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B. Traven - Ein General kommt aus dem Dschungel (1940)
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DREIZEHNTES KAPITEL

1

Die militärische Ausbildung Generals hatte sich auf die praktischen Kenntnisse beschränkt, die einem jeden gewöhnlichen Soldaten in einer Armee mit mehr oder weniger Rippenstößen, Backpfeifen und Anbrüllen in einem Jahr beigebracht werden können. Die tiefen Geheimnisse der höheren Kriegskunst waren ihm verschlossen geblieben, darum hatte er keinerlei Aussicht, es als Soldat in der Armee weiterzubringen als bestenfalls zu einem ersten Sergeanten, und als Sergeant hatte er keine andere Verantwortung, als darauf zu achten, dass die Leute seiner Gruppe zu der befohlenen Zeit aus ihren Bunks gezerrt wurden und zu befohlener. Zeit an der befohlenen Stelle aufgereiht dastanden.
Der Divisionario hingegen, Sohn einer alten vornehmen Familie, zur Hälfte italienischer und zur anderen Hälfte französischspanischer Herkunft, hatte die Militärakademie mit Erfolg besucht, wo er alles das lernte, was Heerführer von den Zeiten der Babylonier her bis Wellington getan, gesagt, gelehrt, angeordnet und empfohlen hatten. Durch dieses Studium wurde er allmählich von der gewöhnlichen Rasse von Menschen, den Zivil-Unken, geschieden und den Göttern eine gute Anzahl von Stufen näher gerückt. Diese Wandlung von einem gewöhnlichen Sterblichen zu einem allerhöchsten Vertreter Gottes auf Erden begann, vom ersten Tage seines Eintritts in die Militärakademie an, sich genau nach lang ausgeprobten Regeln zu vollziehen.
Das erste war, dass er sich einer neuen und völlig veränderten Sprache zu bedienen und den Tonfall dieser Sprache so zu ändern hatte, dass, sobald er auch nur seine Kinnladen aufhakte, ein jeder gewöhnliche Mensch sofort erkannte, dass er die Ehre des Vaterlandes verkörpere und von Gott dazu ausersehen sei, ein oder mehrere neue Kapitel der ruhm- und glorreichen Geschichte der Armee hinzuzufügen.
Die Vorbereitung für eine solche hehre Aufgabe kostete freilich Mühe, Opfer, Geduld und harte Arbeit.
In den ersten Wochen nach ihrem Eintritt in die Militärakademie hatten die Kadetten, die hofften, einstmals Divisionsgenerale zu werden, um Mitternacht, nur mit Nachthemden bekleidet und eine brennende Kerze in der Hand tragend, in den Räumen der älteren Kadetten anzutreten und durch Vorzeigen des Objektes zu offenbaren, wie weit sie es schon gebracht hatten, einen Militärstiefel richtig vorschriftsmäßig putzen zu können.
Während des Mittagessens, wenn vor ihnen gerade ein herrliches Stück saftigen Bratens hingestellt worden war und sie mit wässerndem Munde darüber herzufallen gedachten, wurden sie von einem älteren Kadetten aufgerufen, der Tafelrunde zu erzählen, was Sand sei.
Für einen werdenden General ist Sand nicht das, was ein Zivilschwein für Sand hält. So einfach wird es einem zukünftigen Heerführer in der Diktatur nicht gemacht.
Für einen pflichteifrigen, patriotischen, dienstbeflissenen, lernbegierigen und wissenshungrigen lausigen Kadetten im ersten Jahr war Sand etwas wesentlich anderes. Er musste begreifen lernen, schon in jungen Jahren, dass für einen Kadetten Sand war: Eine aus mehr oder weniger kleinen geologischen Gebilden, die teils körnerartig, teils kristallähnlich in Erscheinung treten, teils aber auch wieder in allen nur möglichen und denkbaren bekannten und unbekannten geometrischen Formen sich zeigen und deren Herkunft, nach ihrer in Augenschein tretenden Beschaffenheit zu schließen, durch Erosion oder ständige Beeinflussung atmosphärischer Verhältnisse auf die felsigen Bestandteile des Erdkörpers entstanden ist, bestehende, lose miteinander verbundene Masse, die, wenn entsprechend geebnet und auf einem Exerzierplatz ausgebreitet, der alleinigen, jedoch lebenswichtigen Aufgabe dient, dass auf ihr eine Gruppe neueingetretener grüner, unreifer, halb uniformierter, schlecht geputzter, lümmelhafter, Sünden frönender Kadetten sich stets verspätet aufstellen, Richtung nehmen, Einzelmarsch üben und in durchaus reglementswidriger Weise und immer in verkehrter Richtung in Sektionen schwenken und zugleich einige weitere Äußerungen physisch motorischer Kräfte vollführen können zu dem endgültigen Zwecke, endlich begreifen zu lernen, dass die Beine eines lausigen Kadetten nicht dazu gebraucht werden dürften, sich oder einem Kadetten älteren Jahrgangs, der stets und immer als sein Vorgesetzter anzusehen ist, damit in der Nase herumzubohren, sondern damit die Knie fest durchzudrücken, den Bauch einzuziehen, die Brust herauszubeulen, zu gleicher Zeit nicht dazustehen, wie eine schwangere Indianerin, und die Hände so an die äußere, aber nicht an die innere, weil das Schwierigkeiten erzeugen würde, Hosennaht zu legen, und in solcher traditionellen Gepflogenheiten folgenden Form und Weise, dass der kleine Finger mit seinem ersten Gliede gerade noch in seidenweicher Weise das militärische Tuch, aus dem die Hose gemacht ist, berührt, während das Handinnere sich nach außen zu wölbt, so dass, von vorn betrachtet, sich darin eine halbausgewachsene Maus der gewöhnlichen Art, wissenschaftlich ausgedrückt Muridae, verstecken kann und der ausgestreckte Zeigefinger in leichter Fühlung mit dem bereits vorher erwähnten und näher bezeichneten Tuche bleibt, ohne es aber direkt zu berühren, wobei durch leise Fühlung darauf zu achten ist, dass die beiden Ellbogen ein wenig gekrümmt sind, ohne affektiert zu scheinen, und nicht näher, aber auch nicht weiter von dem Riemen entfernt zu halten sind, dass man zwischen Ellbogen und Riemen gerade noch die flache Hand eines anderweitig normal gewachsenen Unteroffiziers sanft hindurchschieben kann, ohne besondere physische oder geistige Kraftanstrengungen hierfür zu benötigen, das ist militärisch richtig und vorschriftsmäßig ausgedrückt: Sand. Das oder ähnliches jeden Tag, mit Ausnahme des Sonntags, aufsagen zu müssen, gerade wenn die beste Schüssel vor ihm stand, wurde von den älteren Kadetten dem Neueinzuweihenden so lange als kleiner Scherz aufgehalst, bis der junge zukünftige General diesen Satz fehlerfrei und ohne Stocken so rasch herunterrasseln konnte, dass er damit zu Ende war, ehe die begehrte Schüssel von den bedienenden Soldaten wieder abgeräumt worden war, weil die Süßspeise nun kam.
Im Laufe der Zeit war dann der Divisionario selbst älterer Kadett geworden und verübte nun an den jungen genau dasselbe, was an ihm verübt worden war, ohne dass jemals die geistigen Kräfte eines dieser zukünftigen Heerführer ausgereicht hätten, etwas Neues auf diesen Gebieten zu erfinden oder zu begreifen, wie idiotisch sie ihr eigenes Leben zu gestalten wussten.
Krieg mit dem Erbfeind kam nicht, weil der Erbfeind ohne Krieg mehr aus dem Lande herauszuwirtschaften verstand, als er das je mit einem Kriege vermocht hätte. Im Grunde betrachtet war ja überhaupt kein Erbfeind vorhanden. Das Wort Erbfeind wurde nur hin und wieder gebraucht, um das Interesse der Steuerzahler an der Notwendigkeit einer starken Landesverteidigung nicht erlahmen zu lassen.
Es war der Erbfeind, von dem alle Kanonen, Maschinengewehre, Karabiner, Revolver, Säbel, Militärausrüstung gekauft werden mussten, weil im eigenen Lande die Industrie nicht genügend entwickelt war, jene Waffen und Ausrüstungsgegenstände selbst herzustellen.
Als Capitan, Mayor und Oberst hatte der Divisionario zuweilen Gelegenheit gehabt, Schlachtpläne Hannibals, Alexanders, Attilas und Napoleons auf ihre Brauchbarkeit und Genialität hin zu prüfen gegenüber streikenden Textilarbeitern, aufsässigen Minenarbeitern und Revolten indianischer Kleinbauern.
Es erwies sich in allen diesen Feldzügen, dass die Grundsätze in Strategie und Taktik, wie sie von Hannibal und Napoleon mit Erfolg angewendet worden waren, noch immer ihre volle Gültigkeit hatten und keine Ursache vorlag, sich die Köpfe über neue Theorien zu zerbrechen.

 

2

Der Divisionario würde es als Schmach betrachtet haben, hätte er dem Rebellenhauptmann gegenüber gleiche oder ähnliche militärische Taktiken gebraucht, die er in Manövern gegenüber gleich gebildeten Generalen, den Soldaten vom Fach, wie er sie nannte, in Anwendung brachte. Rebellen gegenüber verfuhr er nicht wie ein General, sondern wie der Inspektor einer Polizeimannschaft, die ausgeschickt wird, entlaufene Verbrecher einzufangen.
Das erste, was er zu tun gedachte, sobald er die Rebellen umzingelt haben würde, war, sie aufzufordern, sich bedingungslos zu ergeben auf Gnade und Ungnade, ihre Anführer auszuliefern und alle Waffen innerhalb einer halben Stunde abzuliefern. War das geschehen, dann würde er die Anführer aufhängen lassen. Von den übrigen Rebellenschweinen würde er jeden fünften Mann auszählen und ebenfalls aufhängen lassen. Den Rest der Meuterer, Männer, Weiber und Brut, würde er gegen Bezahlung der Kosten, die jene Strafexpedition verursacht hatte, an Kaffeeplantagen, Monterias und Fincas verkaufen.
Ein Offizier, der auch nur etwas auf seine Ehre hält, wendet keine der militärischen Maßnahmen an, in denen er unterrichtet wurde und die nur Geltung haben dürfen gegen organisierte Militärtruppen. Der Divisionario würde sich unsagbar lächerlich vorgekommen sein, hätte er den Rebellenhauptmann auch nur für eine Viertelstunde militärisch ernst genommen, um ihm zu begegnen gleich einem Soldaten.
Rebellen wurden nicht bekämpft. Rebellen wurden einfach gejagt wie Hasen, und der Angriff hatte sich zu gestalten wie eine Treibjagd.
General dahingegen, keine Ehre besitzend, keine Maximen Napoleons kennend, dachte nicht eine Minute lang an eine Treibjagd. Er nahm den Divisionario genügend ernst. Er nahm alles ernst, was der Divisionario nach seiner Meinung gelernt haben musste und in einer langen militärischen Laufbahn durch Erfahrung hinzugelernt haben mochte. Er nahm erst recht die Soldaten ernst; denn er wusste, sie konnten besser und genauer schießen als die Muchachos, sie waren besser gedrillt, besser organisiert und führten befohlene Bewegungen rascher und geschickter aus.
Und so, weil er sich niemals eines Sieges sicher war, weil er auch nicht sicher war, das bevorstehende Gefecht zu gewinnen, darum unterließ er keine einzige aller jener Vorbereitungen, von denen er glaubte, dass sie ihm den Sieg sichern könnten.

 

3

Der Divisionario, als seine Truppe etwa acht Kilometer weit von dem Lager der Rebellen entfernt war, kommandierte Halt und Nachtruhe. Er beschloss, nicht sofort anzugreifen, wie es ursprünglich seine Absicht gewesen war, sondern den nächsten Morgen abzuwarten, um die Treibjagd erfolgreicher zu gestalten. Die Nähe der Nacht hätte es vielen Hasen ermöglicht, in den Busch oder in die Berge zu entwischen. Veranstaltete er jedoch die Treibjagd am Morgen und mit ausgeruhten Truppen, so hatte er den langen Tag vor sich, und seine Scharfschützen würden darauf achten, dass nicht ein einziger dieser Rebellenhunde entkomme.
Nachdem ihm ein schönes hohes Zelt aufgebaut worden war und er mit dem Koch eine lange Unterredung gehabt hatte, was er zum Abendessen bevorzöge und was er zum Frühstück begehre, überließ er es den jüngeren Offizieren, sich um das übrige zu bekümmern. Dazu waren sie ja da, die grünen Jungen, ihm solche nebensächlichen Arbeiten abzunehmen. Er hatte die Schlacht zu schlagen, dafür war er der Divisionario. Und weil es sich ja nur um eine Treibjagd auf verlauste Rebellen handelte und nicht um eine geordnete, kriegsmäßige Schlacht, so fühlte er sich verpflichtet, die jungen Offiziere nicht um die Gelegenheit zu betrügen, sich betätigen zu dürfen und alles das einmal praktisch anzuwenden, was sie auf der Militärakademie gelernt hatten.
Diese Offiziere, von der Wichtigkeit ihrer Aufgabe überzeugt und völlig bewusst, dass sie, auch wenn es gegen ihre Volksgenossen ging, dennoch dem Vaterlande dienten, wurden geschäftig.
Sie schickten drei Späher aus, um das Lager und die Stellung der Rebellen auszukundschaften. Nachdem sie das getan hatten, ließen sie die Soldaten, die sich bereits ihr Abendessen kochten, wieder aufrufen und mit gereinigten Gewehren antreten. Es geschah einmal der Kriegsbereitschaft wegen. Zum andern wurde es getan, weil dadurch der Divisionario den Eindruck gewann, dass etwas ernstes von den Offizieren unternommen wurde. Es sah wichtig aus. Immer wenn ein Offizier, ein hoher oder ein niedriger, nicht weiß, was er nun tun soll, dann lässt er seine Soldaten zu einer Inspizierung antreten.
Es gibt immer etwas zu inspizieren, und man braucht nichts Neues auszudenken. Selbst wenn einmal ein intelligenter Mensch Offizier wird und er wohl fähig wäre, wirklich neue Methoden auszuarbeiten, hütet er sich, sie anzuwenden oder sie auch nur gegenüber anderen Offizieren auszusprechen. Und um nicht lächerlich zu erscheinen oder sonst wie aufzufallen, was ihrer Laufbahn nicht günstig ist, so bemühen sie sich, über den Durchschnittsintelligenzgrad ihrer Kameraden nicht hinauszuragen. Denn das wäre taktlos und unkameradschaftlich zugleich. Im ganzen Militärwesen, sei es, wo es auch immer sei, lässt sich eine jede Lücke, gleich welcher Art, stets erfolgreich ausfüllen mit Inspizierungen und mit Einzelmarsch im Gänseschritt. In keinem anderen Berufe vermag man Fehler, Unvollkommenheiten und Nachlässigkeiten, besonders aber Mangel an Intelligenz, so leicht und mit so geringen Mitteln zu verschleiern.
Die Brauchbarkeit nicht nur eines guten Soldaten, sondern erst recht die eines Offiziers, auch eines Generals, wird überall danach bemessen und beurteilt, wie wenig er von seinem Hirn Gebrauch macht. Trägheit im Denken wird unter einer Diktatur zur Tugend; während sie in einer Demokratie Fäulnis bedeutet.

 

4

Als die drei Späher zurückkamen und sich zum Rapport meldeten, saßen alle Offiziere beim Abendessen.
Der Divisionario, mit vollem Munde kauend und mit dem Messer winkend, sagte: »Abtreten! Das alles könnt ihr mir morgen erzählen, wenn ich Laufschritt über die Schweine kommandiert haben werde.«
Aber eine Vorsicht übte er diesmal. Er rief den Offizier vom Dienst und gab ihm den Befehl, die Wachen nicht zu vernachlässigen; denn diese Spitzbuben und Verbrecher könnten es wagen, sich wieder ein halbes Hundert Karabiner zu holen, und die könnte man diesmal nicht entbehren.
Auch General sandte Späher aus. Er jedoch hörte sich aufmerksam an, was sie berichteten; so aufmerksam und andächtig, dass er darüber das Abendessen vergaß.
Celso sagte dann: »Was denkst du, General, wir könnten ihnen vielleicht noch den Rest der Karabiner abnehmen, wo sie nun so nahe hier sind.«
»Das können wir freilich«, General nickte. »Und das erwartet sicher auch der Divisionario. Und gerade darum, weil er das von uns erwartet, darum tun wir es nicht. Das ist ein Grund. Der andere Grund ist, dass die Uniformierten uns dann nicht angreifen könnten. Aber wir brauchen ein gesundes Gefecht. Zur Aufmunterung der Muchachos und zur Übung.«
Daraufhin ließ er alle seine Capitanes zusammenrufen, beriet mit ihnen den Plan, den er sich ausgedacht hatte, und gab dann die Befehle aus.

 

5

Der Divisionario hatte beschlossen, am späten Abend des folgenden Tages im Hauptlager zurück zu sein. Dass er siegreich zurück sein würde, zog er nicht in Zweifel, um so weniger, weil es sich ja nicht um einen Sieg handelte, sondern um eine Treibjagd. Bei einer Treibjagd auf Hasen spricht man nicht von einem Siege, sondern nur von der Zahl der erbeuteten armen Häslein.
Und weil der Divisionario am selben Abend im Hauptlager sein wollte, wo er im Rancho ein richtiges Dach über dem Kopfe hatte und ein Bettgestell vorfand anstelle dieses elenden schmalen Feldbettes, wo er rechts und links auf den Leisten liegen musste, die ihm Beulen und Löcher in seinem fetten Körper verursachten, darum brach er das Lager frühzeitig ab, und seine Truppe war bei Sonnenaufgang vor dem Lager der Muchachos. Er nahm mit seinem Adjutanten und dem Hornisten Aufstellung auf einem Hügel, während seine Soldaten, durch den Unterbusch und durch das Präriegras kriechend, geschickt das Lager der Muchachos umzingelten, damit auch nicht ein Karnickel entspringen sollte. Es ging alles, wie befohlen. »Was das für Esel sind, diese verlausten Säue, das können Sie jetzt sehen, Teniente«, sagte er zu seinem Adjutanten. »Weder Posten haben sie ausgestellt, noch irgend sonst wie sich um etwas gekümmert. Und gegenüber solchen Schweinen erwartet das Kriegsministerium von mir, dass ich sie ernst nehmen soll. Ist zum Lachen. Da sehen Sie, Teniente, die ganze Banditengesellschaft ist nur auf ihr Fressen bedacht. Noch zehn Minuten, dann werden wir sie springen sehen. Nicht einmal das Maschinengewehr, das sie uns gestohlen haben, halten sie besetzt. Mit einem Lasso könnte man es ihnen wegschnappen, wenn man sich die Mühe machen würde.«
Der Divisionario beobachtete ganz richtig. Die Muchachos hockten um ihre Feuer und kochten ihr Frühstück. Sie waren so vertieft in ihr Kochen, dass sie gebückt da hockten und kaum aufsahen. Hin und wieder, und hier und da, stand einer auf und ging auf eine andere Gruppe zu, um etwas zu holen, oder um zu sehen, was die anderen täten. Sie alle schienen ihre Augen noch verklebt zu haben, so schläfrig war das Lager.
»Wie viel Burschen denken Sie, Teniente, wie viel das da sein könnten?« fragte der Divisionario.
»Mögen hundert sein, oder auch hundertzwanzig oder dreißig, mi General. Es lässt sich schwer sagen.«
»Können dann auch etwa gegen zweihundert sein?«
»Leicht möglich, mi General. Da sind Senkungen im Gelände, hohes Gras, Gebüsche, Hügelchen, so dass man nicht alles übersehen kann. Dutzende schlafen sicher noch; denn ich sehe eine ganze Anzahl, die da eingerollt in ihren Decken und Lumpen herumliegen.«
»Die sehe ich auch, Teniente. Ich wollte nur gewiss sein, dass ich die ganze Bande beisammen habe und nicht noch einmal drauflosmarschieren brauche. Dieses ewige Herumklettern in diesen Wüsten hier draußen und das nichtswürdige Essen in den verdreckten Ranchos tut meinen alten, mürben Knochen nicht sehr gut. Ihnen kann ich das schon ruhig verraten. Könnte mich pensionieren lassen. Aber ich brauche das Geld. Ich habe zu viele Ausgaben. Und wenn ich mich pensionieren lasse, was bin ich dann? Nichts. Ein Zivilist wie jeder andere Hosenschitter, wie jeder Krämer in Balun Canan, der auf Märkte zieht.«
Der Divisionario blickte auf seine Taschenuhr. Dann nahm er sein Feldglas auf und suchte das Gelände ab. »Da kommen die ersten Signale herüber von Leutnant Manero. Er hat seine Stellung eingenommen und ist fertig. Und da drüben blitzt jetzt auch der Spiegel des Sergeanten Junco, auch er hat seinen Posten besetzt. In fünf Minuten geht das Treiben los.«
Der Divisionario steckte sich eine Zigarette an. Er hockte sich auf den Boden. Sein Pferd hatte er am Fuß des Hügels rückwärts zurückgelassen, um zu vermeiden, dass es getroffen würde, falls einige Schüsse auf diesen Hügel gerichtet werden sollten. Der Hügel war hoch genug, dass der Divisionario, auch auf dem Boden hockend, das Gefechtsgelände gut zu übersehen vermochte.
»Wie lächerlich diese Spitzbuben sich benehmen«, sagte er mit einem Grinsen zu dem Adjutanten, »können Sie auch daraus entnehmen, dass sie nicht für eine Sekunde daran gedacht haben, diesen Hügel hier mit einem Maschinengewehr, oder auch nur mit einem Beobachtungsposten, zu besetzen. Es wäre schwer für uns gewesen und hätte unnötige Opfer gekostet, wenn die Banditen an diesen Hügel gedacht haben würden.«
Er bemerkte, dass einige hundert Meter weit zur Rechten und zur Linken des Hügels seine Mannschaften ebenfalls in Stellung gegangen waren. Diese Mannschaften hatte er einen Umweg machen lassen, weil hier das Gelände hoch lag und die Rebellen den Aufmarsch hätten sehen können. Als er nun auch von diesen Mannschaften das Signal erhielt, dass sie aufgestellt seien und dass damit der Ring völlig geschlossen war, zog er den Revolver und feuerte drei Schuss in die Luft. Diese drei Schüsse bedeuteten für seine Truppe das Signal zum allgemeinen Angriff auf das Lager. Zugleich ließ er El Corneta >Adelante!< blasen.
Kaum waren die Signalschüsse und das Hornsignal verhallt, da begann sofort ein Maschinengewehr auf das Lager loszuknattern. Der Angriff war eingeleitet, und es zeigte sich kein einziger Fehler in dem vorzüglich geführten Aufmarsch der Truppe.

 

6

Jedoch nun geschah etwas recht Merkwürdiges. Es war etwas, was der Divisionario in seiner langen glorreichen Laufbahn als Militär niemals gesehen hatte. Es war etwas, was nicht nur das Erstaunen des Divisionarios wachrief, sondern was die erste Verwirrung unter seinen Soldaten und seinen Offizieren verursachte. Im ersten Augenblick offenbarte sich diese Verwirrung nur in einem leichten Zögern im Angreifen.
Der Divisionario, sein Glas dicht vor die Augen haltend, hatte, gleich allen übrigen Offizieren, erwartet, dass bei den ersten Schüssen des Maschinengewehrs das Lager der Muchachos auffahren würde, als hätte ein Blitz eingeschlagen. Aber das Lager, als Ganzes betrachtet, blieb still. Nur einige wenige Muchachos schienen sich einander zuzuneigen und einige andere, offenbar ebenfalls von Schüssen getroffen, sanken um und rührten sich nicht mehr. Hier und da liefen einige Muchachos tief gebückt hin und her, als wollten sie die Leute, die zu schlafen schienen, aufmuntern. Abgesehen von diesen wenigen hin und her flitzenden Burschen war keine Bewegung zu bemerken.
Während das Maschinengewehr gleichmäßig weiterknatterte, das Lager abmähte, um dadurch den Hauptangriff vorzubereiten und gleichzeitig zu erleichtern, rückten die Soldaten, das Bajonett gefällt, gebückt, von allen Seiten langsam auf das Lager zu, um den Ring dicht zu schließen.
Der Divisionario ließ ein zweites Signal blasen: Caballeria, marsch! Die Kavallerietruppe stand einen halben Kilometer weit zurück, abgesessen und versteckt hinter Gebüsch, auf das Signal des Divisionarios wartend, um in weitem Bogen das Gelände abzusperren und so zu verhüten, dass Rebellen entweichen konnten. Die Kavallerie saß auf und ritt in leichtem Galopp den Ring aus. Ehe dieser weite Ring völlig von allen Seiten geschlossen war, rückten die Infanteristen näher an den Kern des Lagers heran.
Der Divisionario hatte, als das Maschinengewehr zu knattern begann, vorausgesetzt, das Lager im Tumult aufspringen zu sehen. Als das aber nicht geschah, glaubte er, es handele sich um eine List der Muchachos, die den Soldaten nicht in eine Falle gehen wollten, sondern nach Lücken spähten, durch die sie zu entweichen gedachten.
Als nun die Infantes näher rückten und vom Lager aus gut gesehen werden konnten, als auch unzweifelhaft nun vom Lager das Aufmarschieren der Caballeria bemerkt worden sein musste und dennoch das Lager merkwürdig still blieb, wurde der Divisionario unruhig. Er stand auf und blickte durch sein Glas aufmerksamer in das Lager. Wie vorher schon, sah er nur hier und da einen Mann umsinken, getroffen von den Schüssen des Maschinengewehrs, das unaufhörlich weiterknatterte und das den Befehl hatte, erst dann abzusetzen, sobald die Soldaten das Lager erreicht hätten. Auch der Adjutant hatte sein Glas vor den Augen. Plötzlich sagte er: »Mi general, sehen Sie, was ich sehe, oder täusche ich mich?«
»Was denn?« fragte der Divisionario, ohne das Glas abzunehmen. »Da sind vier Burschen auf das Maschinengewehr, das mitten im Lager aufgestellt ist, zugegangen, und sie sind verschwunden. Und nun ist auch das Maschinengewehr verschwunden, als wäre es im Erdboden versunken.«
Der Divisionario richtete sein Glas auf die Stelle, wo er nur fünf Minuten vorher sein gestohlenes Maschinengewehr gesehen hatte. Er musste zugeben, es war nicht mehr da.
Er suchte mit dem Glase das Feld ab und sah, dass seine Soldaten von allen Seiten nur noch etwa fünfzig Meter von den äußersten Gruppen des Lagers der Muchachos entfernt waren.
Im Hintergrunde war auch die Kavallerie mit dem Einschließen fertig geworden. Die Leute saßen auf ihren
Pferden, den Karabiner auf das rechte Knie gestützt, den Zügel fest in der linken Hand haltend, darauf wartend, dass die überfallenen Rebellen in einigen Sekunden zu laufen anfangen würden. Die Infanterie, einem Hornsignal und mehreren Pfiffen ihrer Offiziere gehorchend, hielt für einen kurzen Augenblick. Die Leute richteten sich aus ihrer gebückten Stellung auf, rissen sich zusammen, nahmen ihre Karabiner mit den kurzen aufgesteckten Bajonetten fester in die Fäuste und setzten zum Laufschritt an. In dieser Stellung blieben sie etwa zehn Sekunden. Dann erfolgte ein neues Hornsignal, Pfiffe von allen Seiten, und die Soldaten stürmten los.
Kaum hatten sie mit dem Laufschritt begonnen, als auch schon, mitten aus dem Lager heraus, ein Maschinengewehr zu rattern begann, das den ganzen Ring rundherum ruhig und bedachtsam abfegte. Es war das Maschinengewehr, das, vor kurzem noch, so müde und verlassen mitten im Lager der Muchachos aufgebaut gewesen war und von dem jetzt nur die paffenden, dünnen Wölkchen, die aus seiner kreisenden Mündung platzten, sichtbar waren.
Die angreifenden Soldaten stockten für zwei Sekunden nur. Dann setzten sie ihren Laufschritt fort, wenn auch nicht mehr so exerziermäßig wie vorher. Hier und da stolperte einer und fiel um, offenbar getroffen, vielleicht auch absichtlich stolpernd, um aus der ersten Linie zurückbleiben zu können.
Denn zehn Sekunden darauf war es auch dem allerdümmsten Soldaten klar geworden, dass der Spaziergang nun zu Ende war und die trübe Aussicht bestand, das frischfröhliche Soldatenleben mit einem Maul voll Erde abschließen zu müssen. Das macht auch dem tapfersten Soldaten keine Freude, um so weniger, als er die Lobreden, die man ihm zum Ruhme herunterprasselt, nicht mehr hört und er sich daran nicht ergötzen kann. Nur die anderen haben ihr Vergnügen daran.
Es blieb der Truppe, selbst wenn sie anders gewollt hätte, nichts weiter übrig, als vorzugehen und das Lager zu nehmen.
Kehrte sie jetzt um, so wurde nur um so wilder auf sie losgefegt, und es kam auf dasselbe heraus. Weit wären die anstürmenden Mannschaften auch sonst nicht gekommen, selbst wenn sie heil geblieben wären; denn weiter draußen stand die Caballeria aufgereiht, die sie nicht durchgelassen, sondern zurück getrieben hätte, gegen das Lager. Der Laufschritt verlor seine schöne Ordnung und ging in ein wildes Drauflosrennen über, um das Lager rascher zu erreichen und das Maschinengewehr zu erwischen, das ernsthaft unangenehm wurde und alle Befehle und Vormarschpläne kalt und mitleidlos zerstörte.
Einige respektvolle Schritte hinter dem Divisionario stehend, befand sich der Stabshornist. Der Divisionario erinnerte sich seiner und gedachte für eine Sekunde lang, ihm zu befehlen, der Kavallerie das Signal zu geben, nicht, wie ursprünglich befohlen, rennende Flüchtlinge gefangen zu nehmen, sondern der Infanterie zu folgen, um das Lager schneller in der Gewalt zu haben. Aber gleichzeitig fiel dem Divisionario ein, dass ein solcher Befehl wahrscheinlich Verwirrung hervorrufen würde; denn er hatte dem Kommandanten der Kavallerieabteilung, Capitan Ampudia, den ausdrücklichen Befehl erteilt, auf keinen Fall in das Gefecht einzugreifen, weil die berittene Truppe unbedingt nötig sei, keine Hasen entspringen zu lassen.
Der Divisionario zog heftig und ohne Genuß an seiner Zigarette. Es kam ihm zum Bewusstsein, dass hier etwas nicht in Ordnung sei. Er fühlte, dass sein Plan fehlging, wenn nicht schon fehlgegangen war.
Aber nicht mit einem einzigen Gedanken vermochte er zu erfassen, was in Wahrheit geschah.
Die anrennenden Infanteristen waren nun dicht am Rande des Lagers.
Und jetzt glaubte der Divisionario, den Plan der Rebellen endlich zu verstehen. Sie wollten offenbar die Angreifer mitten im Lager haben, um sie hier abzuschlachten. Das war der Grund, dass sie scheinbar so ruhig an ihren Feuern hockten. Sie, als Indianer, fühlten sich ihres Sieges sicherer, wenn es Mann gegen Mann ging, wenn sie das Messer und den Machete gebrauchen konnten, anstatt Gewehre, mit denen sie nicht umzugehen verstanden. In diesem Falle konnte nur die Kavallerie jetzt eine Wendung herbeiführen. Er gab dem Hornisten Befehl, der Kavallerie das Signal zur Attacke zu blasen. Die Truppe setzte an und begann loszugaloppieren.
Die vorderen Reihen der Infanterie waren nun im Lager.
Mit seinem Glase sah der Divisionario, wie die Leute tapfer mit dem Bajonett auf die Muchachos einstachen und sie über den Haufen warfen. Merkwürdig aber war es, dass die Muchachos sich nicht wehrten, nicht einmal aufsprangen und wegzulaufen versuchten, wenn die Soldaten dicht auf sie losstürmten.
Die Muchachos fielen um und regten sich nicht. Dann bemerkte der Divisionario ein verwirrendes Durcheinander innerhalb der angreifenden Mannschaften. Sie versuchten, ihre Bajonette aus den Körpern der Erschlagenen zu zerren, und während sie das taten, flogen die Körper dabei hoch in die Luft.
Sie flatterten auseinander. Unter den zerfetzten Decken und abfallenden Hüten wurden trockene Maisstauden sichtbar.
Da es, abgesehen von den zwanzig oder fünfundzwanzig Muchachos, die im Lager herumgelaufen waren, um das Lager belebt erscheinen zu lassen und die Kriegslist vollkommen zu machen, nichts anzugreifen gab, so hielten die angreifenden Soldaten jetzt, ohne einen Befehl abzuwarten, von selbst in ihrem Lauf inne und blieben ratlos stehen.
Einige jener hin und her rennenden Muchachos waren freilich getroffen worden. Diejenigen unter ihnen, die verwundet gestürzt waren und sich nicht aufhelfen konnten, wurden mitleidlos aufgespießt.
Die Mehrzahl der Burschen jedoch erreichte das Loch, aus dem das Maschinengewehr unbekümmert weiterratterte.
Die Offiziere und Sergeanten pfiffen, den Angriff wiederaufzunehmen und den ursprünglich gegebenen Befehlen zu folgen, um auf alle Fälle das Maschinengewehr unschädlich zu machen. jedoch das Feuer dieses Gewehrs fegte so ruhig und schläfrig gleichmäßig über das Gelände, dass, je näher die Soldaten rückten, um so größer ihre Verluste wurden.
Abermals ertönten Pfiffe. Die Soldaten warfen sich auf den Boden, um nun, auf dem Boden voranrutschend, das Maschinengewehr mit weniger Verlusten zu nehmen.
Kaum aber waren die letzten Pfiffe verhallt, und gerade im gleichen Augenblick, in dem die anreitende Kavallerie den äußersten Rand des Lagers erreicht hatte, da begannen, von weit draußen und aus allen Richtungen her, Schüsse auf das Lager loszuprasseln. Zwischendurch ertönte nun auch noch das hackende Klickern einiger Maschinengewehre, ebenfalls von weit draußen, außerhalb des Angriffsringes kommend.
Und nun erfolgte ein wildes, nicht menschlich klingendes Brüllen, Schreien, Heulen. Und von den vier Ecken des Geländes her, sich weit über die Prärie ausstreuend, sausten die Scharen der Muchachos an.
Auf das Lager zu.
Die Soldaten, die vor zehn Minuten noch geglaubt hatten, dass sie das Lager der Rebellen umzingelt hätten, waren jetzt freilich mitten in dem von ihnen eroberten Lager.
Aber sie waren die Umzingelten.

 

7

Der Divisionario wandte sich um nach seinem Stabshornisten. Er gedachte, ihm den Befehl zu geben, den Rückmarsch für die ganze Truppe zu blasen und es der Truppe selbst zu überlassen, wie sie sich aus der Umklammerung herausschäle. Von dem Hügel aus, auf dem er stand, vermochte er mehrere Lücken zu erspähen, wo es den Soldaten gelingen konnte, mit nicht zu hohen Verlusten zu entkommen.
Aber er wusste nicht, wie und auf welche Weise er seine Kenntnisse den Offizieren anders mitteilen konnte als durch einfachen Rückmarschbefehl. Als er sich nun völlig umgewandt hatte und keinen Hornisten sah, auch nicht seinen Adjutanten, wandte er sich zur Linken, und dort standen zwei der verlumpten Muchachos und grinsten ihm frech ins Gesicht.
Der Divisionario griff rasch nach seinem Revolver und fand, dass das Halfter leer war. Der eine Muchacho hielt den Revolver hoch und sagte: »Ist es der vielleicht, den Sie suchen, Divisionario?«
Der Divisionario erblasste leicht. Er fasste sich jedoch sofort, langte nach dem Revolver und riss ihn an sich.
»Sie können ihn für einige Minuten ruhig wiederhaben«, lachte der Muchacho, der den Revolver in der Hand gehabt hatte, »geladen ist er nicht, und Unfug können Sie damit nicht anstiften.«
Der Divisionario griff hastig nach seinem Patronengürtel. Aber auch der Gürtel war weg; durchgeschnitten und abgenommen.
Das erboste ihn, und er schrie: »Was wollt ihr lausigen Schweine hier? Gehört wohl auch zu den Rebellen?«
»Ja«, erwiderte der eine mit lautem Lachen, »wir gehören schon ein wenig zu den Rebellen. Ich bin nur General. Nichts weiter. Und der hier«, er deutete mit dem Daumen auf seinen Begleiter, der ebenfalls lachte, »der hier ist einer meiner Capitanes.«
Der Divisionario wandte sich suchend um nach allen Seiten und rief dann mit überlauter Stimme, wie er es auf dem Exerzierplatze gewöhnt war, wenn ihn etwas heftig geärgert hatte: »Wo ist denn mein Ayudante und mein Corneta?«
»Abgereist mit unserer Hilfe«, sagte General trocken.
»Abgereist wohin?« fragte der Divisionario kurz. »Wir hatten keine Zeit, sie lange zu fragen«, erwiderte der Capitan. Es war Santiago.
»Macht, dass ihr fortkommt, ihr verfluchten und verlausten Drecksäue, ich werde dafür sorgen, dass ihr beide füsiliert werdet, noch lange, ehe wir in Balun Canan zurück sein werden.« Der Divisionario wurde blaurot im Gesicht.
»Sicher«, sagte General grinsend, ohne sich um die Wut und das Brüllen des Divisionarios auch nur im geringsten zu kümmern. »Sie können uns alle miteinander füsilieren lassen, wenn Sie nach Balun Canan kommen. Vorläufig haben wir erst mal Sie am Wickel, und ob Sie überhaupt je nach Balun Canan kommen werden, das hängt davon ab, wer Sie mitnimmt. Sehen Sie einmal da rüber. Da drüben wartet niemand auf Sie, um Sie mitzunehmen.«

 

8

Von dem Augenblick an, wo der Divisionario begriffen hatte, dass er in der Gewalt der Muchachos war, wusste er, dass es für ihn keine Hoffnung gab. Sollte es selbst durch ein Wunder geschehen, dass seine Truppe ihn vielleicht hier erreichen und heraushauen könnte, sie würde ihn nicht lebend finden.
Die Diktatur hatte kein Erbarmen und keine Gnade gekannt, mit keinem, der sich ihr widersetzte. Und niemand, der El Caudillo in irgendeiner Weise oder in irgendeinem Amte je gedient hatte, durfte auf Gnade oder Erbarmen hoffen, wo immer Rebellen Sieger waren.
Aber er würde sich tausend Jahre nach seinem Tode noch geschämt haben, hätte er gegenüber verlausten Peones Furcht gezeigt. Diese betonte Furchtlosigkeit hatte ihre Ursachen freilich nicht in persönlicher Tapferkeit. Seine Tapferkeit war nie auf die Probe gestellt worden. Wer auf Seiten der Macht ist, braucht nicht tapfer zu sein.
Was ihm in dieser völlig verlorenen Lage noch einen gewissen Mut gab, war lediglich die Kenntnis, dass an seinem Schicksal nichts geändert wurde, ganz gleich, ob er sich fürchtete oder ob er sich tapfergebärdete; ganz gleich, ob er um Gnade bettelte und all sein Geld versprach oder ob er den Sieger anbrüllte und ihn durch Beleidigungen zur höchsten Wut brachte. Selbst wenn er seine Dienste und Erfahrungen den Rebellen angeboten haben würde, was in seinem Falle wohl unwahrscheinlich gewesen wäre, sie wären nicht angenommen worden, und an seinem Schicksal hätte ein solches Angebot nichts geändert. Und darum, weil es für ihn so gar keine Hoffnung gab, seine Lage zu ändern, konnte er es sich gut leisten, den Rebellen, in deren Hände er gefallen war, mit Würde zu begegnen.
Er nahm sich einige Sekunden Zeit, hinüber auf das Lager zu blicken, wo sich nicht nur sein Schicksal, sondern auch das seiner Truppe, und in vieler Hinsicht sogar das des ganzen Staates, bereits entschieden hatte. Die Soldaten, die noch zu laufen vermochten, hatten alle ihre Waffen abgeworfen, um rascher fliehen zu können. Aber wohin sie auch rannten, liefen sie den Muchachos in die Messer.
Die Maschinengewehre der Muchachos knatterten nicht mehr auf die fliehende Infanterie los, sondern nur noch auf die verstörte Caballeria, die nicht Zeit gehabt hatte, ihre Attacke schwungvoll auszureiten.
Die Leute, die der Maschinengewehrabteilung zugehörten, ließen die Mules im Stich, weil sie sich durch die belasteten Tiere an ihrer Flucht gehindert fanden. Sie überließen es den Tieren, ihnen freiwillig zu folgen. Mehrere Infanteristen erreichten die Tragtiere, die wild hin und her rannten, schnitten ihnen rasch die Last ab und schwangen sich auf den Rücken der Tiere, um keine Möglichkeit ungenützt vorübergehen zu lassen, lebend zu entkommen.
»Santiago«, rief General zu seinem Capitan, »schleife unsern Gast, den so schön uniformierten Divisionario, rüber ins neue Lager. Weißt schon wo. Ich habe mit ihm noch zu reden. Später. Ich muss nun wieder da reinwischen. Die verbrennen mir zuviel Munition. Hat jetzt keinen Wert mehr. Müssen wir sparen.«
Dabei war er den Hügel hinuntergerannt, hatte sich auf das Pferd geworfen, das er dort zurückgelassen hatte, um dem Divisionario einen Respektsbesuch zu machen, und fegte hinüber auf das Schlachtfeld.
In dem Loch, wo das Maschinengewehr nun zu stocken begonnen hatte, weil der Lauf überhitzt war, fand er Coronel und dessen Mannschaften.
»Gut, dass das Ding von selber aufgehört hat«, rief er vom Pferde herab. »Lass die paar auf ihren Ziegen ruhig absausen. Ich brauche sie als Briefträger, damit sie zum Hauptlager die
Nachricht bringen. Ich möchte so herzlich gern den Rest der Brigade hier haben, damit wir den Weg nach Balun Canan freibekommen.«
Coronel, der, um sich besser bewegen zu können, sein Hemd runtergezogen hatte, begann es nun zu suchen. Es war von den nackten Füssen seiner Mannschaft in den nassen Dreck eingestampft, der sich im Loch, in dem das Maschinengewehr versenkt war, gebildet hatte. »Gib dein schittiges Hemd her«, rief er einen Muchacho an, der am Loch vorüberkam. Ohne lange zu warten, riss er es dem Muchacho über den Kopf weg, griff einen Stecken auf, spießte das Hemd oben auf und wehte es hin und her.
Gleich darauf erstarb in allen Ecken und Winkeln des Geländes das Knattern der Karabiner. Die Muchachos, die noch hinter fliehenden Soldaten her waren, sandten ihnen ein paar Schüsse nach und ließen sie, falls sie nicht fielen, heimrennen.
General galoppierte auf seinen Hornisten zu und befahl ihm, das Signal >Sammeln!< zu blasen.

 

9

Wohl hundert der Muchachos, die jetzt auf das Lager zukamen, trugen auch nicht das geringste Kleidungsstück am Leibe. Lediglich die Patronengürtel hingen über den nackten Schultern. An Riemen, die um die nackten Hüften geknotet waren, steckten ihre Messer oder Machetes.
Sie suchten das Lager ab nach ihren Hosen, Hemden, Hüten und Sandalen, die sie während der Nacht den Puppen aus Maisstroh angezogen hatten, wie ihnen General befohlen hatte.
Als sie ihre Lumpen beisammenhatten und das, was ihnen an Kleidung sonst fehlen sollte, den gefallenen und verwundeten Soldaten abgezogen hatten, wurde das Schlachtfeld aufgeräumt. Kein Verwundeter und kein Gefangener erlebte den Mittag. Den Divisionario hoben sie sich bis zum Abend auf, weil General sich mit ihm zu unterhalten gedachte.
Die Beute an Waffen war so reichlich, dass jetzt nicht nur alle Muchachos bewaffnet waren, sondern auch die Frauen und halbwüchsigen Jungen entweder Revolver oder Karabiner bekommen konnten und immer noch ein Überschuss an Waffen zu verzeichnen war.

 

10

Profesor riet, alle überflüssigen Waffen im Busch einzugraben und dort aufzubewahren für den Fall, dass sie in einem nächsten Gefecht vielleicht Waffen verlieren würden.
»Eingegrabene Waffen sind wertlos«, sagte darauf General. »Außerdem können die Finqueros sie finden, oder die Rurales, oder die Federales, oder was weiß ich sonst, wer noch alles gegen uns sein mag und diese Waffen gegen uns gebrauchen könnte. Ich habe anderen Gebrauch dafür. Wir greifen uns jetzt in allen den nächsten Fincas, die wir besuchen, und in den Dörfern und Städten, die wir einnehmen, kräftige Burschen, die wir bei uns einreihen, und die Waffen nützen uns dann besser, als wenn wir sie vergraben hier zurücklassen.«
»Ganz gut«, meinte darauf Profesor, »gut gedacht. Es fragt sich nur, ob die Burschen uns nicht weglaufen werden oder verraten und die Waffen obendrein noch mitnehmen.«
»Nur keine Sorge, Profesor, wenn wir erst einmal etwas weiter sind, werden Tausende von Burschen und Männern froh sein, dass sie überhaupt bei uns eingereiht werden. Sie werden kommen und noch darum betteln, mitmarschieren zu dürfen. Und einmal mit marschiert, wird allen das Ende der Revolution zu früh kommen, und Hunderte werden auf eigene Rechnung weiter Rebellion machen. Es ist viel leichter für uns, neue Soldaten und gute Soldaten zu bekommen, als sie dann wieder loszuwerden, wenn sie nicht mehr gebraucht werden und wir in Frieden leben wollen.«
»Dafür sorgen wir frühzeitig genug, dass sie alle gern wieder nach Hause gehen«, mischte sich Andres ein. »Sie marschieren mit uns und kämpfen mit uns, bis sie sicher sind, dass ihnen das Land, das wir ihnen gaben oder das sie sich erkämpften, nicht mehr von den Finqueros genommen werden kann.
Dann gehen sie von selber heim. Wen sollen sie denn bekämpfen, wenn niemand mehr da ist, der bekämpft werden kann oder den zu bekämpfen es sich lohnt? Darum denke ich, General hat recht, jetzt brauchen wir erst einmal eine Menge Soldaten, und wenn sie nicht freiwillig kommen, dann holen wir sie uns. Wie wir sie dann später loswerden sollen, darüber können wir beraten, wenn wir im Lande regieren.
Denkt ihr nicht, dass ich selbst auch genügend Gründe hätte, schon jetzt heimzuwandern? Genug Gründe, das kann ich euch sagen. Und die meisten werden auch lieber nach Hause gehen wollen, als hier weiter im Dreck herumzuwaten und Soldaten abzuschlachten. Aber ihr wisst es so gut wie ich, wenn wir jetzt heimgehen wollten, wo die Revolution nur gerade angefangen hat, dann sind wir in einem halben Jahre oder früher schon in demselben Elend oder schlimmer noch als vorher, und ob es ein zweites Mal glückt, eine Rebellion in Gang zu bringen, das kann sehr lange dauern.«
»Je häufiger wir uns das sagen, Andresillo, um so besser für alle.« Profesor stöhnte, als er das sagte.
Er hatte zwei Schüsse im Schulterblatt und Fidel bearbeitete die Wunde mit einem Messer, um die eine Kugel, die noch in der Schulter steckte, herauszufischen. Die andere Kugel war hindurchgegangen.
»Um so besser für uns alle und das ganze arbeitende Volk, wiederhole ich. Nur nicht zu früh aufhören und etwa auf das Gesäusel derer hören, die von Frieden unter Brüdern und von Verbrechen am Volke reden. Hohle, leere Worte. Es gibt nur dann Frieden unter den Brüdern und aller Bruderkampf hört nur dann auf, wenn das Gleichgewicht im Lande hergestellt ist und Gerechtigkeit kostenlos zuhaben ist, und ein jeder sagen darf, was er auf dem Herzen hat, ob es den andern gefällt oder nicht. Eine Revolution zu früh abgebrochen ist schlimmer als gar keine. Und darum hast auch du recht, General. Holen wir uns die Soldaten, wo wir sie kriegen können. Wenn wir sie uns nicht holen, dann holen sie sich die Krippenfresser.«

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