Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik
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17. Oktober 1933. Heute hat der Maikowski-Prozeß begonnen. Ernst Schwiebus zeigte mir gestern abend stumm den „Angriff". Er hatte in einem Artikel über den Prozess eine Stelle angekreuzt. Sie lautete: „Wenn dieser Prozess zu Ende ist, wird die Waage wieder im Gleichgewicht sein. Blut kann nur durch Blut gesühnt werden." Wir gingen eine halbe Stunde durch die Straßen. Redeten aber kein Wort über den Prozess. Wir haben nur besprochen, dass wir über Kranz einen Handzettel herausgeben wollen. Ein furchtbarer Druck lastet auf jedem von uns. Was wird aus den angeklagten Genossen? Aus Richard Hüttig?! „Blut kann nur durch Blut..." Sie sind doch alle am Tod Maikowskis unschuldig. Ich weiß es doch - war doch in der Nacht in der Straße! 22. Oktober 1933. Einer von uns wollte zu der Prozessverhandlung gehen. Es werden aber nur eine beschränkte Anzahl Zuhörer zugelassen, und deren Namen stellt man fest. Nun kann niemand von uns in der Gerichtsverhandlung sein. Einige Zeugen, die für die angeklagten Genossen entlastend ausgesagt haben, wurden im Gerichtssaal verhaftet. „Unter dem Verdacht der Mittäterschaft." Im Gerichtssaal werden die angeklagten Genossen von SA bewacht. Neben jedem sitzt ein SA-Mann. Die Zeitungen bringen heute eine Erklärung des Staatsanwaltes: „Ich lasse es auf keinen Fall zu, dass die Protokolle der Untersuchungsrichter und der Polizeibeamten von diesen jungen Burschen als Phantasien und Hirngespinste hingestellt werden. Alle, die hier auf der Anklagebank sitzen, sind auch jetzt verkappte Bolschewiken. Aber die Faust des Dritten Reiches bleibt über ihnen. Die Zeiten sind vorbei, in denen sich jemand offen zum Bolschewismus bekennen konnte. Einwendungen seitens der Verteidigung in dieser Hinsicht lasse ich nicht zu!" Wieder eine furchtbare Drohung. Jedem von uns wird dabei klar: Die Genossen widerrufen die Aussagen, die man ihnen in monatelanger Tortur bei der „Voruntersuchung" erpresst hat. Wie aufrecht müssen sie vor den Richtern stehen! Wie tapfer müssen sie sprechen! Wir haben einen Handzettel hergestellt. Darauf wird der Arbeiteröffentlichkeit die Spitzeltätigkeit des Kranz mitgeteilt. Eine genaue Personalbeschreibung ist beigefügt. Diesen Zettel haben wir zuverlässigen Arbeitern auf den Arbeitsnachweisen gegeben. Sie sollen ihn weitergeben. Der Zettel ist in die Wohnungen unserer Straße gewandert. Wo es uns zu gefährlich erschien, haben wir ihn in die Briefkästen gesteckt. Die Bezirksleitung von Berlin hat den Text in ihre Spitzelbrandmarkungsliste übernommen. Alle Arbeiterbezirke werden so auf Kranz aufmerksam gemacht und vor ihm gewarnt. Die Flugblatt- und Zeitungspropaganda bleibt in unserer Straße weiter eingestellt. Wir haben allen Genossen wieder eingeschärft, sich und ihre Wohnungen „sauber" zu halten. Wir rechnen damit, dass die Entlarvung von Kranz mit plötzlichen Haussuchungen, vielleicht sogar mit weiteren Verhaftungen beantwortet wird. Ewald traf ich wie verabredet. Ich habe ihm jetzt unsere augenblickliche Situation genau erklärt. Zuerst hatte ich wieder Bedenken, weil ich ihn nicht verängstigen wollte. Er war aber auch jetzt nicht beunruhigt. Diese Zeit hat uns eben alle härter gemacht. Ich habe ihn bisher unterschätzt. Die Belieferung der SPD-Genossen mit Material hat auf unsere Veranlassung vorläufig der Nachbarbezirk übernommen. Die Entlarvung von Kranz hat bis jetzt in unserer Straße keinen Gegenschlag der SA ausgelöst. Entweder ist dies eine trügerische Ruhe, die unsere Wachsamkeit einschläfern soll, oder die SA hat mit der neuesten Aktion ihrer Partei alle Hände voll zu tun. Eine neue Propagandawelle überflutet ganz Deutschland. Volksabstimmung am 12. November Deutschland ist aus dem Völkerbund ausgetreten. Eine „Volksabstimmung" soll diesen Schritt bestätigen und Hitler für seine Außen- und Innenpolitik eine neue Blankovollmacht geben. Ich gehe langsam durch die Straßen. Riesige Transparente hängen zwischen den Häuserfronten. Auf den Plätzen haben sie große Holzmasten aufgestellt, das gespannte Tuch dazwischen bläht sich im Wind. „Wir wollen kein Volk minderen Rechtes sein! Für Ehre und Freiheit! Am 12. November stimmt mit Ja!" „Die Kriegsopfer stimmen mit Ja!" An den Häuserwänden, an den Litfasssäulen kleben mannshohe Plakate „Lloyd George über Deutschland!" Eine Aufzählung von Zitaten des englischen Staatsmannes über den „recht- und waffenlosen Zustand Deutschlands" folgt. Am Schluss steht in großen knalligen Buchstaben: „Jeder Deutsche ein Lump, der nicht fordert, was ein Engländer ihm zubilligt! Alle stimmen mit Ja!" Ich lese den Satz zwei-, dreimal. Er sagt, worum es geht. Noch nicht zwanzig Jahre sind seit dem Weltkrieg vergangen - das Heulen der Fliegerbomben, das Krachen der Geschütze kann über Nacht wieder da sein. Da, wieder ein Transparent: „Mit Hitler für den Frieden der Welt!" Kanonen, Flugzeuge, Tanks - für den Frieden?! Ich höre sie schon reden, wie damals: Wir haben es nicht gewollt - Der Krieg ist uns aufgezwungen worden - Wir verteidigen nur das Vaterland -. Und wieder das Transparent: „Die Kriegsopfer —" Die Kriegsopfer sollen neue Mordmaschinen fordern?! In den Straßen humpeln noch die Krüppel und betteln, damit sie mit den Pfennigen ihrer Rente, „dem Dank des Vaterlandes", nicht verhungern. Einmal habe ich Photos aus Militärsiechenheimen gesehen. Die Gesichter halb weggerissen, Menschen ohne Arme und Beine, lebende Rümpfe. Heute liegen sie noch in den geschlossenen Anstalten. Warten auf den erlösenden Tod. Sind lebendig begraben. Die Gesunden könnten nachdenken, wenn sie die sähen! Ich schaue mir unwillkürlich die an mir vorbeihastenden Menschen an. Gleichgültigkeit, Gehetztsein vom Alltag, nichts, nichts sonst, steht in ihren Gesichtern. Und die beiden dort? Er flüstert ihr etwas zu, sie lächelt ihn an. Vielleicht liegt er in einigen Jahren schon irgendwo verscharrt, und sie faltet ein Schreiben auseinander: „Auf dem Felde der Ehre..." Mechanisch, wie aufgezogen, gehe ich den Weg zurück. Sind es immer nur einige Tausende, die begreifen, was ist? Deutlich sehe ich wieder die langen Reihen der Demonstranten vor mir. So deutlich, als sei es erst vor Monaten gewesen und nicht in den ersten Nachkriegsjahren. - „Nie, nie woll'n wir Waffen tragen - sollen die Herren sich alleine schlagen" -sangen sie damals. Ja, sangen sie nur! Dass man die „Herren", die Urheber von Kriegen, beseitigen muss, hatten sie nicht begriffen. Sie sahen vielmehr zu, wie man die erschlug, die aus der halben Revolution eine ganze machen wollten. Karl Liebknecht - Rosa Luxemburg - Tausende, Spartakus. Die Epp, die ganze faschistische Meute, die man damals rief, sind heute die Herrscher des braunen Deutschlands. Die haben immer gewusst, was sie taten. Zwei Tage vor der Abstimmung. Die Zeitungen schreiben, dass Hitler heute vor „seinen" Arbeitern sprechen will. In den Siemens-Schuckert-Werken. Das sind die größten Industriewerke Berlins. Hitler weiß, wo das Schwergewicht in diesen entscheidenden Fragen liegt. Mir fällt ein, was Franz damals, am ersten Morgen nach der Kanzlerernennung, sagte: „Ein Führer der Partei hätte bei Siemens sprechen müssen." In den späten Vormittagsstunden gehe ich nach Siemensstadt. Es ist von unserer Straße eine Dreiviertelstunde Weg. Ich komme am Bahnhof Jungfernheide vorbei. Hier haben wir uns an dem Morgen nach der Kanzlerernennung getroffen. Haben in den Zügen gesprochen, Flugblätter verteilt. Hier ist dann auch später Rothacker fast verhaftet worden. Rothacker. Wir haben zweimal von ihm gehört. Er ist mit seiner Familie in Prag. Es geht ihnen leidlich. Sie werden von einem Emigrantenkomitee unterstützt. Seine Frau verkauft außerdem auf der Straße Zeitungen. Weil sie hübsch ist, verkauft sie gut, erzählte uns der Genosse, der den Bericht gab. Die beiden verstanden sich doch nicht mehr so gut. Die ständigen wirtschaftlichen Sorgen, sie wollte immer „etwas vom Leben haben". Rothacker war auch fast doppelt so alt als sie. In der Emigration wird das Leben für die Frau noch schwerer sein. Besonders mit dem Kind, der vier Jahre alten Inge. Zehn Minuten lang geht der Weg eine breite Straße, den Nonnendamm entlang. Auch hier sind Transparente gespannt. Zu beiden Seiten der Straße sind nur Laubenkolonien. Auf einigen Lauben wehen Hakenkreuzfahnen. Müssen sie zeigen, an dem Paradetag heute. Vielleicht ist auch diese oder jene davon „echt". Das sind doch Strubbels Laubenkolonien. „Klei-Moskau" nannten wir sie früher. Wie wir damals in der Dämmerung zu dem Lahmen gingen. Die Schreibmaschine, der Abziehapparat - in der Futterkiste! Strubbel ist fort, der Lahme hat ihn ersetzt, arbeitet heute noch für uns. Hier hat sich die SA ausgetobt. Wie sie Herbert Ziemeck am hellen Tag mit Motorrädern gejagt haben. Dann schleppten sie ihn in die Maikowski-Höhle - tot. Einundzwanzig Jahre alt. „Jedem heimkehrenden Krieger sein Häuschen", hat Hin-denburg mal gesagt. Hier wohnen viele „heimgekehrte Krieger in ihrem Häuschen". Sie haben es sich selbst erbauen müssen. Mit Brettern und Dachpappe. Sind ja meist alle arbeitslos wie Strubbel. Der wohnte auch im Winter in seiner Laube. Die Miete für eine Wohnung konnte er nicht aufbringen. So geht's den meisten hier. Eine Brücke der Siemens-Schnellbahn überspannt die Straße. Drüben links beginnen die Siemenswerke. Dreizehn Stockwerke hoch ist das neue Verwaltungsgebäude dort. Ein Riesenkasten aus Glas und Beton. Gehört nur zu diesem Gebäudekomplex. Fünf Minuten weiter steht auf der anderen Straßenseite das „alte". Auch ein Mammutbau. Die meterhohen Zeiger der Uhr an dem dicken Vierkantschornstein, der aus der Fabrikstadt wächst, zeigen zwanzig Minuten vor zwölf. Dann müssen die „Führer" bald kommen. Um zwölf Uhr will der Adolf reden. Diese neuen Industriekästen haben sie hier erst in den letzten Jahren gebaut. Sie sind für die Gesellschaft Anlagekapital. Ich sehe zu den langen Fensterreihen hinauf. Viele Räume stehen dort auch jetzt noch leer, „nach der nationalen Ankurbelung der Wirtschaft", sagt Teichert. Er arbeitet ja in einem der Werke. Ob er mit seinen Kollegen bei der Hitlerrede sein muss? Auf der rechten Straßenseite stehen jetzt lange weiße Häuserreihen. Alles Neubauten. Moderner, sachlicher Baustil. Schon die alte Siemensstädter Wohnstadt war ein Angestellten- und Beamtennest. Die Werke wussten, warum sie ihre Angestellten hier ansiedelten. Der Schatten der Werke liegt auch in der Freizeit auf den Bewohnern, lässt sie nie „Privatmenschen" werden. Jeder kennt hier jeden. Die Neubauten rechts, größtenteils von den Werken erbaut, haben die Angestelltenstadt verdoppelt. Diese Kleinbürgerstadt musste eine Domäne der Nazis werden. Die Laubenkolonien der Arbeitslosen gehen bis an die weißen Häuser heran. Wie sie die Laubenkolonien immer gehasst haben!'Selten liegen die wirtschaftlichen und politischen Gegensätze einer Stadt so dicht beisammen. Wo die ersten Häuser beginnen, sind links und rechts von der Straße große Holzmasten eingerammt. Sie sind mit grünen Girlanden umwickelt, tragen ein riesiges Transparent: „Siemensstadt grüßt den Führer !" Auf den Bürgersteigen stehen Menschenschlangen. Zwei, drei Reihen hintereinander. Gerade hier hätte ich noch mehr erwartet. Zu beiden Seiten der Straße stehen lange Absperrungsreihen der SA. Die SA-Leute haben die Koppel abgeschnallt, halten sie von Mann zu Mann in den Händen. Vor einem Radiogeschäft steht eine Menschenmenge. Ich stelle mich dazu. Über der Tür ist ein Großlautsprecher angebracht. Achtzig Prozent Frauen, Schulkinder mit ihren Lehrern stehen hier. Sie haben sicher deshalb schulfrei. Die Frauen sind ausnahmslos gut gekleidet. Das schmale Gehalt wird den Monat über langgezogen. In den letzten Tagen isst man Margarinebrote. Aber auf jeden Fall muss man „anständig" aussehen. „Dicht, ganz dicht wird er vorbeifahren", sagt eine vollbusige Blondine mit verklärter Stimme zu ihrer Nachbarin. Die lächelt ölig. Die tun, als sei dies die Verheißung ihres Lebens! Aus einem Fleischerladen kommt der Inhaber mit seinen Verkäuferinnen. Sie tragen weiße Schürzen, weiße Hauben mit eingesticktem Monogramm auf dem Haar. Der Fleischer hat einen Hängebauch. „Für die Zeit wird geschlossen. Das sehen wir nicht alle Tage", sagt er laut zu einem der Mädchen und gestikuliert mit seinen Wurstfingern. Alle sollen das hören, nicht wahr, mein Lieber. Die Viertelstunde Nationalbewusstsein ohne Kasseneinnahme wird sich dann hier später gut verzinsen. Von vorn kommt plötzlich Bewegung. „Sie kommen... sie kommen!" geht es von Mund zu Mund. Die SA-Leute fassen ihre Koppelriemen fester, drängen die Menschen zurück. „Heil"-Rufe. Es ist nur ein Auto. Goebbels! Er hebt lässig dankend den Arm - vorbei. Einige Minuten später kommt seine Stimme aus dem Lautsprecher. Einleitende Worte über den Sinn der heutigen „Führerrede", an der Stätte „seiner deutschen Arbeiter". Während er noch spricht, drängt wieder alles zum Rinnstein. Wildes „Heil"-Geschrei setzt ein, die Arme gehen hoch, auch meiner. Hitler! Er steht aufrecht im Auto und grüßt. Nur drei Meter Hegen zwischen uns. Hitlers Gesicht ist von der Zugluft gerötet, es sieht dick und schwammig aus. Auf den „Führerbildern" sieht er verdammt „energischer" aus. Dicht hinter seinem Auto kommen zwei andere Wagen. Auf den Trittbrettern stehen SS-Leute. Absprungbereit. Sie haben die freie Hand an der aufgeklappten Revolvertasche. Schon sind sie alle vorbei. Die Rufe laufen wie eine Welle die Straße entlang. Drei Meter entfernt - deshalb reden manche von einem Attentat. Wahnsinn! Mit Hitlers Tod ändert sich nichts. Dann macht Göring, Goebbels oder irgendeiner von denen weiter. Aber in derselben Nacht sterben dann Tausende in den Konzentrationslagern. - Die hohe, verzückte Stimme der Frau neben mir reißt mich aus meinen Gedanken. Sie schlägt vor Begeisterung die Hände zusammen, ihr Dutt wackelt: „Wie der Führer aussieht - wie der Führer aussieht -den muss doch jeder gern haben —" Die Menschen drängen wieder zu dem Lautsprecher hinter uns. Es sind mehr geworden, alle rücken zusammen. Neben mir steht ein SA-Mann. Er hat den Sturmriemen der flachen Mütze unter dem Kinn. Was es für den hier Kampfmäßiges gibt? Der kommt sich so interessanter vor. Aus dem Lautsprecher kommt das Echo von „Heil"-Rufen. Dann Stille und Hitlers Stimme. - - „Vierzehn Jahre haben wir gekämpft - - marxistische Luderwirtschaft —" Immer dasselbe! Und jetzt! „Ich spreche in dieser Stunde mit Absicht gerade zu den deutschen Arbeitern, die in ihren Betrieben überall vor den Lautsprechern versammelt sind - wir wollen in diesem Kampf jedem unserer Gegner die Hand reichen, wenn er sich zur deutschen Ehre bekennt —" Die Stimme steigt steil an, überschlägt sich fast -. „Ich weiß, dass ihr niedrige Löhne habt - ich weiß das!" - Die nächsten Sätze hallen an meinem Ohr vorbei, ohne dass ich sie aufnehme. „Jedem unserer Gegner -" Das sagt der zu „seinen" Arbeitern?! „Ich weiß das -" Davon werden die Lohntüten nicht voller - gerade jetzt hat der es mal wieder nötig, die „soziale" Karte auszuspielen. Zu zeigen, wie er mit „der Not des kleinen Mannes" fühlt. - Ich schrecke auf. Die Stimme im Lautsprecher ist erloschen. Nur ein Knacken und Summen ist noch zu hören. Schon vorbei? Die rennen ja hier jetzt alle durcheinander, gestikulieren mit den Armen! - „Störung - Sabotage - Unerhört", rufen da einige Stimmen. Zwei SA-Leute laufen auf die Ladentür zu. Der Ladeninhaber erscheint im Türrahmen. Er wirft die Arme in die Luft, zuckt hilflos mit den Schultern. „Ist überall so - an meiner Anlage liegt es nicht", verteidigt er sich. Einige Minuten dauert die Unterbrechung schon. Der SA-Mann neben mir zupft nervös an seinem Kinnriemen. Sein Gesicht ist verzerrt. „Wieder Sabotage. - Die Kommune." Ich mache ein ungläubiges Gesicht. „Das ist doch wohl nicht möglich - heutzutage? - Die Leitungen werden doch sicher überwacht!" „Was soll's denn sonst sein!" sagt er wütend. „Aber die werden sie schon kriegen - die werden sie schon kriegen,!" Die Aufregung wächst. Plötzlich ist die Stimme des „Führers" wieder da, mitten in einem Satz:.....lange genug ehrlos ..." Ich gehe langsam nach Hause. Bei der Störung war der erste Gedanke des SA-Mannes: Kommune. Überall und immer haben sie das Gefühl des unsichtbaren Todfeindes, der ihnen an die Kehle gehen könnte. - Abends spreche ich mit Teichert. Erzähle ihm von meiner „Führerbesichtigung". „Hast du Adolf auch gesehen, du Siemens-Dreher? Hat er vielleicht einem Proleten »symbolisch' die Hand gedrückt?" „Denkste", sagte Teichert. „Lass dir erzählen, wie's im Dynamowerk war." Er lacht verächtlich. Dass mir seine zwei schwarzen Zahnstummel vorn immer wieder auffallen. „Von unserer Belegschaft war niemand dort. In allen Werken haben sie gesiebte Delegationen zusammengestellt. Alles höhere Angestellte und zuverlässige Parteifunktionäre. Die Proleten aus diesem Werk waren natürlich auch da. Aber sie standen hinter den anderen. Na, und die Lautsprecheranlage! Die war auf einem hohen Dynamostand montiert, mein Junge! Da hatten sie extra eine Holztreppe rangebaut. An der Treppe standen außerdem SS-Leute! - Weißt du jetzt, wie der Führer' zu ,seinen' Arbeitern spricht?" Wahlsonntag. Sprechchöre der Hitler-Jugend und der SA zogen schon am frühen Morgen in den Höfen umher. Sie bliesen Fanfaren, schrien dann Wahlparolen aus. Der Rundfunk unterbricht alle halben Stunden seine Sendungen. Er stellt immer wieder dieselbe Frage: „Deutscher Mann, deutsche Frau! Hast du deine Verpflichtung bereits erfüllt? Hast du schon der Regierung Adolf Hitler deine Stimme gegeben? Wenn nicht, tue es sofort!" Wochenlang geht das nun schon so. Rundfunk, Presse, Kino. Goebbels schüttet seine Wahlpropaganda millionenfach über das Reich. In allen Wohnungen unserer Straße haben sie heute früh Zettel abgegeben: „Dieses Haus steht unter der Kontrolle des Blockwartes Meyer, Haus Nr. 38. Stimmen Sie mit Ja'! Geben Sie diesen Zettel an der Wahlurne mit ab. Sie ersparen sich damit, dass wir Sie im Laufe des Tages kontrollieren kommen." Teichert hat dasselbe Wahllokal wie ich. Wir haben uns verabredet, wollen uns das Stadtbild ansehen. Erst wollten wir uns in einer anderen Gegend treffen. Es wäre sicher nicht ratsam, sich nach der Sache mit Kranz hier bei uns zusammen sehen zu lassen, meinte Teichert. Unsere Wohnungen seien ja „sauber", man müsse auch „frech" sein, das täusche immer am besten, habe ich ihm gesagt. Es wäre ja auch auffällig, wenn wir uns als langjährige Bewohner der Straße nun plötzlich „nicht mehr kennen würden". (Die Entlarvung von Kranz hat für uns keine weiteren Folgen gehabt. Er sitzt nicht mehr soviel in den Kneipen herum. Wird kein Geld haben. Wir bleiben wachsam, aber wir wissen: entlarvte Spitzel sind für die Nazis wertlos geworden. Sie verachten diese Burschen innerlich auch selbst, das ist so ähnlich, wie ihnen oft der Mut unserer Genossen imponiert. Hilde hat uns von solchen Gesprächen ihres Bruders mit seinen SA-Leuten erzählt. Wer selbst feige ist - und die meisten von ihnen sind es, sie kommen ja nie allein -, empfindet die Stärke des andern immer doppelt.) So blieb es dabei, dass ich Teichert abhole. Langsam gehen wir nun durch unsere Straße. - Sind wieder mehr Fahnen geworden. In den vereinzelten jahrhundertealten buckligen Häuschen hängen sie aus den Dachluken. Dicht unter den niedrigen bemoosten Dächern. Wir kommen an den Knick der Straße. Still ist sie am Sonntag. Drüben im Umformerwerk scheinen die Maschinen lauter, heller zu brummen. Selbst aus einem der großen geriffelten Fenster des hohen roten Backsteinbaues hängt eine Hakenkreuzfahne. Der Bretterzaun des Lumpenplatzes ist mit den großen gelben Lloyd-George-Plakaten beklebt. „Jeder Deutsche ein Lump, der nicht fordert..." Es wird bei uns eine ganze Menge „Lumpen" geben. Könnt ihr drauf warten. Teichert lächelt. Unter seiner Oberlippe kommen die beiden schwarzen Zahnstummel hervor. Er macht eine leichte Kopfbewegung zu den Fensterreihen links und rechts hinauf. „Volksgenossen - Sonderausgabe!" sagt er spöttisch. Ich sehe zu den beiden Hakenkreuzfahnen hinauf, die er meint. Zwei Genossen wohnen dort. Wir haben ihnen selbst geraten, zu flaggen. Wir müssen in unserer augenblicklichen Situation bei jedem einzelnen Genossen auch nur den Schein eines Verdachts vermeiden. „Hat doch seine Vorteile, Paul. Unsere Hinterhauswohnung." „Will ich meinen. Bist auch sonst nicht so im Rampenlicht." Praktisch ist es jetzt schon so weit, dass jedes Fenster an der Straßenfront unter Kontrolle der SA steht. Besonders bei uns. Heute früh ist die SA in die schwach beflaggten Häuser gekommen und hat sich drohend erkundigt, ob die Vorderhausmieter ohne Fahnen Juden seien. Gut, dass Ede nicht im Vorderhaus wohnt. Er hat schon so genug getobt: „Taktisch? - Watt heißt da taktisch sein! Jetzt mach'n unsre Jenossen schon für die Nazis Reklame!" hat er sich entrüstet, als wir den beiden Genossen sagten, sie sollten flaggen. Wir biegen in die Berliner Straße ein. Da drüben wohnt Hilde. Ich müsste sie wieder mal im Büro anrufen. Sie sieht Franz öfter als ich. - Hier hängen die Fahnen noch dichter. Wohnen auch nur Kleinbürger hier. Angestellte, Beamte, Leute mit freien Berufen. Dass die Arbeitergegenden bei uns alle so in sich abgeschlossen sind! Immer nur einige Straßen. Ist eine Beamtenstadt, Charlottenburg. Die Vertreter der Arbeiterschaft in der städtischen Verwaltung, die proletarischen Organisationen selbst haben bei uns immer gegen eine Bürgermehrheit kämpfen müssen. Schon in der Vorkriegszeit. Deshalb waren die Charlottenburger Arbeiter schon immer sehr revolutionär, immer im Angriff. Ich sehe Teichert an. Die starken Backenknochen, die blasse Haut darüber, das schüttere, dunkelblonde Haar mit den tiefen Ecken. Ein Arbeitergesicht. Steht nichts Besonderes drin, wie bei uns allen. Einer geht davon aufs Dutzend. „Was macht eigentlich deine Frau, Paul?" „Was soll sie machen? - Sie weiß doch wenig von uns. Schon früher nicht." Klingt, als ob er sich längst mit etwas Unabänderlichem abgefunden hätte. Klein und pusslig ist die Frau. Nicht mehr jung. Für politische Probleme hat sie sich nie „interessiert". Sie kennt nur eins: „Mein Heim, meine Welt." Sie würde ihn sicher unter Tränen beschwören, „sich nicht unglücklich zu machen", wenn sie von seiner illegalen Arbeit wüsste. Wie man so nebenherleben kann. Ich stelle mir die Ehe eines Genossen anders vor. Teichert zieht einen Zettel aus der Tasche. Es ist der Kontrollzettel des Blockwartes Meyer. „Die erreichen damit ihren Zweck, sage ich dir!" Er schlägt die Faust in die andere Handfläche. „Die Nazis wollen in den Stimmlisten feststellen, wer noch nicht gewählt hat. Und die meisten glauben tatsächlich, dass die gleichzeitig feststellen, wofür sie gestimmt haben!" Ich nicke nur. Wie muss es erst auf dem Lande aussehen! Einer kennt da den andern. Selbst hier kann unsere Agitation gegen die gewaltigen Mittel des Staatsapparates nur bedingt sein. Wir haben in unserem Bezirk kleine Zettel gestreut. Mit Hammer und Sichel und dem Aufdruck „Nein!" In allen Stadtteilen ist das geschehen. Ede hatte bei uns wieder die gefährlichsten Ecken. Er ging wieder ohne Glasauge, mit der Blindenbinde und dem tastenden Stock. In unserer Straße haben wir aber nicht gestreut, nur diskutiert. Wir wollen nach der Kranz-Affäre die SA nicht gleich wieder auf uns hetzen. Und doch, diese Zettel werden nicht nur eine Aufforderung sein, mit „Nein" zu stimmen. Auf jeden Hitlergegner werden sie auch moralisch wirken. Werden ihm zeigen, dass wir nicht auszurotten sind. Teichert stößt mich an. Er will etwas sagen, kommt aber nicht mehr dazu: zwei SA-Leute stehen vor uns. „Heil Hitler!" „Heil Hitler!" „Haben Sie schon eine Wahlplakette?" „Wahlplakette? - Nein", sagt Teichert. „Dann waren Sie auch noch nicht wählen?" „Nein." „Gehen Sie gleich, rate ich Ihnen. Sie werden sonst überall auf der Straße angehalten!" „Die Wahlplakette bekommen Sie dort", erklärt der andere SA-Mann. Er rückt an seiner Brille. „Anstecken! Ist der Ausweis, dass Sie gewählt haben!" Die beiden heben den Arm und gehen weiter. „Komm, Jan!" sagt Teichert wütend, als wir ein Stück weiter sind. „Unsere Antwort können sie gleich haben!" Wir kommen an einer Straßenbahnhaltestelle vorbei. Auch hier kontrolliert die SA die Wartenden. Wir gehen langsamer. Eine dicke Frau, zwei Koffer stehen vor ihr, lamentiert erregt. „Aber ich muss doch nach Spandau - zu meinen Verwandten!" „Erst gehen Sie in Ihr Wahllokal. Sie werden auch in Spandau kontrolliert, dann ist's zu spät!" hören wir den SA-Mann sagen. „Aber die warten doch mit dem Essen ...!" fängt die Frau wieder an. „Begreifen Sie doch! Ohne die Plakette kommen Sie heute nicht weiter!" fährt sie der SA-Mann an. Die Frau nimmt wütend einen Koffer auf und geht. Jetzt erst sehen wir, dass ein kleiner Mann zu ihr gehört. Er trägt den anderen Koffer. Wir gehen hinter den beiden her. „Hab's dir gleich gesagt - ich wollte mit der Eisenbahn fahr'n!" schimpft die Frau auf den Kleinen. „Soso, Eisenbahn! Hast wohl nicht jehört, watt Fritze erzählt hat? Die lassen keenen ohne Plakette zur Sperre ruff!" verteidigt sich der Mann. „Da kontrollieren se erst | recht!" Das Wahllokal ist in einer Kneipe. Die Menschen stehen in langer Schlange davor. Die Reihe geht durch den Ausschank- I raum in ein Nebenzimmer. Als wir im Türrahmen stehen, können wir da hineinsehen. An quergestellten Tischen sitzt der Wahlvorstand. Die Männer tragen alle nationalsozialistische Abzeichen. Gleich links, hinter der geöffneten Flügeltür, stehen auf Tischen drei Kästen. Ein grüner Vorhang hängt davor. Zwei SA-Männer, der eine hat eine Sammelbüchse, der andere einen Pappkarton mit Abstimmungsplaketten in der Hand, stehen links und rechts im Türrahmen. An einem der Tische blättert ein Mann in einer dicken Liste. Er wiederholt laut die Namen, manchmal fragt er zur Bestätigung nach dem Geburtsdatum. Neben ihm sitzt einer mit einem Naziparteiabzeichen und streicht jedes Mal in einer eigenen Liste die genannten Namen an. Die haben sich die Wahlliste des Bezirks abgeschrieben. So kontrollieren sie also, wer nicht wählen kommt, holen ihn dann. - „Dieses Haus - Kontrolle - Blockwart Meyer -." Die Wähler treten mit dem empfangenen Kuvert, in dem die Abstimmungsscheine liegen, der Reihe nach an die Kästen links neben der Tür. Hinter dem Vorhang machen sie ihre Kreuze. Bei manchem bleibt er in der Eile halb zurückgeschlagen. Zwei Meter entfernt stehen die beiden SA-Leute. Sie sehen zu den Vorhangkästen hinüber, als müssten sie die vor Diebstahl schützen. Der Vorschrift ist Genüge getan. Die SA ist nicht im Abstimmungsraum - nur an der Schwelle. Teichert blinzelt mir zu. Er hat dieselben Gedanken. Auf nicht fest entschlossene Neinsager muss auch dies einschüchternd wirken. Ich sehe mir unwillkürlich die hinter uns Stehenden an. Arbeiter, Arbeiterfrauen. Ihre Kleidung, die verarbeiteten Hände zeigen es. Ihre Gesichter sind ernst, unbewegt. Wie von einem Vorhang verdeckt. Als wir den Raum verlassen, bietet uns der SA-Mann mit der Pappschachtel Abzeichen an. Der andere streckt die Sammelbüchse vor. „Wir sind arbeitslos", sagt Teichert. Sie geben uns die Plaketten umsonst. Sie sind aus Blech. Ein „Ja" ist darin eingestanzt. Draußen sagt Teichert: „Da bleibt einem wirklich die Spucke weg bei der Frechheit! Ihre Kontrollmarke soll man ihnen auch noch bezahlen. Ich hänge mir den Eselsorden nicht an!" „Eselsorden? „Lies doch: J-A. Macht doch schon überall die Runde." - Zwei Tage später. Hilde erzählt uns, dass ihr Bruder mit seinen SA-Leuten erregt diskutiert hat. Sie waren bestürzt, dass es nach mehr als einem Dreivierteljahr der Machtübernahme noch fast fünf Millionen Neinsager gibt. „Unter den Umständen und nach ihrer Statistik", sagte Teichert darauf. „Die kann doch kein Teufel prüfen." „Das Charlottenburger Wahlergebnis ist mit das beste", stellte ich fest. „Achtunddreißigtausend Neinsager haben wir. Selbst die viel größeren Arbeiterbezirke Friedrichshain und der Wedding haben nur einige vierzigtausend." „Der Terror der Dreiunddreißiger; - bei uns fühlen die Arbeiter das Dritte Reich vielleicht am stärksten." Ich konnte meine Aufzeichnungen eine Zeitlang nicht fortsetzen. In meinem Zimmer konnte ich nicht mehr weiterschreiben. Unsere Nachbarin (ihre Wohnung grenzt an meine Zimmerwand) hat meiner Wirtin gegenüber erwähnt, dass bei uns eine Schreibmaschine klappere. Meine alte Wirtin hat der Nachbarin dafür die harmlose Erklärung gegeben, die ich bei ihr vorschütze. Sie ahnte ja auch nicht, was ich tippe. Ich bin für sie ein pünktlich zahlender Mieter - außerdem „ein netter Mensch". In den Tagen vorher waren schon einige ähnliche Zwischenfälle. Einige Male kamen beamtete Personen in unsere Wohnung, während ich schrieb. Ich konnte jedoch die geschriebenen Bogen noch schnell verstecken, aber die Schreibmaschine sahen sie. Wir wissen, dass die Nazibehörden allen Beamten, die dienstlichen Zutritt zu Wohnungen haben, einschärfen, auf die Gespräche der Mieter, überhaupt auf alles zu achten. Eine Schreibmaschine - bei einer „gewöhnlichen" Privatperson, die noch dazu in einem Arbeiterbezirk wohnt - muss auffallen! Ich hatte mich deshalb schon lange nach einem anderen Arbeitsraum umgesehen. Ein Sympathisierender, der in einer anderen Stadtgegend wohnt, hat mir jetzt ein Zimmer zur Verfügung gestellt. Ich habe ihm angedeutet, dass ich etwas „Verbotenes" schreibe. Ihm gegenüber musste ich das tun. Ich gehe jetzt immer auf einige Stunden dorthin. Ich habe mir in dem Zimmer eine Vorrichtung geschaffen, in der ich im äußersten Falle die geschriebenen Seiten und meine Notizen sofort verschwinden lassen kann. Vor zwei Tagen hat Franz sein Quartier in dem neuen Bezirk wechseln müssen. Der Schlag ist auf die Familie Lamprecht gefallen. Das ist die Familie, bei der ich damals mit Käthe war. Franz hat mir alles erzählt. Er stand vorgestern in Lamprechts Küche und rasierte sich. Die Genossin Lamprecht wollte mit ihm zu einer ihrer Abziehstellen gehen, wo sie Zeitungen abzuholen hatten. Rudi, der Monteurgenosse mit dem feuerroten Haar und dem Sommersprossengesicht, zog die Zeitungen dort mit einem anderen Genossen ab. (Mit Rudi und seinem Freund, dem „Boxer-Bruno", haben wir damals in der Tanzbar Zeitungen hergestellt.) Franz, der sich eben erst eingeseift hatte, sagte: „Wart doch, bis ich den Bart abgehackt habe, Erna." „Ich gehe lieber schon vor", sagte die Genossen Lamprecht. „Das Mädel schläft gerade, und in knapp einer Stunde kommt Kurt schon vom Kohlenplatz. Das klappt sonst mit dem Essen nicht. Ich bringe seine Zeitungen schnell zu der Verteilungsstelle. Dann spart Kurt den Weg. Er ist abends immer todmüde." - Ich kenne diese Abziehstelle gut, denn ich war mit Franz schon dort. Es ist ein kleiner Laden. Elektrische Beleuchtungskörper hängen im Schaufenster. Gas- und Wasserleitungshähne, Glühbirnen liegen in der Auslage. Dahinter hängt an der Auslagenwand ein grün umkränztes Hitlerbild. Auf der Schaufensterscheibe steht: „Gas- und Elektro-Installationen" und darunter groß: „Deutsches Geschäft!" Der Besitzer des Ladens, der Genosse Schwante, ist schon ein alter Mann. Er trägt immer einen ausgeblaßten blauen Monteuranzug und, da er sehr kurzsichtig ist, eine schmale, altmodische Nickelbrille. Sein Gesicht ist braungebrannt und sehr faltig. Es sieht wie eine verwitterte Lederhaut aus. Jeden Sonnabend fährt er in die Provinz angeln. Das ist seine einzige Passion. Er ist Junggeselle. Im Laden stehen an den Seiten lange Regale. Kupferdraht, Zangen in allen Größen und Formen, Bleirohrstücke und anderes liegen da immer wüst durcheinander. Der alte Schwante ordnet das Zeug nie. Er hat vielleicht auch keine Zeit dazu, denn er schlägt sich mit kleinen Reparaturen geradeso durch. Der alte Strippenzieher Schwante bringt die Genossen des Bezirks auf seine Art „in Lohn und Brot", hat Franz damals scherzend zu mir gesagt. In dem hinteren Arbeitsraum steht nämlich auf einem langen Tisch ein Abziehapparat. Es ist eine große moderne Kiste. Sie legt die Bogen selbsttätig an und stapelt sie hinter den Gummiwalzen beschriftet auf. Sie hat sogar eine automatische Zählvorrichtung, an der man die Stückzahl der fertigen Bogen ablesen kann. Sie war immer groß, der Apparat arbeitet schnell. Er macht zwar Krach für drei Apparate. Das schadete dort nichts. Es war ja ein gewerblicher Betrieb. Franz ging zehn Minuten später als Erna zu Schwantes Laden. Ein Stück davor stutzte er. Auf der anderen Bürgersteigseite hatte sich eine Menschenmenge angesammelt. War bei Schwante etwas passiert? Franz erschrak. Er stellte sich hinter die Leute, es kannte ihn ja niemand. Da sah er es. Am Rinnstein vor Schwantes Laden stand ein Überfallauto! Franz zitterte. - Die sind hoch - die sind hoch - du darfst dir nichts anmerken lassen, hat keinen Sinn, dass du auch noch - ob Erna schon drin ist? - was kann ich jetzt tun? - „Mein Kopf schmerzte, als wollte er zerspringen", erzählte Franz. Plötzlich flog drüben die Ladentür auf. Blassgrün Uniformierte kamen heraus, blanke Nickelschilder baumelten auf ihrer Brust. Görings Feldpolizei! Sie hatten drei Zivilisten in der Mitte, stießen sie auf das Auto. - Erna Lamprecht - der alte Schwante - und ein großer hagerer Genosse. Den kannte Franz nur flüchtig, er hatte ihn mal mit Rudi getroffen. Aber wo war Rudi? Sein Rotkopf war nicht dabei. Er sollte doch mit abziehen - war er vielleicht schon vorher gegangen? Und der andere da - der vierte Zivilist - das war doch? - Seifahrt! Und der spricht mit der Feldpolizei - sie werfen ihn nicht in das Auto?! Franz stand wie gelähmt. Drüben fuhr das Auto ab. Die Menschen verstreuten sich. Sie tuscheln leise. Du musst weitergehen! riss sich Franz zusammen. Er machte erzwungen ruhige Schritte. So ging er bis zur nächsten Ecke, dann rannte er. Dann plötzlich wusste er, was er zu tun hatte! Er rannte eine Viertelstunde lang, mit keuchenden Lungen. Zum Kohlenplatz! Kurt, Ernas Mann, warnen! - Er kam zu spät. Zwanzig Minuten später erfuhr er, dass Kurt der Feldpolizei direkt in die Arme gelaufen war. Sie saß bereits in seiner Wohnung, als er kam. Lamprechts Nachbarn hatten das kleine Mädel der beiden in ihre Obhut nehmen wollen. Die Feldpolizei ließ es nicht zu. Aber eine sofortige Haussuchung hatte das Angebot den Nachbarn eingebracht. |
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