurückmüsse. Ich hätte aus der Haut fahren können. Ich war hundertfünfzehn Tage an der Front gewesen und heißhungrig auf ein bisschen Ruhe und Komfort nach Barcelona zurückgekommen. Statt dessen musste ich meine Zeit damit verbringen, auf einem Dach den Zivilgardisten gegenüberzusitzen, die genauso gelangweilt waren wie ich und die von Zeit zu Zeit herüberwinkten und mir versicherten, dass sie »Arbeiter« seien. (Womit sie ihre Hoffnung ausdrückten, ich würde nicht auf sie schießen.) Sicherlich aber würden sie das Feuer eröffnen, falls sie den Befehl dazu erhielten. Wenn das Geschichte war, fühlte ich mich nicht danach. Es glich vielmehr der schlechten Zeit an der Front, wenn nicht genügend Soldaten da waren und wir zusätzliche Stunden Wache schieben mussten. Statt heroisch zu sein, musste man auf seinem Posten bleiben, voller Langeweile, vor Schlaf umfallend und vollständig desinteressiert daran, worum es eigentlich ging.
Im Hotel hatte sich unter dem heterogenen Haufen, von welchem die meisten nicht gewagt hatten, ihre Nase aus der Türe zu stecken, eine scheußliche Atmosphäre des Misstrauens gebildet. Verschiedene Leute waren von einer Spionagehysterie angesteckt worden, schlichen umher und wisperten, alle anderen seien Spione der Kommunisten oder der Trotzkisten oder der Anarchisten oder sonst irgendeiner Partei. Der fette russische Agent dagegen knöpfte sich nacheinander jeden ausländischen Flüchtling vor und erklärte ihm überzeugend, die ganze Geschichte sei eine anarchistische Verschwörung. Ich beobachtete ihn mit einigem Interesse, denn ich sah zum ersten Mal einen Menschen, dessen Beruf es war, Lügen zu erzählen - es sei denn, man zählt die Journalisten mit. Die Parodie auf das feine Hotelleben, die immer noch hinter heruntergelassenen Jalousien mitten im Rattern des Gewehrfeuers weiterging, hatte etwas Abstoßendes an sich. Man hatte den Speisesaal an der Straßenseite verlassen, nachdem eine Kugel durch das Fenster geschlagen war und eine Säule angekratzt hatte. Die Gäste drängten sich jetzt in einem dunklen Raum nach rückwärts zusammen, wo es nie genug Tische für alle gab. Die Zahl der Kellner hatte sich verringert. Einige von ihnen waren Mitglieder der C.N.T. und hatten sich dem Generalstreik angeschlossen. Sie hatten sofort ihre Frackhemden abgelegt, aber die Mahlzeiten wurden immer noch unter der Vorspiegelung eines gewissen Zeremoniells serviert. Praktisch gab es jedoch nichts zu essen. An diesem Donnerstag abend bestand der Hauptgang des Diners aus einer Sardine für jeden Gast. Tagelang hatte es im Hotel schon kein Brot mehr gegeben, und selbst der Wein wurde so knapp, dass wir immer älteren Wein zu immer höherem Preis tranken. Noch einige Tage, nachdem die Kämpfe vorbei waren, dauerte der Lebensmittelmangel an. Ich erinnere mich, dass meine Frau und ich drei Tage lang zum Frühstück nur ein kleines Stückchen Ziegenmilchkäse ohne Brot und nichts zu trinken bekamen. Nur Orangen gab es in Hülle und Fülle. Die französischen Lastwagenfahrer brachten große Mengen ihrer Orangen in das Hotel. Sie waren eine raue Bande, bei ihnen waren einige auffällige spanische Mädchen und ein riesiger Lastenträger in einer schwarzen Bluse. Zu jeder anderen Zeit hätte der ziemlich snobistische Hoteldirektor sein Bestes getan, sie zu schneiden, ja er hätte sich geweigert, sie überhaupt in das Hotel zu lassen. Aber jetzt waren sie beliebt, denn sie hatten im Gegensatz zu den übrigen von uns einen privaten Vorrat Brot, und jeder versuchte, ihnen etwas abzubetteln.
Ich verbrachte jene letzte Nacht auf dem Dach, und am nächsten Tag sah es tatsächlich so aus, als kämen die Kämpfe zu einem Ende. Ich glaube nicht, dass an jenem Tag, es war Freitag, viel geschossen wurde. Niemand schien genau zu wissen, ob die Truppen aus Valencia wirklich kämen. Tatsächlich kamen sie am gleichen Abend an. Die Regierung verbreitete teils beruhigende, teils drohende Botschaften über den Rundfunk und forderte jeden auf, nach Hause zu gehen. Sie erklärte, dass diejenigen, die man nach einer gewissen Zeit noch mit Waffen antreffe, verhaftet würden. Man schenkte den Verlautbarungen der Regierung wenig Aufmerksamkeit, aber überall entfernten sich die Leute von den Barrikaden. Ich habe keinen Zweifel, dass hauptsächlich die Lebensmittelknappheit dafür verantwortlich war. Von allen Seiten hörte man die gleiche Bemerkung: »Wir haben kein Essen mehr, wir müssen an die Arbeit zurück.« Andererseits konnten die Zivilgardisten, da sie damit rechnen konnten, ihre Rationen zu erhalten, solange es noch Lebensmittel in der Stadt gab, auf ihrem Posten bleiben. Am Nachmittag waren die Straßen fast schon normal, obwohl die verlassenen Barrikaden noch standen. Die Rambla war gedrängt voll von Menschen, nahezu alle Geschäfte hatten geöffnet, und das beruhigendste von allem war, dass die Straßenbahnen, die so lange wie eingefroren gestanden hatten, anruckten und wieder fuhren. Die Zivilgardisten hielten immer noch das Cafe >Moka< besetzt und hatten ihre Barrikaden noch nicht abgerissen. Aber einige von ihnen brachten Stühle heraus und saßen mit den Gewehren über den Knien auf dem Bürgersteig. Ich winkte einem zu, als ich vorbeiging, aber er schenkte mir nur ein unfreundliches Grinsen; natürlich erkannte er mich. Die anarchistische Flagge war auf dem Telefonamt niedergeholt worden, und nun flatterte dort nur die katalonische Flagge. Das hieß also, man hatte die Arbeiter endgültig überwältigt. Ich erkannte wegen meiner politischen Unwissenheit vielleicht nicht so klar, wie ich sollte, dass die Regierung in dem Augenblick, da sie sich sicherer fühlte, Vergeltungsmaßnahmen ergreifen würde. Aber damals interessierte ich mich für diese Seite der Geschichte noch nicht. Ich empfand nur tiefe Erleichterung darüber, dass das teuflische Getöse der Schießerei vorbei war, dass man einige Lebensmittel kaufen und sich vor der Rückkehr zur Front ein wenig Ruhe und Frieden gönnen konnte.
Es muss spät an jenem Abend gewesen sein, als die Truppen aus Valencia zum ersten Male auf der Straße erschienen. Es waren Sturmgardisten, eine weitere Truppe ähnlich den Zivilgardisten und den Carabineros (also eine Einheit, die hauptsächlich für Polizeidienste vorgesehen war). Außerdem waren sie die Elitetruppe der Republik. Sie schienen ganz plötzlich aus dem Boden zu schießen. Man sah sie überall zu Zehnergruppen durch die Straßen patrouillieren, große Männer in grauen oder blauen Uniformen, mit langen Gewehren über den Schultern und einer Maschinenpistole in jeder Gruppe. Unterdessen mussten wir noch eine heikle Aufgabe erledigen. Die sechs Gewehre, die wir bei der Wache in den Observatoriumstürmen benutzt hatten, lagen immer noch dort, und auf Biegen oder Brechen mussten wir sie in das P.O.U.M.-Gebäude zurücktransportieren. Die Frage war nur, wie man sie über die Straße bringen konnte. Sie gehörten zur regulären Ausrüstung des Gebäudes, aber es wäre gegen die Anordnung der Regierung gewesen, sie auf die Straße zu bringen. Hätte man uns mit den Waffen in der Hand erwischt, wären wir sicherlich verhaftet worden, und, schlimmer noch, man hätte die Gewehre beschlagnahmt. Wir konnten es uns nicht leisten, von nur einundzwanzig Gewehren im Haus sechs zu verlieren. Nach einer langen Diskussion über die beste Methode begannen ein rothaariger spanischer Bursche und ich selbst, sie hinauszuschmuggeln. Es war recht leicht, den Patrouillen der Sturmgardisten zu entgehen. Die Gefahr drohte von den Zivilgardisten im >Moka<, die alle wussten, dass wir Gewehre im Observatorium hatten und uns hätten verraten können, wenn sie gesehen hätten, wie wir sie hinübertrugen. Wir beide entkleideten uns zunächst halbwegs und schnallten uns den Gewehrriemen über die linke Schulter, hielten den Kolben unter der Armhöhle und den Lauf in das Hosenbein hinunter. Unglücklicherweise waren es lange Mausergewehre. Selbst ein langer Mann wie ich kann ein langes Mausergewehr im Hosenbein nicht ganz ohne Unbequemlichkeit tragen. Es war eine unausstehliche Arbeit, mit einem vollständig steifen linken Bein die Wendeltreppe des Observatoriums hinunterzusteigen. Als wir erst in der Straße waren, erkannten wir, dass die einzige Möglichkeit, sich fortzubewegen, darin bestand, äußerst langsam zu gehen, so langsam, dass man das Knie nicht zu bewegen brauchte. Vor dem Kino sah ich eine Menschengruppe, die mir mit großem Interesse nachstarrte, als ich mit der Geschwindigkeit einer Schildkröte an ihnen vorbeikroch. Ich habe mich oft gefragt, was sie wohl gedacht haben, dass mit mir los sei. Vielleicht, dass ich im Krieg verwundet worden wäre. Aber auf jeden Fall schmuggelten wir die Gewehre ohne einen Zwischenfall hinüber.
Am nächsten Tag waren die Sturmgardisten überall. Sie schlenderten wie Eroberer die Straßen entlang. Ohne Zweifel demonstrierte die Regierung einfach ihre Macht, um die Bevölkerung einzuschüchtern, von der man schon wusste, dass sie keinen Widerstand mehr leisten würde. Hätte man wirklich weitere Feindseligkeiten erwartet, wären die Sturmgardisten sicherlich in den Kasernen zurückgehalten und nicht in kleinen Gruppen in der Stadt zerstreut worden. Es waren ausgezeichnete Truppen, bei weitem die besten, die ich in Spanien gesehen habe. Obwohl sie vermutlich in einem gewissen Sinne der >Feind< waren, konnte ich mir nicht helfen, sie ein wenig zu bewundern. Aber ich betrachtete sie bei ihren Spaziergängen mit einer gewissen Verblüffung. Ich war an die zerlumpte, kaum bewaffnete Miliz der aragonischen Front gewöhnt und wusste nicht, dass die Republik über solche Truppen verfügte. Sie waren nicht nur besonders kräftige, ausgesuchte Leute, am meisten staunte ich über ihre Waffen. Alle waren mit nagelneuen Gewehren bewaffnet, mit einem Typ, den man »das russische Gewehr« nannte (diese Gewehre wurden von der UdSSR nach Spanien geschickt; ich glaube aber, sie wurden in Amerika hergestellt). Ich untersuchte eins, sicherlich war es kein perfektes Gewehr, aber sehr viel besser als die fürchterlichen, alten Donnerbüchsen, die wir an der Front hatten. Die Sturmgardisten waren mit je einer Maschinenpistole und einer Selbstladepistole auf je zehn Mann ausgerüstet. An der Front hatten wir höchstens ein Maschinengewehr für fünfzig Mann, Pistolen und Revolver konnten wir uns nur auf illegale Weise beschaffen. Tatsächlich war das in allen Einheiten das gleiche, obwohl ich es bis jetzt nicht bemerkt hatte. Die Zivilgardisten und die Carabineros, die überhaupt nicht an die Front sollten, waren besser bewaffnet und viel besser eingekleidet als wir selbst. Ich argwöhne, das ist in allen Kriegen so - immer der gleiche Kontrast zwischen der feinen Polizei in der Etappe und den zerlumpten Soldaten an der Front. Aufs Ganze gesehen, kamen die Sturmgardisten nach den ersten ein oder zwei Tagen sehr gut mit der Bevölkerung aus. Am ersten Tag gab es einen gewissen Ärger, weil einige der Sturmgardisten sich, vermutlich auf Befehl, sehr herausfordernd benahmen. Sie stiegen truppweise in die Straßenbahnen, durchsuchten die Passagiere, und wenn sie eine Mitgliedskarte der C.N.T. in ihren Taschen hatten, wurde sie zerrissen und darauf herumgetreten. Das führte zu Handgreiflichkeiten mit bewaffneten Anarchisten, und ein oder zwei Leute wurden getötet. Sehr bald aber gaben die Sturmgardisten ihre Erobererhaltung auf, und die Beziehungen wurden freundlicher. Es war beachtlich, dass die meisten von ihnen schon nach ein oder zwei Tagen ein Mädchen hatten.
Die Kämpfe in Barcelona gaben der Regierung in Valencia den lang gesuchten Vorwand, sich eine stärkere Kontrolle über Katalonien anzumaßen. Die Miliz der Arbeiter sollte zerbrochen und unter die Einheiten der Volksarmee aufgeteilt werden. Überall in Barcelona flatterte die republikanische Fahne. Hier sah ich sie vermutlich zum ersten Mal nicht über einem faschistischen Schützengraben. In den Stadtvierteln der Arbeiterklasse wurden die Barrikaden niedergerissen, allerdings nur Stück für Stück, denn es ist einfacher, eine Barrikade zu bauen, als die Steine wieder zurückzubringen. Man ließ zu, dass die Barrikaden vor den P.S.U.C.-Gebäuden stehen blieben, und tatsächlich standen einige sogar noch im Juni. Die Zivilgarde hielt die strategischen Punkte noch besetzt. In den Widerstandsnestern der C.N.T. wurden umfangreiche Waffenmengen erbeutet, obwohl ich keinen Zweifel daran habe, dass viele Waffen fortgeschmuggelt wurden. La Batalla erschien noch, aber sie wurde zensiert, bis die Titelseite fast leer war. Die P.S.U.C.-Zeitun-gen wurden nicht zensiert und veröffentlichten aufreizende Artikel, worin die Unterdrückung der P.O.U.M. gefordert wurde. Man erklärte, die P.O.U.M. sei eine getarnte faschistische Organisation, und Agenten der P.S.U.C. verteilten in der ganzen Stadt eine Karikatur, auf der die P.O.U.M. als ein Mann dargestellt wurde, der seine mit Hammer und Sichel gezeichnete Maske abnimmt und darunter ein hässliches, wahnsinniges, mit einem Hakenkreuz entstelltes Gesicht enthüllt. Offensichtlich hatte man sich auf die offizielle Version der Kämpfe in Barcelona schon geeinigt: sie sollten als der Aufstand der faschistischen >Fünften Kolonne< dargestellt werden, der nur von der P.O.U.M. bewerkstelligt worden war.
Nachdem die Kämpfe vorbei waren, hatte sich im Hotel die abscheuliche Atmosphäre des Misstrauens und der Feindseligkeit noch verschlimmert. Es war unmöglich, angesichts der Anschuldigungen, die man sich gegenseitig vorwarf, neutral zu bleiben. Die Post arbeitete wieder, und die ersten ausländischen kommunistischen Zeitungen kamen an. Ihre Berichte über die Kämpfe nahmen nicht nur ungestüm Partei, sondern waren in der Wiedergabe der Tatsachen selbstverständlich äußerst ungenau. Ich glaube, dass einige Kommunisten, die hier gesehen hatten, was sich tatsächlich ereignete, durch die Auslegung der Ereignisse erschreckt wurden, aber sie mussten natürlich zu ihrer eigenen Sache stehen. Unser kommunistischer Freund näherte sich noch einmal und fragte mich, ob ich nicht zur Internationalen Brigade überwechseln wolle.
Ich war ziemlich überrascht. »Ihre Zeitungen erklären, ich sei ein Faschist«, sagte ich. »Sicherlich sollte ich politisch verdächtig sein, wenn ich von der P.O.U.M. komme.«
»Oh, das macht nichts. Schließlich haben Sie ja nur auf Befehl gehandelt.«
Ich musste ihm sagen, dass ich mich nach diesem Vorfall nicht mehr einer kommunistisch kontrollierten Einheit anschließen könne. Denn früher oder später könne es bedeuten, dass ich gegen die spanische Arbeiterklasse eingesetzt würde. Es ließe sich nicht sagen, wann eine ähnliche Geschichte wieder ausbrechen würde. Wenn ich aber mein Gewehr in einer derartigen Auseinandersetzung überhaupt benutzen müsse, wollte ich es auf der Seite der Arbeiterklasse und nicht gegen sie tun. Er war sehr anständig in der Angelegenheit. Aber von jetzt an hatte sich die ganze Atmosphäre geändert. Man konnte nicht wie früher »übereinstimmen, dass man anderer Meinung war« und ein Glas Wein mit einem Mann trinken, der angeblich ein politischer Gegner war. In der Hotelhalle gab es einige hässliche Streitereien. Die Gefängnisse waren inzwischen schon voll und quollen über. Nachdem die Kämpfe vorbei waren, hatten die Anarchisten natürlich ihre Gefangenen entlassen. Die Zivilgardisten jedoch hatten ihre Gefangenen nicht entlassen, die meisten wurden ins Gefängnis geworfen und dort ohne Verhandlung festgehalten, in manchen Fällen sogar monatelang. Wie gewöhnlich wurden auf Grund der Ungeschicklichkeit der Polizei völlig unschuldige Menschen verhaftet. Ich habe vorher erwähnt, dass Douglas Thompson etwa Anfang April verwundet wurde. Später hatten wir die Verbindung mit ihm verloren, wie es normalerweise geht, wenn ein Mann verwundet wird, denn die Verwundeten werden häufig von einem Krankenhaus zum anderen gebracht. Tatsächlich war er, gerade als die Kämpfe begannen, in einem Hospital in Tarragona und wurde nach Barcelona zurückgeschickt. Als ich ihn am Dienstag morgen auf der Straße traf, war er von der Schießerei, die ringsum im Gange war, beträchtlich verwirrt. Er fragte mich, was jeder wissen wollte:
»Zum Teufel, worum geht es hier eigentlich?«
Ich erklärte es ihm, so gut ich konnte. Thompson erwiderte prompt:
»Ich werde mich da 'raushalten. Mein Arm ist immer noch nicht in Ordnung. Ich werde zu meinem Hotel zurückgehen und dort bleiben.«
Er ging in sein Hotel zurück, aber unglücklicherweise lag es in einem Stadtteil, der von den Zivilgardisten kontrolliert wurde (wie wichtig ist es bei Straßenkämpfen, die örtlichen Verhältnisse zu kennen!). Man machte dort eine Razzia, Thompson wurde verhaftet, ins Gefängnis geworfen und acht Tage lang in einer Zelle festgehalten, die so mit Menschen voll gestopft war, dass niemand Platz hatte, sich hinzulegen. Es gab viele ähnliche Fälle. Zahlreiche Ausländer, die eine undurchsichtige politische Vergangenheit hatten, waren auf der Flucht. Die Polizei war hinter ihnen her, und sie lebten in ständiger Furcht vor einer Denunziation. Am schlimmsten war es für die Italiener und Deutschen, die keine Pässe hatten und die meistens von der Geheimpolizei ihrer eigenen Länder gesucht wurden. Falls sie verhaftet wurden, konnte es ihnen passieren, dass man sie nach Frankreich abschob. Das hieß aber, man würde sie nach Italien oder Deutschland zurückschicken, wo Gott weiß welche Gräuel auf sie warteten. Ein oder zwei ausländische Frauen sicherten ihre Lage schleunigst ab, indem sie einen Spanier >heirateten<. Ein deutsches Mädchen, das überhaupt keine Papiere hatte, entkam der Polizei, indem es einige Tage lang die Mätresse eines Mannes spielte. Ich erinnere mich noch an den Ausdruck der Scham und der Verzweiflung auf dem Gesicht des armen Mädchens, als ich ihm zufällig über den Weg lief, während es aus dem Schlafzimmer des Mannes kam. Natürlich war sie nicht seine Mätresse, aber zweifellos dachte sie, ich glaubte es. Man hatte dauernd das hässliche Gefühl, dass ein bisheriger Freund einen jetzt bei der Geheimpolizei verraten könne. Der lange Alptraum der Kämpfe, der Lärm, der Mangel an Nahrung und Schlaf, die Mischung aus Anstrengung und Langeweile beim Wacheschieben auf dem Dach und die Ungewissheit, ob ich in der nächsten Minute selbst erschossen würde oder gezwungen sein würde, jemand anders zu erschießen, hatten meine Nerven auf das äußerste angespannt. Ich hatte den Punkt erreicht, wo ich jedes Mal nach meiner Pistole griff, wenn eine Tür knallte. Am Samstagmorgen ging draußen eine Knallerei los, und jedermann schrie: »Es geht wieder los!« Ich rannte auf die Straße und sah, dass einige Sturmgardisten nur einen verrückten Hund erschossen hatten. Niemand, der damals oder ein paar Monate später in Barcelona war, wird die abscheuliche Atmosphäre vergessen, die das Ergebnis der Furcht, des Misstrauens und des Hasses war, der zensierten Zeitungen, der überfüllten Gefängnisse, der riesigen Schlangen der nach Lebensmitteln anstehenden Leute und der herumstreifenden bewaffneten Burschen.
Ich habe versucht, einen Eindruck davon zu geben, wie man sich in der Mitte der Kämpfe in Barcelona fühlte. Aber ich glaube nicht, dass es mir gelungen ist, etwas von der Eigenartigkeit jener Zeit zu vermitteln. Wenn ich zurückschaue, erinnere ich mich beispielsweise an die zufälligen Begegnungen, die man damals hatte, die plötzlichen Blicke der Nichtkämpfer, für die die ganze Geschichte einfach ein sinnloser Aufstand war. Ich erinnere mich an die elegant gekleidete Frau, die ich mit einem Einkaufskorb am Arm und einem weißen Pudel an der Leine die Rambla hinunterspazieren sah, während ein oder zwei Straßen weiter die Gewehre krachten und knallten. Es ist denkbar, dass sie taub war. Oder der Mann, den ich über die vollständig leere Plaza de Cataluna laufen sah, wobei er in jeder Hand ein weißes Taschentuch schwenkte. Oder die große Gesellschaft schwarzgekleideter Leute, die eine Stunde lang versuchten, die Plaza de Cataluna zu überqueren, und denen es nicht gelang. Jedes Mal, wenn sie aus der Seitenstraße an der Ecke auftauchten, eröffneten die Maschinengewehrschützen der P.S.U.C. im Hotel >Colon< das Feuer und trieben sie zurück. Ich weiß nicht warum, denn sie waren offensichtlich nicht bewaffnet. Ich habe mir später gedacht, dass es vielleicht eine Beerdigung war. Oder der kleine Kerl, der Hausmeister des Museums über dem >Poliorama<, der die ganze Geschichte wie ein geselliges Ereignis zu betrachten schien. Er freute sich so, dass die Engländer ihn besuchten, er sagte, die Engländer seien so simpdtico. Er hoffte, dass wir, wenn die Unruhen vorbei wären, alle wiederkämen und ihn besuchten. Und tatsächlich ging ich wieder hin und besuchte ihn. Oder der andere kleine Mann, der im Torweg Schutz suchte, seinen Kopf vergnügt in Richtung des höllischen Gewehrfeuers auf der Plaza de Cataluna schwenkte und sagte (als ob er sich über den schönen Morgen unterhalte): »So haben wir also den neunzehnten Juni wieder zurück!« Oder die Leute in dem Schuhgeschäft, die meine Marschstiefel herstellten. Ich ging vor den Kämpfen dorthin, dann nachdem sie vorbei waren und am 5. Mai für ein paar Minuten während des kurzen Waffenstillstandes. Es war ein teures Geschäft, und die Angestellten gehörten der U.G.T. an und waren vermutlich Mitglieder der P.S.U.C. Jedenfalls waren sie politisch auf der anderen Seite, und sie wussten, dass ich in der P.O.U.M. diente. Aber sie verhielten sich vollständig neutral. »Ein wahrer Jammer diese Geschichte, nicht wahr? Und so schlecht für das Geschäft. Was für ein Jammer, dass es nicht aufhört! Als ob es nicht an der Front schon genug von diesen Geschichten gäbe!« und so weiter, und so weiter. Es muss eine Menge Leute in Barcelona gegeben haben, vielleicht war es sogar die Mehrzahl der Einwohner, die die ganze Angelegenheit ohne einen Funken Interesse betrachteten oder mit nicht mehr Interesse als einen Luftangriff.
In diesem Kapitel habe ich nur meine persönlichen Erlebnisse beschrieben. Im nächsten muss ich, so gut ich kann, die eigentlichen Streitfragen beschreiben - was sich wirklich ereignete und mit welchen Ergebnissen, wer recht oder unrecht hatte und wer, wenn überhaupt, verantwortlich war. Es ist so viel politisches Kapital aus den Kämpfen in Barcelona geschlagen worden, dass es wichtig ist, den Versuch zu machen, eine abgewogene Meinung zu gewinnen. Sehr viel ist schon über das Thema geschrieben worden, genug, um viele Bücher zu füllen. Ich nehme an, dass ich nicht übertreibe, wenn ich sage, dass neun Zehntel davon nicht wahr sind. Fast alle Zeitungsberichte, die man damals veröffentlichte, wurden fern vom Geschehen von Journalisten fabriziert. Sie waren nicht nur im Hinblick auf die Tatsachen ungenau, sondern absichtlich falsch. Wie gewöhnlich ließ man nur eine Seite der Frage in eine breitere Öffentlichkeit gelangen. Ich selbst sah, wie jeder, der damals in Barcelona war, nur das, was sich in meiner unmittelbaren Nachbarschaft ereignete. Aber ich sah und hörte genug, um in der Lage zu sein, vielen der in Umlauf gesetzten Lügen zu widersprechen. Wer nicht an politischen Kontroversen und dem Durcheinander der Parteien und Zweigparteien mit ihren verwirrenden Namen (ähnlich wie die Namen der Generäle im chinesischen Krieg) interessiert ist, sollte, wie weiter oben, die nächsten Seiten überschlagen. Es ist eine scheußliche Sache, sich mit Details innerparteilicher Auseinandersetzungen zu befassen, es ist so, als ob man in eine Senkgrube tauche. Aber es ist notwendig, den Versuch zu unternehmen, die Wahrheit soweit wie möglich festzustellen. Dieser schmutzige Streit in einer weit entfernten Stadt ist wichtiger, als es im ersten Augenblick erscheinen mag.

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