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Jan Petersen - Unsere Straße (1933)
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Er geht mit Bruno nach vorn. Ich packe mit Franz den Greif-Abziehapparat aus, nehme die Wachsplatten aus dem Rucksack. Wir hatten sie zwischen Pappe gelegt, sie sind ganz glatt geblieben. Mumm haben die Jungens, als ob nicht 'zig Jahre Zuchthaus für jeden fällig sind, wenn's schiefgeht.
Franz streicht mit der Farbentube die Gazescheibe des Sprungdeckels ein. Dann heften wir die Wachsplatte mit Reißnägeln straff auf den Apparat.
„Legst immer von der Seite an, Karl. Ich ziehe rüber. Sieh mal, so", sagt Franz. „Geht am schnellsten."
Er legt einen Bogen an, die Gummiwalze rollt.
Wie er die Namen auseinanderhält! Ich bin hier ganz selbstverständlich „Karl" für ihn.
„Es muss ruck-zuck gehen. Anlegen, rüberziehn, anlegen, rüberziehn."
Wir prüfen den ersten Abzug.
DIE ROTE FAHNE
steht groß über der Seite.
„Bißchen fett, schmiert", sage ich.
„Die nächsten werden ..." Vorn fangen die beiden an zu hämmern. Ich nicke nur.
Nach einem Dutzend Bogen habe ich das Arbeitstempo weg. Anlegen - Franz feuchtet die Gummiwalze an - zieht rüber - Sprungdeckel hoch - Abzug weg - anlegen. Die fertigen Seiten häufen sich auf dem Nachbartisch.
Die rote Fahne - die rote - die rote – Auf der Bühne hämmern sie auf einen Eisengegenstand. Der Saal dröhnt. Rechte Hand abnehmen - linke neuer Bogen - geraderücken - Klappe runter - Franz! - rechte Hand abnehmen - meine Hände gehen wie Hebel hin und her.
Was hat neulich in der Pressekorrespondenz der Berliner Bezirksleitung gestanden? „Aus einem geheimen Bericht der Gestapo: Wir müssen bei unseren Beobachtungen und Zugriffen schneller und präziser werden. Es hat sich gezeigt, dass wir hinter den ständig wechselnden Methoden der Kommunisten nachklappen..."
Vor zwei Stunden hat hier die Jazzband gespielt. In den Kojen dort hinten haben vielleicht zwei hohe SA- oder SS-Uniformen gesessen. Jetzt „nudeln" wir hier. Dutzende Abziehapparate sind vielleicht in diesem Augenblick in der Stadt in Bewegung. Göring lässt verhaften, „auf der Flucht erschießen". Flugblätter und Zeitungen sind aber immer wieder da. Rechte Hand - linke Hand - Bruno klettert von der Bühne. Er steht vor uns, wippt mit dem Hammer. Die Gummiwalze rollt, meine Hände greifen. Brunos Gesicht ist schweißig und verschmiert. Er grient. Seine Boxernase wird noch breiter.
„Flutscht, watt? Kann schon 'n Drittel sein." Er nickt zu dem fertigen Stapel hin, geht wieder.
Wir arbeiten schweigend. Der Stapel leeres Papier wird langsam kleiner. Vorn dröhnen die Hämmer. Bisweilen rufen sich die beiden etwas zu. Ich kann aber nichts verstehen. Vielleicht auch nur „Theaterlärm". Die Jungs sind richtig!
Als wir die letzten Bogen anlegen, sehe ich nach der Armbanduhr. Es ist kurz nach sieben Uhr. Meine Augen schmerzen, die Arme sind lahm. Bei jeder Bewegung zieht es in den Schulterblättern.
„Geschafft", sagt Franz.
Er fährt sich über die Stirn. Ein schwarzer Farbstreifen bleibt zurück. Er biegt den Rücken nach hinten.
„Am besten, du haust gleich ab, Karl."
„Natürlich."
Wir packen zusammen. - Draußen poltert es plötzlich. Wir fahren herum. Vorn hämmern sie weiter, sie haben nichts gehört! Franz sieht mich starr an. Sein Oberkörper ist wie zum Sprung geduckt. Ich werfe die Decke über die Tische. Wie gebannt sehen wir auf die Tür rechts. Vorn hämmern sie immer noch!
Die Tür fliegt auf. Eine Frau mit Schrubber und Wassereimer steht im Türrahmen.
„Morjen", sagt sie und nickt.
Franz stößt zischend die Luft aus. Sein Rücken entspannt sich, als sei eine Last von ihm gefallen.
„Morjen", sagt er vergnügt.
Ich nicke nur. Der Schreck ist mir doch in die Knochen gefahren. Die Frau geht wieder. Ich verschnüre meinen Rucksack.
„Hallo! Hallo!" ruft Franz.
Das Hämmern vorn bricht ab, die beiden kommen polternd herunter.
„Karl geht."
„Servus dann, ,Hilfsmonteur'", sagt Rudi. Sein rotes Haar ist verklebt, auf seinem Sommersprossengesicht stehen Schweißperlen.
„Lass zu Haus 'n schönen Gruß bestellen", sagt Franz.
„Ja, danke."
Ich sehe ihn nicht an. Beschäftige mich mit den Rucksackriemen. Ich habe ihm von meinem Zusammentreffen mit Käthe nichts erzählt. Wird er wohl doch von Lamprechts erfahren - dann ist's „verjährt".
Ich nehme einen Autobus. Beobachte, wer mit mir einsteigt. Ein junger Mann, mit einer goldenen Brille, und ein junges Mädchen. Der schmale Platz vorn im Wagen neben der Scheibe des Chauffeursitzes ist frei. Ich setze mich. Habe so den ganzen Wagen vor mir, kann die beiden im Auge behalten. Wie selbstverständlich einem diese kleinen Tricks schon sind! Bei den Transporten darauf zu achten, dass man nicht „beschattet" wird, ist auch das Wichtigste, mein Lieber. - Rechts von mir sitzt ein SA-Mann. Warum starrt der mich denn immer an? Unsinn. Der döst. Der schläft halb, hat ganz kleine Augen. Der Lange mit der Brille steigt bald aus. Einige Stationen weiter das Mädchen.
Als ich durch die Straße gehe, freue ich mich plötzlich über die gelungene „Nudelei". Die Genossen werden mit mir zufrieden sein.
Bis jetzt ist es keinem von uns gelungen, mit sozialdemokratischen Genossen eine wirklich feste Verbindung herzustellen. Zwei von uns, Teichert und Schwiebus, waren noch der Meinung, dass eine Zusammenarbeit erst möglich ist, wenn die anderen jetzt einsehen, dass unser Urteil über die Jahre „der Kleineren-Übel-Politik" richtig war. Meiner Ansicht nach muss man jetzt alles Trennende zurückstellen. Wir müssen in Diskussionen alles herausarbeiten, was uns eint. Die Nazis haben die Macht an sich gerissen, weil die Arbeiterschaft sich nicht zum gemeinsamen Kampf finden konnte.
Wir kennen aus früheren Diskussionen sozialdemokratische Genossen. Einige von ihnen sind so eingeschüchtert, dass sie sich nicht einmal in ein politisches Gespräch mit uns einlassen. Bei andern wieder wissen wir nicht, ob sie noch „echt" sind. Aber das fürchten die sozialdemokratischen Genossen wohl auch bei uns.
Ü bergelaufene gibt es bei ihnen und bei uns. Unser Genosse, der bei Brenninckmeyer Verkäufer ist, der „Konfektionär", sprach wieder mit seinen beiden Gewerkschaftskollegen. Sie erklärten ihm, dass illegale Arbeit jetzt sinnlos sei. Die sich kennen, müssten jetzt zusammenhalten, nichts weiter. Er konnte auch nur dem einen eine Zeitung verkaufen, der andere hatte Furcht.
Vor zwei Tagen habe ich nun Joachim von der Stadtteilleitung über unsere Einheitsfrontarbeit berichten müssen. Er versprach, mich mit Alex zusammenzubringen. Alex hat schon Fühlung mit einigen sozialdemokratischen Genossen, die in eurem Gebiet wohnen, sagte er. Ich habe nie mit Alex zusammen gearbeitet, ich kenne ihn aber schon lange. Er war früher Leiter einer unserer Spieltruppen.
Heute nun traf ich Alex. Ja, er habe Verbindung, sagte er. Er sei aber auch noch nicht über Gespräche hinausgekommen. Die sozialdemokratischen Genossen seien sehr misstrauisch. Ich müsste Geduld haben, es könne Wochen dauern, bis er mich mit einem von ihnen zusammenbringen könne. Diese Genossen wollten prinzipiell mit niemandem zu tun haben, den sie nicht lange kennen. Ja, Zeitungen verkaufe er ihnen schon, meinte er. Wir verabredeten dann einen regelmäßigen Treff, der immer für einen bestimmten Wochentag gilt und bei dem von einer zur andern Woche nur die Stunde wechselt. Alex erzählte mir dann folgende Geschichte:
„Ich stand auf dem Arbeitsnachweis. Es war eine lange Reihe. Hinter mir stand ein kleiner glatzköpfiger Mann. Ich merkte schon eine ganze Weile, dass er mich dauernd ansah. Kennt der mich etwa? dachte ich. Da sagte der Kleine plötzlich leise zu mir: ,Na, Herr Meyer, mit den Bühenvorträgen ist's nun ganz aus.' Er griente so. Mir wurde ganz anders, kann ich dir sagen.
,Bühnenvorträge?' sagte ich. Ich lachte. ,Sie verwechseln mich mit irgend jemandem, ich bin Schlosser.'
Der Mann griente wieder und zwinkerte mit den Augen. Mensch, weggehn kannst du doch jetzt nicht, überlegte ich. Mir war, als wenn ich mit Nadeln gepiekt würde, mein Junge.
Da sagte der Kleine wieder: ,Kennen Sie mich denn wirklich nicht mehr?'
,Nein', sagte ich, ,habe Sie nie gesehen.'
Er sagte: ,Überlegen Sie mal, ist noch nicht lange her.'
Ich konnte gar nicht richtig überlegen, sage ich dir. Dachte bloß immer: Mensch, der kann dich jetzt hopsjehn lassen. Irgendwie kam er mir nun doch bekannt vor. Der konnte sich wohl denken, was in mir vorging. Er sagte leise: ,Sie brauchen keine Angst zu haben, vor mir nicht.'
Sei still und lass den reden, ist am besten, dachte ich. Da beugte er sich dicht zu mir rüber. Er flüsterte: ,Ich war doch früher im Polizeipräsidium, Abteilung IA. Da haben Sie doch immer Ihre Veranstaltungen bei mir anmelden müssen.' Die Sache stimmte, Mensch. Jetzt erkannte ich ihn auch. Ich blieb aber still. Den haben sie rausgesäubert, dachte ich, damit für die ,alte Garde' Platz wird. Da sagte der Kleine noch leiser: ,Von Ihren Akten ist nichts mehr da. Kurz vorher haben wir eine ganze Menge verschwinden lassen.'"
Ernst Schwiebus wartet schon an der verabredeten Ecke mit einer Frau. Donnerwetter, hat die eine „Kluft" an! Ist ja eine elegante junge Dame.
Von Schwiebus bin ich schon gewohnt, dass ihm abends niemand den Lieferradfahrer ansieht. Er sieht dann immer aus wie ein junger Mann, „aus guter Familie". Er trägt tadellose Anzüge, blütenweiße Wäsche. Das lockige Haar ist gepflegt, er ist immer sauber rasiert.
'n Abend."
„Guten Abend."
Schwiebus' Begleiterin lispelt. Sie hat vorstehende Zähne. Eine Jüdin. Sie kann höchstens etwas über zwanzig Jahre alt sein. Hätte ich Schwiebus nicht zugetraut. Der macht doch immer knapp den Mund auf.
„Geht vor", sagt Schwiebus, „ich warte auf Teichert, du."
„Und Hilde?"
„Hab ich an eine andere Ecke bestellt. Etwas später. Geht, ich bringe sie, du."
Immer das „Du" als Abschluss seiner Sätze. Komische Angewohnheit.
Es ist eine vornehme Straße im Westen, grelle Lichtreklamen. Wir machen kleine Schritte, wir müssen uns durch die Passanten durchschieben.
„Ich heiße Ruth", sagt das Mädchen plötzlich.
Also richtig taxiert, Jüdin. Hat Mut. Stellt uns ihr Zimmer zur Verfügung. Die nehmen sie doppelt ran, wenn's schiefgeht.
Das schlimmste ist für uns immer, dass wir nicht genügend neutrale Wohnungen haben. Unsere Abziehwohnungen liegen ausschließlich in unserer beschatteten Arbeitergegend. Ebendeshalb kam Schwiebus mit diesem Vorschlag, als wir die Herstellung der Klebezettel besprachen. Er hatte vorher nie etwas von dem Mädel erzählt, und ich habe ihn deshalb gründlich ausgefragt. Er kenne sie schon lange aus der Parfümbranche, sagte er, habe sie langsam „politisch erzogen". Das Mädel sei prima und die ganze Sache unbedingt sicher, sonst schlüge er das doch nicht vor. Sie hätte in einer Pension im Westen ein Zimmer. Bloß eine Frau müssten wir noch mitbringen, so viel Männer würden auffallen.
Wenn man Schwiebus nicht als unbedingt zuverlässig kennen würde - diese Ruth sieht wirklich aus, als ob sie von Parfüm sehr viel und von Politik sehr wenig versteht.
„Pension Ritter" steht auf einem Leuchtschild an der Haustür.
„Wir gehen die hintere Treppe hinauf", sagt Ruth.
Ein dunkler Hof, eine schmale gewundene Treppe.
„Wenn nun die andern hier noch nachkommen?"
„Fällt gar nicht auf. Hier geht's dauernd raus und rein. Ernst hat auch einen Schlüssel."
Ein langer Korridor, von dem viele Türen abgehen. Es ist niemand zu sehen. Das Zimmer ist ganz in Rot gehalten. Eine Couch, ein Bett, zwei Stühle, ein großer Ankleideschrank, eine Frisiertoilette. Ruth zieht die Vorhänge zu.
„Setz dich."
Ich möchte ihr gern etwas Freundliches sagen, aber mir fällt nichts ein. Wie selbstverständlich für sie das „Du" ist! Und doch, hier im Zimmer wirkt sie auf mich noch fremder. Das tief ausgeschnittene Kleid, die Armringe. Sie hat rot lackierte Fingernägel, die Augenbrauen sind zwei dünne Striche. Rasiert. Der schwarze Bubikopf ist eng anliegend onduliert. Etwas später kommt Ernst Schwiebus mit Paul Teichert und Hilde.
„Wir müssen möglichst lustig sein", sagt Ruth. „Ich habe doch ,Besuch'." Sie drückt auf die Zimmerklingel. „Kaffee bestellen." Wir lachen und schwatzen durcheinander, als das Mädchen kommt. Als sie dann den Kaffee serviert, spielt Ruths Grammophon, und sie tanzt mit Schwiebus. Tarnen kann sie zumindest prima.
Teichert holt ein Päckchen aus der Tasche.
„Die Klebestreifen. Fünfhundert Stück. Sind handlich, schnell anzubringen. Diesmal schon gummiert, brauchst bloß anfeuchten."
Wir begutachten sie alle, sind zufrieden. Schwiebus packt den Kinderdruckkasten aus.
„Was macht Franz?"
Wir wissen, dass Hilde sich öfter mit ihm trifft.
„Er lässt grüßen. Ich traf ihn gestern. Er hat sich gefreut, dass mit den Zeitungen alles geklappt hat."
„Wer hat nun also Verse mit?"
„Ich nicht", sagt Hilde.
Teicherts Vers gefällt uns am besten.
„Margarine wird teurer, die Butter noch mehr: Volk ans Gewehr!"
„Den haben die Proleten bei uns im Werk erzählt", erklärt Teichert. „Du staunst bloß immer. Die Witze, die Verse, wo das alles herkommt!"
Ich sehe Teichert an. Er freut sich, fährt sich über das schüttere blonde Haar. Was er doch für schlechte Zähne hat. Sowie er den Mund aufmacht, bekommt sein Gesicht einen hässlichen Zug. Die breiten Lücken, die zwei schwarzen Zahnstummel vorn. „In Ordnung bringen lassen? Kein Geld!" hat er mir erklärt, als ich mit ihm darüber sprach.
„Der ist richtig, du. Volk ans Gewehr! - Ist doch jedem geläufig, seit der Rundfunk das aus ihrem Lied als Pausenzeichen übernommen hat", sagt Schwiebus. Ruth zieht das Grammophon neu auf.
Hilde nimmt mit der Pinzette die passenden Gummibuchstaben aus dem Kinderdruckkasten, drückt sie in die Metallfugen des Stempels. „Ich kann diesmal keine mitnehmen, da muss erst Gras drüber wachsen. Wir hetzen sie sonst auf die Betriebszelle", sagt Teichert.
Er hatte einen Teil unserer Klebezettel zum 1. Mai in den Betrieb mitgenommen. Kommunistische Parolen klebten an den Siemensmaschinen, in den Garderoben. Acht Arbeiter wurden daraufhin verhaftet. Ihre Namen standen auf einer alten Sammelliste, die den Nazis irgendwie früher in die Hände gefallen war. Es war aber kein Genosse der Betriebszelle unter den Verhafteten.
„Wie haben die Proleten überhaupt auf die Zettel reagiert, du?"
„Durch die Verhaftungen sind erst noch Abteilungen aufmerksam geworden, die nichts davon wussten", sagt Teichert.
„... Ninon, lach mir einmal zu ..." Ein Tenor. Ruth hat eine neue Schallplatte aufgelegt.
„Es traut sich natürlich niemand, ein offenes Wort zu sagen", fährt Teichert fort, „aber bei den Kollegen, die sich kennen, hörst du das doch. Die haben uns lange Jahrzehnte herausgeschmissen, wenn wir gefeiert haben, sagten sie, jetzt fliegen wir plötzlich raus, weil wir uns weigern, mit den Unternehmern zu feiern."
Das Grammophon schreit jetzt Jazzmusik in das Zimmer, wir stecken die Köpfe dicht zusammen.
„Denen ist klar, wie tief der 1. Mai in dem Bewusstsein der Proleten steckt."
Hilde ist mit dem Einsetzen der Buchstaben fertig. Wir machen einen Probestreifen.
„Ist undeutlich."
„Zu eng die Buchstaben."
„So, jetzt, schön scharf."
Schwiebus fängt an zu drucken. Ich reiche ihm die Zettel zu. Die Mädels sitzen uns gegenüber, sie lachen plötzlich hart. „Für nebenan", sagt Ruth. „Dass sie merken, wir sind lustig."
„Und bei dem Marsch am 1. Mai, du?"
Teichert legt die fertigen Zettel übereinander.
Er sagt: „Wir mussten natürlich alle mit. Die Naziobleute haben kontrolliert, ob jeder angetreten war. Aber unterwegs haben sich viele verdrückt. Manche gingen ,Zigaretten kaufen'. Andere hatten plötzlich »eine schwache Blase'. Auf dem Tempelhofer Feld verschwanden in dem Gewühl noch mehr. Dort haben überhaupt viele laut gemurrt. Weil wir stundenlang in Staub und Hitze stehen mussten. Und über die auf den Tribünen: Die sitzen ruhig auf ihren Zwanzigmarkplätzen. -Da kannste mal ordengeschmückte Uniformen und blanke Zylinderhüte sehen."
„Am nächsten Tag sagt ein Kollege enttäuscht zu mir: ,Ich dachte, Hitler gibt da sein Aufbauprogramm bekannt'. -,Hast du doch gehört', sagte ich dem: Jeder einzelne von euch hat jetzt die Pflicht, mit seinen Anschaffungen nicht zu zögern und länger zu warten!'"
Wir lachen. „Was hat der darauf geantwortet?"
„Ein verdutztes Gesicht hat er gemacht. ,Ich?' hat er gesagt, ,wovon denn?'"
Schwiebus legt den Stempel hin, reibt sich die Handballen. Sie haben rote Druckstellen.
Eine Zeitlang arbeiten wir schweigend. Die Mädels wickeln die fertigen Klebestreifen zu je dreißig Stück in Papier. Aus dem Grammophon singt wieder ein Tenor: „... denn meine Sonne, das bist nur du ..." Da sagt Teichert wieder: „Überhaupt am nächsten Tag! Die Gleichschaltung der Gewerkschaften. Alle Kollegen haben bei uns begriffen, dass das die endgültige Rechtlosmachung der Arbeiterschaft ist. Die sozialdemokratischen Genossen waren wie vor'n Kopf geschlagen, kann ich euch sagen.
Die Gewerkschaftsführer haben noch zum Maimarsch aufgerufen - jetzt besetzen sie die Gewerkschaftshäuser! So diskutieren die Kollegen heimlich."
„Die Stimmung muss man auffangen — nachstoßen."
„Natürlich. Aber ihr macht euch keinen Begriff, wie schwer das ist. Der Schlag gegen die Gewerkschaften hat viele verwirrt. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Jeder Genosse im Betrieb zählt heute doppelt. Man kann nicht..."
Teichert bricht ab. Auf dem Korridor draußen sind plötzlich Stimmen. Schritte. Ich lege den Stempel aus der Hand, sehe zur Tür.
„Is nichts", sagt Schwiebus, „hier kommen und gehen viele. Is doch ein halber Puff hier, du."
„Deshalb wohne ich ja hier. Hier kümmert sich keiner um den andern", sagt Ruth. Es klingt wie eine Entschuldigung.
Wir arbeiten schweigend weiter. Die Gefahr ist uns doch stärker zum Bewusstsein gekommen.
Was ich jetzt immer für einen heißen Wunsch nach Zerstreuung habe! Man will möglichst viel Schönes erleben. Lieben. Man denkt immer: Einmal packt's dich auch. Morgen kann es zu Ende sein. - Sievert, Neumann, Ritter, viele andere. Ich kannte sie alle gut. Wegen der Maikowski-Affäre haben sie die geholt. Kurgel. - Richard Hüttig. Er kennt alle unsere Namen. Alle unsere Namen, die wir hier im Zimmer sitzen und Klebezettel machen.
Wie müssen sie ihn gefoltert haben, und wie tapfer muss er geblieben sein, dass wir alle noch hier sitzen und Material herstellen können!
„Das ist die Liebe der Matrosen ..."
Die Grammophonmusik geht mir plötzlich auf die Nerven. Teichert nimmt mir den Stempel aus der Hand.
„Wie denkt ihr über die Maikowski-Geschichte?"
Teichert stempelt schon, sieht nicht auf.
Er sagt: „Man kann da nicht klar sehen. An die betroffenen Familien kannst du nicht rangehen. Die werden beobachtet."
Er macht eine Pause.
„Aber neulich, bei der Geldsammlung für sie, sprach ich mit einigen Mietern aus den Häusern. Die sind der Meinung, dass von einzelnen Belastendes ausgesagt wird. Unter Zwang, oder um sich selbst zu retten. Kann man nicht wissen."
„Deshalb die neuen Verhaftungen, du?"
„Vielleicht."
„Vorgestern haben sie in einigen Häusern Fahrräder beschlagnahmt."
„Hat nichts damit zu tun. Das ist ,Sicherstellung des kommunistischen Fuhrparks'. - Kennt ihr Paul Ritzhaupt?"
„Ja, was ist denn mit dem?"
„Der war bei den Fichtemotorradfahrern. Da haben sie alle Krafträder beschlagnahmt. Er war auf dem Polizeipräsidium Alexanderplatz. Da stehen Hunderte an, die Einspruch erheben wollen. Auf jedem Gang steht dort vorn und hinten ein Polizeidoppelposten", sagt er. „Die untersuchen jeden erst auf Waffen. Müssen die Angst vor Attentaten haben!"
„Ist doch völlig unsinnig", wirft Hilde ein.
Sie hat den ganzen Abend noch nichts gesagt, fällt mir auf. Nur mit Ruth hat sie ab und zu getuschelt. Sie haben sich schnell angefreundet. Wie Hilde in dem einfachen Jumper mit den kurzen Ärmeln neben Ruth aussieht! So frischer, natürlicher. Aber die Ruth! Wie man sich doch in äußeren Dingen täuschen kann! - Da sagt Schwiebus: „Natürlich, Unsinn. Manchmal trifft man einen, der von einem Attentat auf Hitler redet. Die sind sich nicht darüber klar, dass für ihn dann ein anderer Nazibonze weitermacht, du. Vor allem, was sie für Rache nehmen würden an den Tausenden Gefangenen."
Teichert hat bald die letzten Klebestreifen unter dem Stempel.
„Wo bleibt der Kram nun?"
Er sieht mich an.
„Ich bringe sie heute noch in eine Wohnung. Dort holen wir sie morgen vormittag wieder ab. Alles muss schnell verklebt werden."
„Klebt Ede wirklich bei den Nazibonzen, du?"
„Natürlich."
Wir gehen einzeln. Schwiebus bleibt aber zurück. Er und diese Ruth gehören also wirklich zusammen. Mich wundert das.
Die Klebezettel sind unter die Genossen aufgeteilt. Nur Heinz Preuß mit seiner Gruppe fehlt noch. Ich gehe mit dem Rest zu der verabredeten Stelle. Dort ist er! Er steht vor einer Zeitungsfiliale und liest. Schon von weitem erkenne ich ihn. An der schwarzweißkarierten Sporthose. An dem blauen Polohemd mit den kurzen Ärmeln, an den langen blonden Haaren. Heinz Preuß ist ein Wandervogel. Sonnabends und sonntags ist er nie zu erreichen. Da ist er auf Wochenend. Er sieht auch immer schön braungebrannt aus. Wir uzen ihn immer „mit den langen Haaren eines freien Mannes".
„Schneid't mir meine Mutter übern Kochtopf", sagte er dann.
Ich stelle mich einen Augenblick neben ihn, gehe dann langsam weiter, in ein Haus hinein. Etwas später kommt Preuß. Wir treffen uns auf dem ersten Treppenabsatz.
„Wie viel kriegt unsere Gruppe?"
Ich ziehe den Wadenverschluss meiner Knickerbockerhose auf.
„Siebzig. Hier."
„Ganze Menge. Bin mit Emil heute allein."
Ich bringe die Hose in Ordnung. Hat keinen Zweck, jetzt darüber zu reden, es muss schnell gehen.
„Ihr nehmt die Nebenstraßen hier."
Ü ber uns klappt eine Tür. Wir lauschen, es kommt aber niemand die Treppe herunter.
„Seid vorsichtig."
„Schon gut."
Ich gehe, Preuß bleibt noch stehen.
„Schöne Matjes... deutsche Matjes... na, was soll's denn sein?"
Die Händlerin hatte den rechten Arm in die Hüfte gestemmt, in der linken Hand wippte das Fischmesser. Ihre Schürze war mit Schuppen und Blut beschmiert. Frauen mit Einholekörben und Markttaschen schoben sich zwischen den Verkaufsständen. Anpreisungen, dumpfes Klappen von Schlächterbeilen, das grelle Wiehern eines Pferdes. Von der Wallstraße bis zum Wilhelmplatz, vor das Charlottenburger Rathaus, zog sich der Wochenmarkt.
In dem Gewühl der Frauen entstand plötzlich eine Gasse. Auch die Frauen vor den Auslagen der Stände drehten die Köpfe zur Straßenmitte. Durch den Spalt ging ein Mann, der mit einem Stock den Boden vor sich abtastete. Auf seinem Jackettärmel saß eine gelbe Binde, drei schwarze Punkte waren darauf. Er sah kräftig und noch sehr jung aus. In seinem Gesicht war an Stelle des linken Auges eine rotfleischige, feuchtglänzende Höhle. Das rechte Auge sah starr geradeaus.
Der Mann steuerte mit tastenden Schritten aus dem Gewühl, ging dann an den Häuserreihen entlang, dem Wilhelmplatz zu. Sein Stock klappte in regelmäßigen Abständen richtungsuchend gegen die Häusermauern.
Ede tappte dann die großen Steinfliesen am Eingang des Charlottenburger Rathauses hoch. „Da bekam ick die Wut", erzählte er mir an dieser Stelle, „der Zeitungshändler von Ullstein, der da sitzt, schrie dauernd: ,Die Regierung garantiert Wirtschaftsruhe! Alle Eingriffe in die Wirtschaft verboten!'"
„Die Streikwaffe der Arbeeter woll'n se zerschlagen, verstehste. Damit die Unternehma in Ruhe de Profite insacken könn'!"
Ein dicker Mann mit einem Naziparteiabzeichen kam dann auf Ede zu: „Kann ich Ihnen behilflich sein?"
„Danke, jeht schon", sagte Ede.
Der Dicke hob den Arm zum Gruß und ging weiter.
„Der wusste ja janich, ob ick dett überhaupt jesehn habe", sagte Ede dabei grienend.
In den nach allen Seiten abzweigenden Gängen der unteren Etagen liefen Menschen hin und her. Zu beiden Seiten der Gänge liegen dicht hintereinander Türen. Vor einigen stehen Bänke. Wartende saßen dort. Sie redeten laut und gestikulierten, jeder erzählte dem andern wohl seinen „Fall". Weiter oben anfangen, dachte Ede. Er stieg eine Wendeltreppe hoch.
Oben war es stiller. Nur aus dem ständig auf und ab gehenden doppelten Paternosteraufzug stiegen bisweilen Leute. Beamte gingen mit dicken Aktenbündeln unter dem Arm an ihm vorbei. Einige waren in SA-Uniform. Ede tappte in den Gang hinein. Vor der dritten Tür blieb er stehen. „Regierungsrat Lehmann" stand auf einem weißen Schild. Ede griff in die Tasche, feuchtete den Klebezettel an, drückte ihn schnell auf das Schild:
„Margarine wird teurer, die Butter noch mehr: Volk ans Gewehr!"
In knapp zehn Minuten hatte er den Vers an die Türen und Wände dieses Stockwerkes geklebt. Dann fuhr er mit dem Paternoster eine Etage tiefer. Auch hier ging alles glatt. In dem nächsten Stockwerk wurde es aber schwieriger. Beamte liefen hier oft hin und her, er musste immer Augenblicke abpassen, in denen die Gänge frei waren. Ede bog gerade um eine Ecke, ging an einer Gruppe Wartender vorbei, da hörte er plötzlich erregte Stimmen hinter sich.
„Hier! Und hier!... muss jetzt erst angeklebt worden sein..."
„Baurat Lehmann hat eben angerufen, in den ganzen oberen Stockwerken kleben Zettel!"
„Rufen Sie sofort beim Pförtner an... er soll die Polizei verständigen ... vielleicht fassen wir noch welche!"
„Die Kollegen sollen sich an die Gänge stellen, niemand herauslassen!"
Türen klappten, Männer liefen die Gänge entlang. Die Wartenden sprangen auf.
„Was ist denn - was denn?" fragte ein Mann in einem altmodischen Anzug. Er zog sich aufgeregt an seinem weißen Spitzbart. Eine vollbusige Frau in seidener Bluse neben ihm sagte erregt: „Hetzblätter haben sie angeklebt... jetzt eben! An die Wände!"
Ede sah, wie einige in dem Kreis tuschelten und sich verständnisvoll zunickten.
Da sagte die Frau von vorhin wieder: „Da, sehen Sie! Es wird abgesperrt... wir werden noch alle verdächtigt werden ... Oh, die Banditen ... die Banditen!"
Der Alte mit dem Spitzbart aber fragte wieder: „Was denn? ... Banditen haben angeklebt?"
Da kreischte die Frau: „Kommunisten! Verstehen Sie denn nicht?! Ach, wir werden alle noch Ärger haben!"
Der Alte machte vor Schreck den Mund weit auf, sein Spitzbart zitterte.
- Abhauen, jetzt wird's Zeit, dachte Ede. Er tastete die Wand entlang, auf die Treppe zu. An dem Paternoster stand ein Beamter.
„Gesperrt jetzt!" sagte er zu jedem, der fahren wollte.
Vor ihm standen schon mehrere Männer und Frauen, die er angehalten hatte. Sie redeten auf den Beamten ein.
„Ich muss nach Hause... mein Mann kommt zum Essen!"
„Ich habe einen Termin vor Gericht... ich mache Sie für mein Fernbleiben verantwortlich!"
Ede tastete mit seinem Stock mitten in die Menschen hinein. Sie machten ihm Platz, auch der absperrende Beamte trat zur Seite. Langsam ging dann Ede die Treppe hinunter, ungestört ins Freie. Er tastete immerfort vorsichtig mit dem Stock vor sich her.
Gegen Abend gehe ich zu Rothacker. Um ihm Edes Streich zu erzählen.
„Komm rein!" sagt Rothacker.
Seine linke Hand steckt in einem Kinderschuh. Er hat eine blaue Schürze um. Die vierjährige Inge hält sich an seiner Hose fest, streckt den blonden Wuschelkopf vor. Der ist wohl beim Schuhbesohlen? Rothackers Frau putzt den Küchenherd. Sie reicht mir den Ellbogen zum Gruß. Inge ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Abgehärmt sieht die Frau aus. Sie ist übernatürlich schlank, ihre Brust fast verkümmert. Das helle Haar macht sie noch blasser, gibt ihrem schönen regelmäßigen Gesicht etwas beinahe Feierliches. Rothacker kramt in seinem Handwerkszeug, sieht mich nicht an. Haben die
eine Auseinandersetzung gehabt? Ich weiß, die wirtschaftlichen Sorgen sind immer der Anlass. Ich kam, um Edes Streich zu erzählen, aber ich schweige, weiß plötzlich nicht, was ich sagen soll.
„Ich habe von meinem Leben noch nichts gehabt. Immer die Sorgen", hat mir Rothackers Frau oft geklagt. Er ist fast doppelt so alt als sie. Sie war noch nicht zwanzig, als sie heirateten. Dann kam gleich das Kind. Seit Rothacker arbeitslos ist, haben sich die beiden auseinander gelebt. Die Frau ist jung, sie will „etwas vom Leben haben". Den Altersunterschied empfindet sie jetzt auch sehr.
„Hast du Emil Schmidt nicht getroffen?" fragt da Rothacker.
„Nein."
„Er war eben hier. Wollte dann zu dir gehen."
Rothacker sieht mich an. Er legt den Kinderschuh aus der Hand. Mechanisch ist die Bewegung, als wisse er nichts davon. Der Blick hinter den Brillengläsern ist so leer ... Ich erschrecke.
„Ist was passiert?"
Langsam sagt Rothacker: „Preuß war nach dem Kleben nicht an der mit Emil verabredeten Stelle."
Schweigen. Frau Rothacker hört auf zu wischen, sieht mich groß an. Das Kind spielt mit den Gummisohlen, die zum Aufkleben bereitliegen.
„Emil ging dann gleich in Preuß' Wohnung. Es machte niemand auf."
In meiner Herzgegend ist gleich wieder ein dumpfer Druck.
„Seine Mutter kommt jetzt nach Hause ... sie arbeitet doch bei der Untergrundbahn ..."
Rothacker sieht auf den Hammer in seiner Hand. Er spricht vor sich hin.
„Du meinst- es sollte einer zu ihr gehen? Mal nachfragen?"
„Ja. Unter einem Vorwand. Es müsste gleich sein. Sie waren jetzt sicher noch nicht bei ihr."
Es sollte „einer" gehen, habe ich gesagt. Die Frau sah mich dabei so merkwürdig an. Ich müsste gehen, kann ihm das doch hier nicht zumuten. Vielleicht hat er recht. Aber wenn sie doch schon bei der Mutter sind?
„Wir wüssten Bescheid. Könnten alle warnen", sagte Rothacker. Er dreht den Schusterhammer in der Hand. „Wann hast du dich von ihm getrennt?"
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