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B. Traven - Ein General kommt aus dem Dschungel (1940)
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ZWÖLFTES KAPITEL

1

Niemand, weder Soldat noch Offizier, wusste mit Bestimmtheit zu sagen, ob er nur gerade fünfzehn Minuten geschlafen habe oder vier Stunden. Niemand wusste genau anzugeben, ob es ein Uhr morgens sei oder vier Uhr. Jedoch es war kalt und windig, und daraus schloss ein jeder, der das Land kannte, dass es näher gegen vier Uhr sein müsste als gegen ein Uhr. Und merkwürdigerweise dachte niemand, nicht einmal einer der Offiziere daran, einfach nach seiner Uhr zu sehen, um zu wissen, welche Zeit es sei. Jeder fürchtete, ein Zündholz aufleuchten zu lassen oder eine elektrische Taschenlampe anzuknipsen.
Denn ein jeder fühlte, dass, würde er auch nur durch ein Fünkchen seine Stellung verraten, es ihn das Leben kosten könnte. Die Aufmerksamkeit eines jeden war von anderen Dingen so gefesselt, dass es lächerlich erschienen wäre, zu wissen, welche Stunde in der Nacht es sei. Denn wenn es nicht lichter Morgen sein konnte innerhalb der nächsten zwanzig Sekunden, so war es schon völlig gleich, ob es ein Uhr nachts war oder vier Uhr morgens.
Das Seltsame geschah. Alles, was im Rancho lagerte, wachte auf. Alle beinahe zur selben Sekunde, alle wie von einer Stimme gerufen, die sie nicht gehört hatten, jedoch glaubten, gehört zu haben. Das erste bestimmte Geräusch, das alle hörten, war ein plötzliches Bellen der Hunde, das sich verstärkte.
Die Hunde, wie gewöhnlich, bellten die ganze Nacht hindurch und ohne Unterlass. Sie bellten der zahlreichen Pferde und Mules wegen, die herumhoppelten; sie bellten der großen Zahl schlafender Soldaten wegen, und sie bellten sich gegenseitig an, die Hunde des Ranchos und die der Peones auf der einen Seite, und die Hunde, die der Truppe nachliefen und von der Truppe geduldet wurden, auf der andern.
Darum achtete niemand auf das Bellen der Hunde. Nur als das Bellen heftiger wurde und sich auf einen bestimmten starken, wütenden Ton sammelte, wusste ein jeder im Rancho, dass hier etwas vorging, was ungewöhnlich sein musste.
Ein jeder aber, Mann und Offizier, blieb auf seinem Lager, richtete sich nur verschlafen auf und bemerkte in der tiefschwarzen Nacht, dass eine Menge von Pferden in den Patio gebrochen waren und hier scheu und unruhig herumstampften. Dazwischen bemerkten die verschlafenen Leute die Schatten von Gestalten, die hin und her rannten, offenbar die Pferde zusammenjagend und aus dem Patio treibend.
Die Gestalten kamen dicht zu den Schlafenden, stolperten über sie hin, fielen auf sie, erhoben sich mit einem kurzen Fluch und strauchelten wieder weiter, die Pferde zusammentreibend.
Die Pferde, die im Patio herumwirtschafteten und die Schläfer störten, hatten die Koppeln an den Vorderbeinen verloren. Das war die Ursache, dass sie bis hierher in den Patio gekommen waren, entweder aus Furcht vor einem hungrigen Jaguar, der auf der Weide herumschlich, oder herangelockt von dem Mais, der hier in Säcken aufgeschichtet war und zum Füttern der Pferde am Morgen diente.
Hier und da hörte man Schimpfen und Fluchen der Mannschaften, die aus dem Schlaf aufgescheucht und von einem Kameraden, der den Patio verließ und außerhalb der Umzäunung private Geschäfte erledigen musste, getreten worden waren, weil der schweren Finsternis wegen ja niemand sehen konnte, wohin er trat.
In weniger als fünf Minuten erstarben die merkwürdigen Geräusche, das Schimpfen und Fluchender Leute, das unruhige Herumstampfen   der   Pferde,   ebenso   plötzlich,   wie   sie aufgetaucht waren. Die Hunde änderten den Ton ihres Bellens wieder und bellten nur ihre gewöhnlichen Nachtgespräche. Einige der Leute, die aufgestanden waren, ohne sich aber von ihrem Platze zu begeben, ließen sich, immer noch halb im Schlafe, wieder fallen und schliefen weiter, froh darüber, dass sie noch nicht aufgeschüttelt waren und dass sicher noch einige schöne Stunden fehlten, ehe El Corneta zu trompeten begann.
In zehn Minuten schnarchte das ganze Lager, tiefer und wohliger als vorher.

 

2

Als die Hornsignale über den Rancho blecherten, jeder sich zu recken begann, jeder so weit gähnte, dass er sich selbst zu verschlingen drohte, dann jeder sich Kopf, Rücken, Brust und Beine kratzte, als fühle er eine Lage Haut zuviel an seinem Leibe, waren die ersten Worte, die jeder, Mann oder Offizier, zu seinem Nachbarn sagte: »Verflucht, habe ich das in der Nacht geträumt, oder war hier wirklich für eine Weile die Hölle los!« Worauf der Nachbar erwiderte: »Also dann habe ich das nicht geträumt, wenn du das auch gehört hast. Da müssen ein halbes Hundert Jaguare auf der Prärie gewesen sein, die alle Pferde hier hereinjagten und mir auf dem Bauche rumtrappelten.« Und der Divisionario sagte zum Capitan, der auf der benachbarten Pritsche saß, gähnte und sich kratzte: »Dem Sergeanten von der Kavallerie werde ich eine hinter die Ohren wischen, dass er die Gäule nicht besser bewachen lässt. He, gottverflucht noch mal, wo habe ich denn meine Kanone hingelegt? So besoffen war ich doch nicht, dass ich nicht mehr weiß, wo ich den Gürtel mit meiner Kanone hingefeuert habe. Ich weiß genau, ich habe den Gürtel hier über die Kante gehängt, dicht zur Hand.« Der Divisionario suchte nach rechts, suchte nach links, suchte unter der Pritsche, suchte an den Holzpflöcken, in der Lehmwand, tastete sich am Bauche rundherum ab und sagte dann mit erstauntem Gesicht: »Ja, gottverflucht noch mal, wo zu tausend Teufeln habe ich denn meine Artillerie nur hingeschmissen letzte Nacht? Sagen Sie, Capitan, war ich denn wirklich so besoffen, dass ich nicht mehr wusste, was ich mache?«
»Sicher nicht, mi general. Ich hatte den Eindruck, dass Sie nüchtern waren wie ein Pfaffe vor der ersten Frühmesse.«
»Ob ein Pfaffe immer nüchtern ist vor der Frühmesse, das will ich ja noch bezweifeln«, antwortete der Divisionario aufstehend und an seinen Beinen heruntersehend, in der Hoffnung, zu finden, dass seine Kanone ihm zwischen den Beinen baumele.
»Aber Pfaffe oder nicht Pfaffe in der Frühmesse, meine Pistole ist weg, das eine weiß ich bestimmt.«
»Vielleicht hat der Bursche sie sich geholt, um sie zu putzen«, sagte ein Leutnant.
»Er scheint gleich alle Revolver zum Putzen mit hinausgenommen zu haben«, meinte ein anderer der Offiziere, der ebenfalls seit einigen Minuten mit der flackernden Kerze unter der Matte, in seinen Stiefeln, unter seinem Haufen Kleider nach seiner Pistole gesucht hatte.
Draußen vor dem Hause, in dem weiten Patio, ging das übliche Gewimmel der Mannschaft nach dem Wecken vor sich. Es war immer noch stockfinstere Nacht, jedoch an mehreren Stellen im Patio brannten nun kleine Feuerchen, die den Hof erleuchten sollten.
»Du, Claudio!« hörte man einen Mann laut aus dem Gewimmel heraus rufen: »Hast du denn nicht meinen gottverdammten Karabiner gesehen? Weiß der Teufel, wo er hingekommen ist.«
»Frage mich nicht, du Esel, seit einer halben Stunde mache ich nichts anderes, als nach meiner Schießbüchse zu suchen. Auch das Bajonett ist, ich weiß nicht wo.«
Ein Sergeant schrie ärgerlich über die Leute hin: »Wer von euch Rotzlumpen hat denn die Gewehrpyramiden umgeschmissen. Nicht ein einziger Knüppel ist zu sehen.«
Das Gewimmel der Leute wurde dicker und unruhiger.
Gleich darauf hörte man von allen Ecken und Winkeln des Patio immer nur dieselbe ärgerliche und wütende Frage: »Welcher gemeine Hurenhund hat denn meinen Karabiner verstellt?« Dann wieder:
»Wo ist denn mein Schießknüppel, verflucht noch mal?« Aus einer anderen Ecke: »Das kann ich dem verdammten Cabron aber schwören, wenn ich den erwische, der mir meine Flinte versteckt hat, ich schlage ihm alle seine Zähne aus dem Rachen; zur Hölle mit der ganzen Bande, wo ist denn das gottverfluchte Gewehr nur hingekommen? Die ganze Nacht lag es dicht an meiner Seite wie eine dürre Braut, und nun ist es verschwunden.«
Der Hornist blies zum Antreten und zur Morgenparade. Der Tag begann zu grauen. Als abgezählt wurde, stellte es sich heraus, dass hundertdreißig Karabiner fehlten, acht Offiziersrevolver, zwei Maschinengewehre, vier Kisten Maschinengewehrmunition, alle Tragsättel der Maschinengewehrabteilung, hundertfünfzig gefüllte Patronengürtel und eine unbestimmte Zahl von Bajonetten, Messern, kleinen Feldbeilen, und ungefähr zwanzig Säcke voll Mais. Als die Kavallerie dann zur Parade anzureiten begann, rutschten die Soldaten nach und nach von den Rücken der Pferde, und die Pferde, scheu gemacht, rannten wild davon. Es fand sich, dass alle Sattelriemen zu dreiviertel durchgeschnitten waren und durchreißen mussten, sobald das Pferd zu galoppieren anfing oder unruhige Sprünge versuchte.
»Ihr seid mir auch eine verlauste Bande von Soldaten!« schrie der Divisionario. »Ist so etwas je vorgekommen in einer Armee? Lassen sich ihre Schießknüppel unterm Ursch wegziehen. Drei Monate lasse ich euch strafexerzieren, dass euch die grüne Suppe aus allen Nähten spritzen soll. Und jeder, dem seine Spritze fehlt, kriegt zehn Tage aufgebrannt. Ich werde euch lehren, was eure Waffen wert sind, schäbiges Gesindel. jeder, der kein Gewehr hat, schneidet sich einen Knüppel ab, und mit Knüppeln geht es jetzt los gegen die verdreckten Schweine, die euch die Waffen unterm Hintern weggestohlen haben. Oder, verflucht noch mal, ich lasse die ganze Bande hier füsilieren. Abtreten zum Frühstück!«

 

3

»Und Sie, Caballeros«, sagte der Divisionario, während sich die Offiziere zum Frühstück niedersetzten, »Ich bemerke auch, Sie haben keine Revolver. Was haben Sie denn zu Ihrer Entschuldigung zu antworten?«
Die Offiziere, die wohl wussten, dass nicht nur ihnen, sondern auch ihrem kommandierenden General der Revolver spurlos abhanden gekommen war, sagten zuerst nichts. Sie versuchten lediglich, ihren General mit einem vertraulichen Zwinkern anzulächeln. Der Divisionario jedoch erwiderte mit einer ernsten Grimasse, die jede weitere Vertraulichkeit ausschloss.
Ein Leutnant, der rasch jene ernste und unnahbare Grimasse verstanden zu haben schien, blickte auf die rechte Hüfte des Divisionarios und gab seinen Kameraden mit einem zugekniffenen Auge einen Wink, der Richtung seines Blickes zu folgen.
Auf der rechten Hüfte des Divisionarios baumelte ein vorschriftsmäßiger 45er Armeerevolver. Sie alle waren der Meinung, dass der Divisionario bisher keinen Armeerevolver, sondern einen vorschriftsmäßigen Automatic geführt hatte. Aber jeder von ihnen glaubte, dass er sich getäuscht haben könnte und dass der Divisionario für diesen Marsch gegen die Rebellen seinen Automatic gegen einen Revolver ausgetauscht hätte, ohne dass es einem bis jetzt aufgefallen wäre.
Der Divisionario freilich hatte es leicht, ein gewaltiges Wort zu führen gegen jeden, dem seine Waffe in der Nacht gestohlen worden war. Gleich nachdem er für einige Sekunden herumgesucht hatte und seinen Automatic nicht finden konnte und sich des merkwürdigen Getümmels der Nacht erinnerte, kam ihm eine leise Idee dessen, was geschehen sein mochte. Ohne länger zu suchen, lief er hastig aus dem Raum und ging zu der Tür des zweiten Raumes im Hause, indem der Ranchero mit seiner Familie schlief. Am Abend vorher hatte er bemerkt, dass der Ranchero einen beinahe neuen schweren 45er Revolver besaß. Und mit einer Summe, sofort bezahlt in bar, für die sich der Ranchero zwei Revolver kaufen konnte und noch genug übrigbehielt, um sich auch noch mehrere Schachteln Munition hinzuzukaufen, erwarb sich der Divisionario diesen Revolver mit der Bedingung, dass der Ranchero sein Ehrenwort zu geben hatte, nichts von diesem Handel zu verraten.
»Ich frage noch einmal, meine Herren, was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung zu sagen?« Der Divisionario wiederholte seine Frage mit dem ganzen Ingrimm, den er empfand, dass ihm die Rebellen einen solchen Streich spielen konnten. Was seinen Ingrimm aber zum höchsten Zorn entfachte, war nicht der Raub der Waffen an sich, sondern dass diese dreckigen und verlausten Muchachos es gewagt hatten, sich in dieser Weise an ihm und den regulären Federal-Truppen, dem Stolz der Nation, zu vergreifen, dass sie so wenig Respekt vor den Flaggen gezeigt hatten, die im Patio aufgepflanzt waren, und dass sie diese Flaggen in kleine Fetzen zerschneiden und mit gewöhnlichem frischem Schitt beschmieren konnten.
Der nächst älteste Offizier stand auf, salutierte und sagte: »Mit Ihrer Erlaubnis, mi general, im Namen meiner Kameraden habe ich die Erklärung abzugeben: Wir haben nichts zu unserer Entschuldigung zu sagen und stehen zu Ihren Befehlen!«
Der Divisionario sah seinen jüngsten Leutnant scharf und vernichtend an: »Sie, Leutnant Manero, haben doch Lagerdienst. Richtig?«
»Si, mi general, ich habe Lagerdienst.«
»Wir werden uns sprechen, Teniente Manero, später.«
»Au sus ordenes, mi general!«
Der Divisionario nickte vor sich hin.
In diesem Augenblick brachten die Mädchen auf Tellern aufgeschnittene Papayas zum Tisch, als Frühstücksfrucht.
Der Divisionario, der zuerst bedient worden war, blickte auf den Teller mit leeren Augen, als sähe er ihn nicht. Er nickte nochmals. Dann griff er mechanisch nach dem Messer und der Gabel, schnitt sich ein Stück der saftigen Frucht ab und schob es in den Mund, den er ungewöhnlich weit öffnete, als wolle er ein Stück einschieben, das dreimal größer sei.
Während er die Frucht zwischen Gaumen und gewölbter Zunge leicht zerdrückte, um ihren Geschmack voll auszukosten, nickte er abermals vor sich hin. Als er den Teller geleert hatte und einige Minuten warten musste, ehe die Eier hereingebracht wurden, sagte er, alle Offiziere der Reihe nach ansehend:
»Nach uralten militärischen Regeln und Grundsätzen, die freilich nie in den Regulationen aufgenommen wurden, habe ich nun eigentlich die Verpflichtung, einen ehrenvollen Abschied von dieser Erde zu nehmen durch einen guten Schuss in meinen oberen Kasten.«
Ein lauter Protest der Offiziere erfolgte, wie es ja auch deren Pflicht war gegenüber einem Vorgesetzten.
»Wir sind nicht im Kriege, mi jefe.«
»Das ist ja alter blöder Unsinn.«
»Wir sind moderne Soldaten, mi general.«
»Das ist alter vermoderter Aberglaube.«
Leutnant Manero zeichnete sich besonders aus durch ein lautes und energisches: »Ach, mi general, ich allein habe alle Schuld. Ich habe Lagerdienst. Ich habe in meiner Pflicht gefehlt. Ich bin es, der Abschied zu nehmen hat. Ich bitte um die Erlaubnis, mich in Ehren verabschieden zu dürfen.«
Was für ein Mann! Welch eine Größe als Offizier! Er würde in der Geschichte des Bataillons für ewig fortleben als der Offizier, der den Tod der verlorenen Ehre vorgezogen hatte. Das war das Material, aus dem die Offiziere der glorreichen Armee geformt wurden.
Solange ein solcher Geist unter den Offizieren bestand, so lange bestand auch nicht die geringste Gefahr, dass die Nation vielleicht gar ausgelöscht werden könnte. Ohne Arbeiter und ähnliches Gesindel, das ewig vom Hungern faselte, ewig streiken wollte, ewig an der Regierung zu nörgeln wusste, konnte eine Nation recht wohl bestehen und die gebührende Achtung vor allen zivilisierten Nationen der Erde beanspruchen; aber ohne solche Offiziere, wie Leutnant Manero einer war, konnte keine Nation auch nur einen Tag lang leben.
Das wurde sofort und richtig von allen anwesenden Offizieren begriffen, die in ein dreimaliges »Viva, Manero!« ausbrachen, während sich alle, mit Ausnahme des Divisionario, erhoben.
Der Divisionario unterbrach das Geheul der von Ehre übertriefenden Feuertänzer mit einem kurzen harten: »Leutnant Manero, für einen solchen kindischen Unfug gebe ich Ihnen meine Erlaubnis nicht. Verstanden? Was sogar mehr ist, ich verbiete Ihnen hiermit als Ihr höchster Vorgesetzter, die Waffe gegen sich selbst zu richten. Die Truppe ist im Felde. Selbstmord im Felde kommt gleich einer Desertion vor dem Feinde. Verstanden, Leutnant Manero!«
»A sus ordenes, mi general!« Der Leutnant war aufgestanden und salutierte seinem General.
Es war eine höchst ehrenhafte, zweifelsfreie und gut militärische Rettung der Lage. An Logik ließ diese Art von Rettung nichts zu wünschen übrig hinsichtlich ihrer Unangreifbarkeit. Der Divisionario konnte keine Befehle geben, die er selbst zu befolgen nicht willens war. Ein Befehl von ihm gegeben galt für die gesamte Truppe. Er war ein Teil dieser Truppe. Selbstmord im Felde war schamlose und ehrlose Desertion. Weniger als sonst jemand konnte sich der kommandierende General einer Truppe der Desertion schuldig machen. Karabiner konnten ersetzt werden. Ein General nicht. Auch das war zu bedenken. So blieb nichts anderes übrig, als das Frühstück mit dem üblichen Genuß zu beenden, ohne die
Verdauung durch Selbstmordgedanken nachteilig zu beeinflussen.

 

4

Als das Frühstück in allen seinen Teilen vorüber war und auch die Zahnstocher aufgebraucht waren, gab es keine Entschuldigung mehr, noch länger hier am Tische sitzen zu bleiben.
Der Divisionario rief einige Soldaten herbei, die rohen steifen Stühle, auf denen die Offiziere gesessen hatten, in den Portico zu bringen, wohin er alle Offiziere und die ersten Sergeanten zu einem Kriegsrat befahl.
»Sergeant Morones, wie viel Gewehre bleiben uns?« fragte er den Obersergeanten, den er beauftragt hatte, alle verbleibenden verfügbaren Waffen und Munitionen zu zählen.
Es war nach Meinung des Divisionarios reichlich genug, den geplanten Vormarsch nicht aufzugeben.
Die Muchachos, auch wenn sie dreimal mehr Waffen besitzen sollten als die Federales, verstanden mit den Waffen so wenig umzugehen, dass, wie alle Offiziere übereinstimmend glaubten, jeder bewaffnete Soldat zwanzig bewaffnete Rebeldes wert war. Die Indianer hielten, wie er wohl wusste und wie alle übrigen Offiziere ebenfalls wussten, den Kolben gegen den Feind statt gegen ihre eigene Schulter. Diejenigen der Aufwiegler, die aber die Mündung in die Richtung gegen den Feind zu halten verstanden, quetschten den Kolben zwischen ihre Knie oder vor den Bauch, oder stellten ihn glatt auf den Boden und hockten sich beim Schießen daneben hin, in der Hoffnung, dass die Kugeln genau dahingehen würden, wohin der Indianer wünscht, dass sie gehen sollen. Mit Steinen, Lanzen oder Pfeilen würde der verdreckte Indianer ja richtiger umzugehen wissen, aber moderne Schusswaffen schießen ganz von selbst auf das Ziel, das man treffen will. Das war völlig klar, und jedem Offizier und Sergeanten war es auch noch persönlich aus den zahlreichen Kämpfen gegen Streikende, Aufständische und rebellische indianische Bauern bekannt. Hier war das nicht anders, um so weniger, als der Bursche, der sich von den Rebellen General nennen ließ, sich benahm und bewegte, als wäre er ein alter Waschlumpen.
Dafür hatte der Divisionario den Bericht eines zuverlässigen Augenzeugen, des Leutnants Bailleres.
Die Zahl der Rebellen war auch bekannt. Nach allen Erkundigungen und genau berechnet, wie viele gefallen und hingerichtet waren, konnte ihre Zahl jetzt nicht viel mehr sein als nur noch höchstens hundert oder hundertzwanzig Mann, von denen eine gute Anzahl verwundet sein musste und eine gleich große Zahl völlig unfähig, eine Waffe zu gebrauchen und regulären Soldaten gefährlich zu werden.
Durch diesen Angriff erhielten aber auch die Soldaten ihre gestohlenen Waffen wieder; sie gewannen außerdem die Waffen, die früher gestohlen oder sonst wie in die Hände der Rebellen gelangt waren, und die Truppe konnte daraufhin mit vollen Ehren in die Garnison heim marschieren.
Allem, was der Divisionario in diesem Offiziersrat vorschlug, wurde ohne Widerspruch zugestimmt, weil es militärisch richtig und, vom Standpunkt der Ehre aus betrachtet, unvermeidlich war. »Zuerst stets die Ehre, Caballeros!« wiederholte der Divisionario bei jeder Gelegenheit, wenn er sonst nicht wusste, was zu sagen, was zu befehlen und was zur Diskussion vorzuschlagen.
Obersergeant Morones, der diesem Offiziersrat mit den übrigen ersten Sergeanten beiwohnte, war infolge seiner langen Dienstzeit und seiner Erfahrung bei dem Divisionario sehr beliebt. Der Kommandierende betrachtete den Sergeanten gleich einem Offizier, und er hatte bereits vor längerer Zeit beim Kriegsministerium die Eingabe gemacht, den Sergeanten Morones zum Unterleutnant zu ernennen und damit in das Offizierskorps einzureiben. Diese Eingabe würde bestimmt bewilligt.
Morones durfte sich in allen Dingen viel mehr Freiheiten erlauben als die jüngeren Offiziere, die gerade von der Akademie gekommen waren und in jeder Hinsicht als grün galten, mit Fetzen ihrer Windeln noch am Hintern klebend.
Es war nun Sergeant Morones, der sagte: »Wenn Sie mir gestatten wollen, mi general!«
»Reden Sie, Sergeant Morones, dazu sind wir hier, um zu reden und Vorschläge zu machen. Freilich, viel ist hier nicht zu beraten. Wir ziehen los und verknüppeln dieses nichtswürdige respektlose Gesindel ein für allemal. Dass wir überhaupt hier beraten, ist nur, weil uns Waffen fehlen und die Munition nicht allzu reichlich ist. Also, was haben Sie, Morones?«
»Ich denke, mi general, dass hier in der ganzen Sache etwas nicht in Ordnung ist, wenn ich so sprechen darf, mi general.«
»Was denn? Was meinen Sie, Sergeant Morones?« Der Divisionario fragte merkwürdig kurz und hart.
Er fürchtete, Sergeant Morones möchte gar Kritik an den genialen Vorschlägen des Kommandierenden üben, oder was schlimmer war, er hätte gar einen Fehler in den Plänen entdeckt. Aber er war sich auch bewusst, dass der Sergeant gut erzogen war, insbesondere als Soldat, und sehr geschickt vermeiden würde, Fehler in den Plänen eines hohen Vorgesetzten zu entdecken.
Junge Leutnants waren in dieser Hinsicht viel ungeschickter und taktloser. Sie kamen zuweilen mit einem halben Dutzend neuer eleganter Ideen, die sie zwar nicht als Kadett gelernt hatten, wo immer noch nach den Methoden Cäsars, Hannibals und Alexanders unterrichtet wurde und die Methoden Napoleons als modern galten; sondern sie hatten solche hypermodernen Ideen in einem Buche moderner französischer Taktik gefunden, halb verstanden und nicht verdaut, und versuchten dann bei Gelegenheit,   mit   diesen   Ideen   zu   glänzen,   wenn   der
Kommandierende die Pläne für Feldübungen ausarbeitete und dazu die grünen Offiziere befahl, um sich an deren Unbeholfenheit zu ergötzen.
Aber das Gesicht des Divisionarios leuchtete wohlgefällig auf, als der Sergeant, beinahe wie ein Schüler, ganz unschuldig fragte: »Warum glauben Sie wohl, mi general, warum die Rebellen nicht alle unsere Mannschaften in der Nacht ermordet haben? So leicht und geräuschlos, wie sie zwischen unsern Leuten herumgeschlichen sind, um unsere Waffen zu stehlen, so leicht hätten sie wohl auch jedem von uns den Hals abschneiden können. Und weil sie das nicht getan haben, mi general, darum dachte ich, dass hier etwas nicht in Ordnung sein müsse.«
Der Divisionario lächelte. Mit diesem väterlichen Lächeln auf den rosigen und schmalzigen Lippen sah er die Offiziere der Reihe nach an. Dann nickte er dem Sergeanten zu und sagte versöhnlich, wohlwollend und belehrend: »Sergeant Morones, Ihre Frage und Ihre Bemerkung zeugen davon, dass Sie ein tüchtiger Soldat sind, und dass Sie selbst zu denken vermögen und sich Fragen stellen in ungewöhnlichen Vorkommnissen wie dem der vergangenen Nacht. Jedoch die Frage ist leicht beantwortet, Sergeant Morones.«
Die Offiziere, von denen keiner dieses merkwürdige Verhalten der Rebellen erwähnenswert gefunden hatte, obgleich es auffallend war, warteten mit angespannten Mienen auf die Erklärung ihres Kommandierenden.
Die Wichtigkeit der Bemerkung des Sergeanten kam ihnen in diesem Augenblick zur Erkenntnis. Jedoch der Divisionario übersah diese Wichtigkeit völlig. Seine Erklärung war ein Beispiel für das erschlaffte Denkvermögen aller Männer, die unter der Diktatur ein Amt oder eine Würde bekleideten. Intelligente Männer vermochten sich kein halbes Jahr in irgendeiner öffentlichen Stellung im Staate zu halten.
»Einfach, meine Herren. Nichts ist einfacher auf Erden zu erklären als das Verhalten der verdreckten Säue. Diese verlausten Schweine wissen recht gut, dass mit dem Tode ein jeder bestraft wird, der sich am Leben irgendeiner Person vergreift, die eine Autorität darstellt. Das bezieht sich nicht nur auf El Caudillo, sondern ebenso auf Offiziere, Soldaten und Polizeimannschaften. Selbst der Versuch, das Leben einer Autorität anzutasten, ja nur zu bedrohen, wird mit Füsilieren oder Hängen bestraft. Das ist es, Caballeros, wovor dieses schamlose Gesindel Furcht hat. Sie wissen recht gut, diese räudigen Hunde, dass Stehlen der Waffen in Friedenszeiten nur wie anderes Stehlen bestraft wird, mit einigen Monaten Gefängnis, nichts weiter. Darum wurde keinem von unsern Leuten auch nur ein Haar gekrümmt.
Es ist die blasse Angst dieser Hundesöhne; und sie alle handeln genau so, wie es von solchen verlausten Spitzbuben zu erwarten ist. Schleichen sich in der Nacht herbei, um zu stehlen. Am hellen lichten Tag, wenn Gottes Sonne scheint, da verkriechen sie sich in ihren Aashöhlen. Das ist ja auch der Grund, der alleinige Grund, warum sie nicht auf uns losmarschieren und dort hinkommen, wo wir willens waren, auf sie zu warten, um ihnen ihre längst verdienten derben Prügel zu verabfolgen und sie dann aufzuhängen, wenn die Stricke langen. An Wehrlosen, wie hier an Leutnant Bailleres, und an unsern drei verunglückten Kameraden, da vergreifen sie sich, da haben sie Mut. Aber einem ehrlichen Soldaten offen im Felde gegenüberzutreten, da fehlt diesen Läusefressern der Pfeffer in den Eingeweiden. Das ist Ihnen klar, Sergeant Morones, denke ich.«
»Si, mi general, muchas gracias, das ist mir nun völlig klar.« Sergeant Morones sagte es mit aller schuldigen Ehrfurcht des Untergebenen gegenüber einem so hohen Vorgesetzten. Aber in seinem Ton lag es, mitklingend ohne seinen Willen, dass er um nichts klüger geworden war und dass er anders darüberdachte.
Als guter und erfahrener Soldat, der außerdem auch wusste, dass seine Beförderung zum Offizier davon abhing, Vorgesetzten immer recht zu geben, stets taktvoll gegen Höhere zu sein und sich um nichts zu bekümmern, was ihm nicht ausdrücklich befohlen worden war, hütete er sich wohl, irgendwelche Bedenken, die ihm geblieben waren, noch einmal zu erwähnen, nachdem der hohe Vorgesetzte seine Meinung ausgesprochen hatte.

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