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George Orwell - Mein Katalonien (1938)
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Zwölftes Kapitel

Etwa drei Tage nach dem Ende der Kämpfe in Barcelona kehrten wir an die Front zurück. Nach den Kämpfen - besonders nach der Verleumdungskampagne in den Zeitungen — war es schwer, diesen Krieg in der gleichen naiven, idealistischen Weise wie vorher zu betrachten. Ich glaube, es gibt niemand, der nicht in einem gewissen Umfang seine Illusionen verloren hat, wenn er länger als einige Wochen in Spanien gewesen ist. In Gedanken sah ich den Zeitungskorrespondenten, den ich am ersten Tag in Barcelona getroffen hatte und der mir sagte: »Dieser Krieg ist genau wie jeder andere ein Betrug.« Diese Bemerkung hatte mich tief erschüttert, und ich glaubte damals im Dezember nicht, dass sie richtig sei. Sie stimmte nicht einmal jetzt im Mai, aber sie kam der Wahrheit immer näher. In Wirklichkeit unterliegt jeder Krieg mit jedem Monat, den er länger dauert, einer gewissen sich steigernden Entartung. Begriffe wie individuelle Freiheit und wahrhafte Presse können einfach nicht mit dem militärischen Nutzeffekt konkurrieren.
Es war jetzt möglich, sich Gedanken darüber zu machen, was weiter geschehen würde. Man konnte leicht erkennen, dass die Regierung Caballero gestürzt und durch eine stärker rechtsgerichtete Regierung unter größerem kommunistischem Einfluss ersetzt werden würde (was tatsächlich ein oder zwei Wochen später geschah). Diese Regierung würde es sich zur Aufgabe machen, die Macht der Gewerkschaften ein für allemal zu brechen. Auch später, nach dem Sieg über Franco, würden die Aussichten nicht rosig sein, selbst wenn man einmal die gewaltigen Probleme außer acht ließ, die sich aus der Neugestaltung Spaniens ergaben. Die Darstellungen in der Zeitung vom »Krieg für die Demokratie« waren leeres Gewäsch. Kein vernünftiger Mensch nahm an, dass es in einem bei Kriegsende so geteilten und erschöpften Land wie Spanien noch eine Hoffnung für die Demokratie geben könne, selbst nicht so, wie wir sie in England oder Frankreich kennen. Eine Diktatur musste kommen, und es war klar, dass die Chancen einer Diktatur der Arbeiterklasse vorbei waren. Das hieß, dass die allgemeine Entwicklung in die Richtung einer Spielart des Faschismus gehen würde. Dieser Faschismus würde zweifellos eine höflichere Bezeichnung haben und, da es sich um Spanien handelte, menschlicher und weniger wirkungsvoll ausfallen als die deutschen und italienischen Abarten. An weiteren Alternativen gab es nur eine unendlich schlimmere Diktatur unter Franco oder die Beendigung des Krieges durch die schon immer vorhandene Möglichkeit der Aufteilung Spaniens, entweder entlang den tatsächlichen Fronten oder nach wirtschaftlichen Zonen.
Das war eine bedrückende Aussicht, wie immer man es auch sehen mochte. Aber daraus ließen sich nicht folgern, es sei nicht wert, für die Regierung gegen den offenen und weiter entwickelten Faschismus Francos und Hitlers zu kämpfen. Mochte die Nachkriegsregierung große Fehler haben, Francos Regime würde sicherlich schlimmer sein. Für die Arbeiter, das Proletariat in den Städten, mochte es am Ende wenig ausmachen, wer gewann, denn Spanien ist vor allem ein Agrarland, und die Bauern würden mit ziemlicher Gewissheit aus einem Sieg der Regierung Nutzen ziehen. Zumindest ein Teil des eroberten Landes würde in ihrem Besitz bleiben, das aber hieß, dass auch in den Gebieten, die unter Francos Herrschaft gestanden hatten, Land verteilt würde. Es war auch nicht anzunehmen, dass die tatsächlich in einigen Gebieten - Spaniens vorher vorhandene Knechtschaft wiederhergestellt würde. Jedenfalls müsste die bei Kriegsende herrschende Regierung antiklerikal und antifeudal sein. Sie würde, zumindest für eine gewisse Zeit, die Kirche unter Kontrolle halten und das Land modernisieren müssen, zum Beispiel Straßen bauen, die Erziehung und die öffentliche Gesundheit fördern. Schon während des Krieges hatte man bis zu einem gewissen Grade etwas in dieser Richtung unternommen. Franco dagegen war fest an die großen feudalen Landbesitzer gebunden und vertrat eine engstirnige klerikal-militärische Reaktion, soweit er nicht lediglich eine Marionette Italiens oder Deutschlands war. Möglicherweise war die Volksfront ein Betrug, aber Franco war ein Anachronismus. Nur Millionäre oder Romantiker konnten sich seinen Sieg wünschen.
Außerdem ging es um die Frage des internationalen Prestiges des Faschismus. Dieses Problem hatte mich seit ein oder zwei Jahren wie ein Alpdruck verfolgt. Seit 1930 hatten die Faschisten nur Siege errungen, so war es an der Zeit, dass sie einmal geschlagen wurden, und es kam kaum darauf an, von wem. Trieben wir Franco und seine ausländischen Söldner ins Meer, würde das die Weltsituation gewaltig verbessern, selbst wenn Spanien unter einer Diktatur daraus hervorginge und seine besten Leute ins Gefängnis kämen. Allein schon eine Niederlage des Faschismus war es wert, den Krieg zu gewinnen.
So sah ich die Dinge damals. Ich sollte hinzufügen, dass ich heute besser über die Regierung Negrin denke als bei seinem Amtsantritt. Sie hat den schwierigen Kampf mit prächtigem Mut durchgehalten und mehr politische Toleranz bewiesen, als irgend jemand erwartete. Aber ich glaube immer noch, dass eine Nachkriegsregierung eine faschistische Neigung haben wird, es sei denn, Spanien würde mit allen unvorhersehbaren Konsequenzen geteilt. Wieder einmal lasse ich diese Ansicht stehen, wie sie ist, und nehme das Risiko auf mich, dass die Zeit mit mir machen wird, was sie mit den meisten Propheten getan hat.
Wir waren gerade an der Front angekommen, als wir hörten, dass Bob Smillie auf seinem Weg zurück nach England an der Grenze verhaftet, nach Valencia gebracht und in ein Gefängnis geworfen worden sei. Smillie war seit dem vergangenen Oktober in Spanien gewesen. Einige Monate lang hatte er im Büro der P.O.U.M. gearbeitet. Als dann die anderen I.L.P.-Mitglieder ankamen, war er mit der Absicht in die Miliz eingetreten, drei Monate an die Front zu gehen, ehe er nach England zurückkehrte, um sich dort an einer Propagandatour zu beteiligen. Es dauerte einige Zeit, ehe wir ausfindig machen konnten, warum er verhaftet worden war. Man hielt ihn incomunicado, so dass nicht einmal ein Rechtsanwalt zu ihm konnte. In Spanien gibt es kein Habeas corpus, jedenfalls nicht in der Praxis, und man kann monatelang ununterbrochen im Gefängnis festgehalten werden, ohne dass Anklage erhoben wird, geschweige denn ein Urteil ergeht. Schließlich hörten wir von einem entlassenen Gefangenen, dass Smillie verhaftet worden sei, weil er »Waffen trug«. Wie ich zufällig wusste, waren diese »Waffen« zwei Handgranaten primitivster Art, wie sie bei Kriegsbeginn benutzt wurden. Zusammen mit Granatsplittern und anderen Souvenirs hatte er sie mit nach Hause nehmen wollen, um bei seinen Vorträgen ein wenig damit anzugeben. Die Ladung und die Zünder waren entfernt worden, so blieben nur die vollständig harmlosen Stahlzylinder übrig. Das war aber offensichtlich nur ein Vorwand, und man hatte ihn vielmehr wegen seiner bekannten Verbindung mit der P.O.U.M. verhaftet. Die Kämpfe in Barcelona waren gerade zu Ende, und die Behörden bemühten sich in diesem Augenblick sehr, niemand aus Spanien herauszulassen, der in der Lage gewesen wäre, der offiziellen Version zu widersprechen. So wurden also Menschen unter mehr oder weniger nichtigen Vorwänden an der Grenze verhaftet. Es ist sehr gut möglich, dass anfangs nur beabsichtigt war, Smillie einige Tage festzuhalten. Unglücklicherweise bleibt man aber in Spanien mit oder ohne Urteil für längere Zeit im Gefängnis, wenn man erst einmal dort ist.
Wir lagen immer noch vor Huesca, aber man hatte uns weiter nach rechts, gegenüber der faschistischen Feldschanze, aufgestellt, die wir einige Wochen vorher vorübergehend erobert hatten. Ich fungierte jetzt als teniente, das entspricht dem Leutnant der britischen Armee, soviel ich weiß. Ich führte das Kommando über dreißig Männer, Engländer und Spanier. Mein Name war zur Bestätigung einer regulären Offiziersstelle gemeldet worden. Ob ich sie erhalten würde, war ungewiss. Bisher hatten sich die Milizoffiziere geweigert, reguläre Offiziersstellen einzunehmen, da dies höheren Sold bedeutete und sie in Konflikt mit der Gleichheitsidee in der Miliz brachte. Aber sie mussten sich jetzt dazu bequemen. Benjamin war schon offiziell zum Hauptmann ernannt worden, und Kopp sollte zum Major befördert werden. Natürlich konnte die Regierung nicht auf die Milizoffiziere verzichten, aber sie bestätigte keinen von ihnen in einem höheren Rang als dem des Majors. Wahrscheinlich tat sie das, um die höheren Kommandoposten für reguläre Armeeoffiziere oder die neuen Offiziere der Kriegsschule freizuhalten. Als Ergebnis gab es in unserer 29. Division und zweifellos in vielen anderen Einheiten zeitweilig die seltsame Situation, dass der Divisionskommandeur, die Brigadekommandeure und die Bataillonskommandeure alle nur Major waren.
An der Front ereignete sich nicht viel. Die Schlacht um die Straße nach Jaca war erloschen und flammte vor Mitte Juni nicht wieder auf. Scharfschützen waren das Hauptübel in unserer Stellung. Die faschistischen Schützengräben lagen mehr als hundertfünfzig Meter entfernt, aber auf höherem Gelände und zu beiden Seiten unserer Stellung, die hier einen rechten Winkel bildete. Die Ecke des Winkels war eine gefährliche Stelle. Dort hatte es schon mehrere Verluste durch Scharfschützen gegeben. Von Zeit zu Zeit feuerten die Faschisten einen Gewehrgranatwerfer oder eine ähnliche Waffe auf uns ab. Sie machte einen schauderhaften Krach und war entnervend, denn man konnte sie nicht rechtzeitig genug hören, um ihr auszuweichen. Aber sie war in Wirklichkeit nicht gefährlich. Sie schlug nur ein Loch von der Größe eines Waschfasses in die Erde. Die Nächte waren angenehm warm, die Tage glühend heiß. Die Moskitos wurden unerträglich, und trotz der sauberen Kleidung, die wir aus Barcelona mitgebracht hatten, waren wir fast sofort wieder verlaust. In den verlassenen Obstgärten draußen im Niemandsland wurden die Kirschen schon hell. Zwei Tage lang hatten wir Regenfälle, die Unterstände wurden überflutet, und die Brustwehr sank dreißig Zentimeter ein. Danach mussten wir wieder einige Tage den klebrigen Ton mit den elenden spanischen Spaten, die sich wie Blechlöffel verbiegen, ausgraben.
Für jede Kompanie war uns ein Grabenmörser versprochen worden, und ich wartete schon mit Freude darauf. Nachts gingen wir wie gewöhnlich auf Spähtrupp, nur war es jetzt gefährlicher als früher, denn die faschistischen Schützengräben waren besser besetzt und sie waren jetzt vorsichtiger geworden. Sie hatten Blechbüchsen direkt vor die Drahtverhaue gelegt und schossen sofort mit Maschinengewehren, wenn sie nur einen Ton hörten. Während des Tages schossen wir aus einem Scharfschützennest im Niemandsland auf ihre Stellungen. Wenn man hundert Meter vorwärtskroch, kam man zu einem Graben, der hinter hohem Gras verborgen lag und eine Lücke in der faschistischen Brustwehr beherrschte. In diesem Graben hatten wir ein Gewehrnest eingerichtet. Wenn man lange genug wartete, konnte man regelmäßig eine in Khaki gekleidete Figur hinter der Lücke schnell vorbeischlüpfen sehen. Ich schoss verschiedene Male. Ich weiß nicht ob ich jemand traf; es ist sehr unwahrscheinlich, denn ich bin ein sehr schlechter Gewehrschütze. Aber es war immerhin ein ziemlicher Spaß, da die Faschisten nicht wussten, woher die Schüsse kamen, und ich war sicher, dass ich einen von ihnen früher oder später erwischen würde. Aber der Jäger wurde zum Gejagten - ein faschistischer Scharfschütze erwischte statt dessen mich. Ich war etwa zehn Tage wieder an der Front, als es geschah. Das ganze Erlebnis, von einer Kugel getroffen zu werden, ist sehr interessant, und ich glaube, dass es sich lohnt, die näheren Einzelheiten zu beschreiben.
Um fünf Uhr morgens stand ich an der Ecke der Brustwehr. Das war immer eine gefährliche Zeit, denn wir hatten die Morgendämmerung hinter unserem Rücken, und wenn man den Kopf über die Brustwehr hinaussteckte, hob er sich deutlich gegen den Himmel ab. Vor dem Wachwechsel sprach ich mit dem Wachtposten. Plötzlich, mitten im Satz, spürte ich - nun, es ist sehr schwer zu beschreiben, was ich spürte, obwohl ich mich mit äußerster Anschaulichkeit daran erinnere.
Grob gesprochen hatte ich das Gefühl, mich im Zentrum einer Explosion zu befinden. Es war wie ein lauter Knall und ein blendender Lichtblitz, der mich ganz umschloss, zugleich fühlte ich einen gewaltigen Stoß - keinen Schmerz, nur einen heftigen Schock, wie man ihn bei einem elektrischen Schlag bekommt. Dabei hatte ich ein Gefühl äußerster Schwäche, als ob ich zerschlagen werde und zu einem Nichts einschrumpfte. Die Sandsäcke vor mir traten in eine unendliche Entfernung zurück. Ich glaube, man fühlt dasselbe, wenn man von einem Blitz getroffen wird. Ich wusste sofort, dass ich getroffen worden war, aber wegen des Knalles und Blitzes dachte ich, es sei von einem Gewehr, das zufällig in der Nähe losgegangen war. Alles ereignete sich in einem Zeitraum von weniger als einer Sekunde. Im nächsten Augenblick wurden meine Knie weich und ich fiel, dabei schlug mein Kopf mit einem heftigen Schlag auf den Boden, was ich zu meiner Erleichterung aber nicht spürte. Ich hatte ein dumpfes, betäubendes Gefühl, das Bewusstsein, dass ich sehr schwer verwundet worden war, aber keinen Schmerz in normalem Sinne.
Der amerikanische Wachtposten, mit dem ich mich unterhalten hatte, stürzte auf mich zu. »Bei Gott! Bist du getroffen?« Die Männer kamen herbei. Es gab die übliche Aufregung: »Hebt ihn auf! Wo hat es ihn erwischt? Macht sein Hemd auf!« Der Amerikaner fragte nach einem Messer um mein Hemd aufzuschneiden. Ich wusste, dass ich eins in meiner Tasche hatte, und versuchte es herauszunehmen, aber dann entdeckte ich, dass mein rechter Arm gelähmt war. Ich hatte eine gewisse Genugtuung, dass ich keine Schmerzen fühlte, und ich dachte, darüber wird sich meine Frau freuen. Sie hatte sich immer gewünscht, dass ich verwundet würde, denn sie sagte, dadurch werde mir erspart, in der großen Schlacht getötet zu werden. Erst jetzt begann ich mich zu fragen, wo ich getroffen worden war und wie schlimm. Ich konnte nichts fühlen, aber ich war mir bewusst, dass die Kugel irgendwo vorne am Körper getroffen hatte. Als ich versuchte zu sprechen, merkte ich, dass ich keine Stimme hatte, nur ein schwaches Gurgeln. Aber beim zweiten Versuch gelang es mir zu fragen, wo ich getroffen worden sei. Sie sagten, am Hals. Harry Webb, der unsere Tragbahre versorgte, brachte ein Verbandspäckchen und eine kleine Flasche mit Alkohol, die man uns für die Erste Hilfe gegeben hatte. Als sie mich aufhoben, stürzte eine Menge Blut aus meinem Mund, und ich hörte, wie ein Spanier hinter mir sagte, die Kugel sei genau durch meinen Hals hindurchgegangen. Ich fühlte, wie der Alkohol, der normalerweise wie die Hölle brennen würde, mit angenehmer Kühle auf meine Wunde spritzte.
Sie legten mich wieder hin, während einige Männer die Tragbahre holten. Sobald ich wusste, dass die Kugel meinen Hals glatt durchschlagen hatte, war ich davon überzeugt, dass es mit mir zu Ende sei. Ich hatte noch nie von einem Mann oder einem Tier gehört, dem eine Kugel mitten durch den Hals geschossen wurde und der dann am Leben blieb. Aus meinem Mundwinkel tropfte Blut. Ich glaubte, die Arterie sei durchschlagen. Ich wunderte mich, wie lange man wohl noch lebt, wenn die Halsschlagader durchschnitten ist. Vermutlich nicht viele Minuten. Alles war sehr verschwommen. Zwei Minuten lang etwa muss ich angenommen haben, dass ich schon tot sei, und auch das war sehr interessant; ich meine, es ist interessant zu wissen, was für Gedanken man in solch einem Augenblick hat. Mein erster Gedanke beschäftigte sich konventionell genug mit meiner Frau. Mein zweiter Gedanke war ein leidenschaftlicher Widerspruch dagegen, dass ich die Welt verlassen sollte, die mir alles in allem ganz gut gefiel. Ich hatte Zeit genug, das sehr lebhaft zu empfinden. Dieses dumme Unglück machte mich richtig wütend. So eine sinnlose Geschichte! Wegen der Sorglosigkeit eines Augenblickes nicht einmal in der Schlacht, sondern in der muffigen Ecke eines Schützengrabens umgelegt zu werden! Ich dachte auch an den Mann, der mich erschossen hatte, und fragte mich, wie er wohl aussehen möge, ob er ein Spanier oder ein Ausländer sei und ob er wisse, dass er mich getroffen habe. Eigentlich konnte ich ihn nicht richtig hassen. Ich dachte mir, dass ich ihn, da er ja ein Faschist war, auch getötet hätte, wenn es mir möglich gewesen wäre. Und hätte man ihn gefangen und zu uns gebracht, hätte ich ihm nur zu seinem guten Schuss gratuliert. Es mag natürlich sein, dass man ganz andere Gedanken hat, wenn man wirklich stirbt.
Sie hatten mich gerade auf die Tragbahre gelegt, als mein gelähmter Arm wieder lebendig wurde und verdammt schmerzte. Zunächst aber ermutigten mich die Schmerzen, denn ich wusste, dass Gefühle nicht heftiger werden, wenn man stirbt. Ich fühlte mich wieder etwas normaler, und die vier armen Teufel taten mir leid, die unter der Tragbahre auf ihren Schultern schwitzten und ausglitten. Die Entfernung zum Ambulanzwagen betrug etwa zweieinhalb Kilometer, und es war ein ziemlich übler Weg über holprige, glitschige Pfade. Ich wusste, wie sehr man darunter schwitzt, denn ein oder zwei Tage vorher hatte ich selbst geholfen, einen verwundeten Mann hinunterzutragen. Die Blätter der Silberpappeln, die an einigen Stellen unseren Schützengraben einsäumten, wischten über mein Gesicht. Ich dachte nun, wie gut es doch sei, noch in einer Welt zu leben, in der Silberpappeln wuchsen. Während der ganzen Zeit aber hatte ich einen höllischen Schmerz in meinem Arm. Ich fluchte und versuchte dann wieder, nicht zu fluchen, denn jedes Mal, wenn ich tief atmete, schäumte das Blut aus meinem Mund.
Der Doktor verband die Wunde neu, gab mir eine Morphiumspritze und schickte mich nach Sietamo. Das Lazarett in Sietamo bestand aus schnell errichteten Holzhütten, wo man in der Regel die Verwundeten nur ein paar Stunden ließ, ehe sie nach Barbastro oder Lerida geschickt wurden. Ich war vom Morphium benommen, hatte aber noch immer große Schmerzen, konnte mich praktisch nicht bewegen und schluckte dauernd Blut. Es war typisch für die Methoden in einem spanischen Lazarett, dass die ungeübte Krankenschwester versuchte, mir in diesem Zustand das normale Lazarettessen einzutrichtern. Es bestand aus einem riesigen Teller Suppe, Eiern, einem fetten Stew und so weiter, sie schien überrascht zu sein, dass ich es nicht zu mir nahm. Ich fragte nach einer Zigarette, aber es war gerade eine jener Zeiten, in denen es keinen Tabak gab, und im ganzen Lazarett war keine einzige Zigarette aufzutreiben. Dann kamen zwei Kameraden an mein Bett, denen man erlaubt hatte, die Front einige Stunden zu verlassen.
»Hallo! Du lebst? Wie geht's? Gut. Wir möchten deine Uhr und deinen Revolver und deine elektrische Taschenlampe haben. Und dein Messer, wenn du eins hast.«
Sie machten sich mit meinem gesamten beweglichen Besitz davon. So ging es jedes Mal, wenn ein Mann verwundet wurde. Alles, was er besaß, wurde sofort aufgeteilt, und das war richtig, denn Uhren, Revolver und ähnliches waren an der Front sehr kostbar, und wenn sie im Gepäck eines Verwundeten mit zurückgingen, wurden sie ganz gewiss irgendwo am Wege gestohlen.
Am Abend waren genug Kranke und Verwundete zusammengekommen, um einige Ambulanzwagen zu füllen, und man sandte uns nach Barbastro. Was für eine Reise! Es hieß, man genese in diesem Kriege nur, wenn man an einem der äußeren Glieder verwundet wurde, man müsse aber immer sterben, wenn man eine Wunde im Inneren des Leibes habe. Ich wusste jetzt, warum. Niemand mit inneren Blutungen hätte diese kilometerlange Fahrt im holpernden Wagen über eine Schotterstraße, die durch schwere Lastwagen völlig ausgefahren und seit Kriegsbeginn nicht mehr ausgebessert worden war, überstehen können. Peng! Bum! Holterdiepolter! Diese Fahrt versetzte mich in meine frühe Kindheit zurück, und ich erinnerte mich an einen schrecklichen Apparat, das so genannte Wiggle-Woggle in der Ausstellung der >Weißen Stadt<. Man hatte vergessen, uns auf der Tragbahre festzubinden. Ich hatte noch genug Kraft in meinem linken Arm, um mich festzuhalten, aber ein armer Kerl flog auf den Boden und litt Gott weiß was für Schmerzen. Ein anderer, der noch gehen konnte, saß in der Ecke der Ambulanz und erbrach sich im ganzen Umkreis. Das Lazarett in Barbastro war überfüllt. Die Betten standen so nahe aneinander, dass sie sich fast berührten. Am nächsten Morgen wurde eine Anzahl von uns in den Lazarettzug geladen und nach Lerida hinabgeschickt.
Ich blieb fünf oder sechs Tage in Lerida. Es war ein großes Lazarett, in dem Kranke, Verwundete und normale Zivilpatienten mehr oder weniger durcheinander lagen. Einige Männer in meiner Abteilung hatten abscheuliche Wunden. Im Bett neben mir lag ein Bursche mit schwarzem Haar, der unter irgendeiner Krankheit litt und der eine Medizin bekam, die seinen Urin so grün wie Smaragd färbte. Seine Bettflasche war eine Sehenswürdigkeit in der ganzen Abtei-
lung. Ein Englisch sprechender holländischer Kommunist hatte gehört, dass ein Engländer im Lazarett liege, und brachte mir englische Zeitungen und freundete sich mit mir an. Er war in den Oktoberkämpfen schrecklich verwundet worden und hatte es irgendwie geschafft, sich im Lazarett von Lerida anzusiedeln und eine der Krankenschwestern zu heiraten. Sein Bein war durch die Wunde so eingeschrumpft, dass es nicht dicker als mein Arm war. Zwei Milizsoldaten, die ich in der ersten Woche an der Front kennenlernte, hatten Urlaub und kamen, um einen verwundeten Freund zu besuchen. Sie erkannten mich. Die Jungens waren etwa achtzehn Jahre alt. Sie standen unbeholfen an meinem Bett und versuchten, etwas zu sagen. Um zu zeigen, wie leid es ihnen tat dass ich verwundet worden war, nahmen sie plötzlich ihren ganzen Tabak aus der Tasche, gaben ihn mir und rannten davon, ehe ich ihn zurückgeben konnte. Wie typisch spanisch! Ich erfuhr später, dass man in der ganzen Stadt keinen Tabak kaufen konnte und sie mir die Ration einer vollen Woche gegeben hatten.
Nach einigen Tagen konnte ich aufstehen und mit dem Arm in der Binde umherspazieren. Wenn der Arm herabhing, schmerzte er jedoch sehr. Gleichzeitig hatte ich auch ziemlich heftige innere Schmerzen, die durch meinen Fall verursacht worden waren. Meine Stimme war fast vollkommen verschwunden. Aber nicht einen Augenblick verspürte ich Schmerzen von der Wunde selbst. Das ist anscheinend der Normalfall. Der ungeheure Schlag der Kugel verhindert ein direktes Gefühl in der Wunde. Der Splitter einer Granate oder Handgranate, der sehr ausgezackt ist und der einen normalerweise weniger schwer trifft, würde wahrscheinlich wie der Teufel schmerzen. Auf dem Lazarettgelände gab es einen netten Garten mit einem Teich mit Goldfischen und kleinen dunkelgrauen Fischen; ich glaube, es waren Ukeleie. Ich saß stundenlang und beobachtete sie. Durch die Behandlung in Lerida erhielt ich einen Einblick in das Lazarettwesen an der aragonischen Front. Ob es an anderen Fronten auch so ist, weiß ich nicht. Die Lazarette waren schon sehr gut. Die Ärzte waren fähige Leute, und es schien keinen Mangel an Medizin oder Ausrüstung zu geben. Aber man machte zwei schlimme Fehler, wodurch zweifellos Hunderte oder Tausende von Männern gestorben sind, die man hätte retten können.
Der eine Fehler bestand darin, dass alle Lazarette im weiten Umkreis hinter der Front mehr oder weniger nur als Feldlazarett und Durchgangsstation benutzt wurden. Folglich wurde man dort nur dann behandelt, wenn die Verwundung zu schwer und ein Transport unmöglich war. Theoretisch wurden die meisten Verwundeten direkt nach Barcelona oder Tarragona geschickt, aber wegen des mangelnden Transportraums dauerte es oft eine Woche oder zehn Tage, bis sie nach dort kamen. Man ließ sie in Sietamo, Barbastro, Monzon, Lerida und anderen Orten warten. Während dieser Zeit erhielten sie keine Behandlung, außer gelegentlich einem sauberen Verband, manchmal aber nicht einmal das. Männer mit abscheulichen Granatwunden und zerschmetterten Knochen wurden in eine Art Verschalung aus Verbandmull und Gips eingehüllt. Die Bezeichnung der Wunde wurde mit Bleistift außen aufgeschrieben, und normalerweise wurde die Verschalung nicht entfernt, ehe der Mann zehn Tage später in Barcelona oder Tarragona ankam. Unterwegs war es nahezu ausgeschlossen, dass die Wunden untersucht wurden. Die wenigen Ärzte konnten mit der Arbeit nicht fertig werden. Sie gingen einfach schnell an den Betten vorbei und sagten: »Ja, ja, sie werden euch in Barcelona behandeln.« Wir hörten nur jeden Tag das Gerücht, dass der Lazarettzug manana nach Barcelona abfahre. Der zweite Fehler bestand im Mangel an guten Krankenschwestern. Anscheinend gab es nicht genug ausgebildete Schwestern in Spanien, vielleicht weil diese Arbeit vor dem Kriege hauptsächlich von Nonnen getan wurde.
Ich kann mich nicht über die spanischen Schwestern beklagen, sie behandelten mich immer mit der größten Güte, aber sie waren zweifellos schrecklich unwissend. Alle konnten die Temperatur messen, und einige wussten auch, wie man einen Verband anlegt, das war aber auch alles. So geschah es, dass die Männer, die zu krank waren, um für sich selbst zu sorgen, oft in schmachvoller Weise vernachlässigt wurden. Die Krankenschwestern ließen einen Mann mit Darmverstopfung eine Woche lang liegen, ohne dass sie sich um ihn kümmerten. Nur selten wuschen sie diejenigen, die zu schwach waren, um sich selbst zu waschen. Ich erinnere mich an einen armen Teufel mit einem zerschmetterten Arm, der mir erzählte, dass er drei Wochen lang gelegen hatte, ohne dass sein Gesicht gewaschen wurde. Selbst die Betten wurden tagelang nicht gemacht. Das Essen war in allen Hospitälern gut, tatsächlich zu gut. In Spanien schien es noch mehr als anderswo eine Tradition zu sein, die Kranken mit schwerem Essen voll zu stopfen. In Lerida waren die Mahlzeiten unglaublich. Das Frühstück, ungefähr um sechs Uhr morgens, bestand aus Suppe, einem Omelette, Stew, Brot, Weißwein und Kaffee. Und das Mittagessen war noch umfangreicher. Diese Verpflegung gab es zu einer Zeit, als der größere Teil der Zivilbevölkerung ziemlich unterernährt war. Die Spanier scheinen von leichter Diät nicht viel zu halten. Sie geben Kranken wie Gesunden das gleiche Essen - die reiche, fette Küche und alles in Olivenöl getränkt.
Eines Morgens wurde bekannt gegeben, die Leute in meiner Abteilung sollten heute nach Barcelona geschickt werden. Es gelang mir, meiner Frau ein Telegramm zu senden, in dem ich ihr mitteilte, dass ich komme. Schon wurden wir in Busse gepackt und zum Bahnhof hinabgefahren. Erst als der Zug wirklich abfuhr, sagte mir ganz beiläufig der mitfahrende Sanitäter, wir führen nun doch nicht nach Barcelona, sondern nach Tarragona. Ich glaube, der Lokomotivführer hatte es sich anders überlegt. »Das ist typisch Spanien!« dachte ich. Aber es war auch typisch spanisch, dass man den Zug festhielt, bis ich noch ein zweites Telegramm abgeschickt hatte. Und es war noch typischer spanisch, dass dieses Telegramm niemals ankam.
Sie steckten uns in normale Wagen dritter Klasse mit hölzernen Bänken, obwohl viele Leute schwer verwundet und heute erst aus dem Bett gekommen waren. Es dauerte bei der Hitze und der polternden Fahrt nicht lange, bis die Hälfte einem Kollaps nahe war und viele sich auf den Boden erbrachen. Der Sanitäter stapfte mit einer großen Wasserflasche aus Ziegenfell über die wie Leichen herumliegenden Verwundeten und spritzte hier oder dort etwas Wasser in einen Mund. Es war ein scheußliches Wasser, ich habe den Geschmack immer noch auf der Zunge. Als die Sonne schon niedrig stand, kamen wir nach Tarragona. Die Eisenbahnlinie führte einen Steinwurf weit vom Meer an der Küste entlang. Als unser Zug in den Bahnhof einlief, fuhr gerade ein ganzer Zug mit Soldaten der Internationalen Brigade heraus, und eine Anzahl Leute auf der Brücke winkte ihnen zu. Es war ein sehr langer Zug, der bis zum Bersten mit Soldaten voll gepackt war. Auf offenen Güterwagen standen Feldkanonen, die dort festgebunden waren, und neben den Kanonen hockten noch weitere Soldaten. Ich erinnere mich mit besonderer Lebhaftigkeit an das Schauspiel, wie die beiden Züge im gelben Abendlicht aneinander vorbeifuhren. Fenster auf Fenster voller dunkler, lächelnder Gesichter, die langen, geneigten Rohre der Kanonen, die roten, flatternden Schals - alles glitt langsam vor der türkisfarbenen See an uns vorbei.
»Estranjeros - Ausländer«, sagte jemand. »Es sind Italiener.«
Man konnte nicht übersehen, dass sie Italiener waren. Kein anderes Volk hätte sich so anmutig gruppieren können, und niemand hätte die Grüße der Menge mit so viel Grazie beantworten können, eine Grazie, die auch dadurch nicht weniger echt wirkte, dass vielleicht die Hälfte der Soldaten auf dem Zuge aus hochgehaltenen Weinflaschen trank, Wir hörten hinterher, dass sie ein Teil der Truppen waren, die im März den großen Sieg in Guadalajara errungen hatten Sie waren auf Urlaub gewesen und wurden jetzt an die aragonische Front versetzt. Ich befürchte, dass die meisten von ihnen einige Wochen später bei Huesca getötet wurden. Die Männer, die nicht so schwer verwundet waren und stehen konnten, waren auf die andere Seite des Waggons gegangen und grüßten die Italiener, als wir an ihnen vorbeikamen. Eine Krücke winkte aus dem Fenster, bandagierte Arme grüßten mit der geballten Faust den roten Salut. Es war ein allegorisches Bild des Krieges, eine Zugladung frischer Leute glitt stolz zur Front, die Verwundeten glitten langsam zurück. Und wenn man die Kanonen auf den offenen Wagen sah, schlug einem das Herz höher, wie immer, wenn man Kanonen sieht. Wir alle unterlagen wieder einmal dem verderblichen Gefühl, von dem man sich so schwer lösen kann, dass der Krieg eben doch prächtig ist.
Das Lazarett in Tarragona war sehr groß und voll Verwundeter von allen Fronten. Was für Wunden sah man dort! Man hatte hier, vermutlich in Übereinstimmung mit der jüngsten medizinischen Praxis, eine besondere Art, die Wunden zu behandeln, die aber besonders schrecklich anzusehen war. Sie bestand darin, dass man die Wunden vollständig offen und unverbunden ließ und nur durch ein Netz aus Mull, das über Drähte gelegt wurde, vor den Fliegen schützte. Unter dem Mull konnte man die rote Gallerte der halbverheilten Wunden sehen. Ich sah einen Mann, der im Gesicht und am Hals verwundet worden war und dessen Kopf unter einem kugelförmigen Helm aus Mull steckte. Sein Mund war verschlossen, und er atmete durch eine kleine Röhre, die zwischen seinen Lippen befestigt war. Der arme Teufel schaute so verlassen aus, wenn er hin und her wanderte und jeden aus seinem Mullkäfig anguckte und doch nicht sprechen konnte. Ich lag drei oder vier Tage in Tarragona. Meine Kräfte kehrten zurück, und eines Tages gelang es mir, langsam gehend bis an den Strand zu wandern. Es war seltsam zu sehen, wie der Badebetrieb fast wie normal ablief. Die feinen Cafes an der Promenade, die plumpen Bürger der Stadt, die badeten und sich sonnten, als gäbe es im Umkreis von anderthalbtausend Kilometer keinen Krieg. Trotzdem sah ich, wie das manchmal so geschieht, dass ein Badender ertrank. Das hätte ich bei der flachen und lauwarmen See für unmöglich gehalten.
Acht oder neun Tage nachdem ich die Front verlassen hatte, wurden endlich meine Wunden untersucht. Die neuangekommenen Fälle wurden in der Chirurgie untersucht. Ärzte hackten mit großen Scheren die Brustplatten aus Gips in Stücke, in die man die Männer mit ihren zerschlagenen Rippen und Halswirbeln auf den Verbandsplätzen hinter der Front eingehüllt hatte. Da sah man zum Beispiel ein ängstliches, schmutziges Gesicht mit dem struppigen Bart einer Woche, das aus der Halsöffnung einer großen, ungefügen Brustplatte hervorlugte. Der Doktor, ein frischer, gut aussehender dreißigjähriger Mann, setzte mich auf einen Stuhl, griff meine Zunge mit einem rauen Stück Gaze, zog sie so weit, wie es ging, heraus, schob einen Zahnarztspiegel in meinen Rachen und forderte mich auf, »Ah!« zu sagen. Nachdem ich das so lange getan hatte, bis meine Zunge blutete und meine Augen überliefen, sagte er mir, eins meiner Stimmbänder sei gelähmt.
»Wann werde ich meine Stimme wiederbekommen?« sagte ich.
»Ihre Stimme? Ach, Sie werden Ihre Stimme nie zurückbekommen«, sagte er heiter.
Wie es sich später herausstellte, hatte er aber unrecht. Zwei Monate lang konnte ich kaum wispern, dann wurde meine Stimme plötzlich normal, das andere Stimmband hatte sich >angepasst<. Der Schmerz in meinem Arm wurde dadurch verursacht, dass die Kugel ein Nervenbündel hinten an meinem Hals durchschlagen hatte. Der Schmerz stach wie Neuralgie und dauerte etwa einen Monat, besonders nachts, so dass ich nicht viel Schlaf bekam. Auch die Finger meiner rechten Hand waren halb gelähmt. Selbst heute, fünf Monate später, ist mein Zeigefinger noch empfindungslos, eine seltsame Folge für eine Halswunde.
Die Wunde war gewissermaßen eine Kuriosität, und verschiedene Ärzte untersuchten sie mit viel Zungenschnalzen und »Que suerte! Que suerte!« Einer sagte mir mit dem Gefühl der Autorität, die Kugel habe die Schlagader nur »um einen Millimeter« verfehlt. Ich weiß nicht, woher er das wusste. Niemand, den ich damals traf - Ärzte, Schwestern, practicantes oder verwundete Kameraden -, unterließ es, mir zu sagen, dass ein Mann, der einen Schuss durch den Hals bekommen habe und das überlebte, die glücklichste Kreatur auf Erden sei. Mir kam es so vor, als ob man noch glücklicher ist, wenn man überhaupt nicht getroffen wird.

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