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Jan Petersen - Unsere Straße (1933)
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An demselben Abend ging Franz zu Bruno. Zu Bruno, Rudis bestem Freund. Schon im Türrahmen sah Franz zu Brunos düsterem Gesicht, dass der schon alles wusste. Franz ahnte nicht, dass er noch nicht alles wußte. Bruno führte ihn schweigend in sein Zimmer. Dort ließ er sich auf einen Stuhl fallen, vergrub sein Gesicht in den Händen. Franz sah, wie Brunos Schultern unter einem trockenen Schluchzen zuckten. Bruno, der Fichteboxer, dachte er. Der starke Junge, der in der schwierigsten Situation nicht den Humor verlor. Jan hat mir doch erzählt, wie kaltblütig er blieb, als bei dem Braunbuchlesen die SA kam. Dass wir jetzt mit den SAJ-Genossen arbeiten, das ist überhaupt sein Werk. Das Schweigen im Zimmer lag wie eine Zentnerlast auf Franz.
Er sagte: „Seifahrt - der Lump - der Verräter!"
Da riss Bruno mit einem Ruck den Kopf hoch, sah Franz mit weit aufgerissenen Augen an. Sein Gesicht verzerrte sich.
Was hat er denn - weiß er das noch nicht? dachte Franz.
Er sagte langsam: „Der ging doch neben der Feldpolizei -sprach mit ihr - aber wo ist denn Rudi?! - Er war nicht dabei!"
Bruno sprang plötzlich auf, stieß polternd den Stuhl zurück. Er schrie, schrie laut, als ob in dieser Zeit nicht alle Wände Ohren hätten: „Seifahrt - der Seifahrt?! - Dann ist Seifahrt sein Mörder!" Dann ließ sich Bruno wieder auf den Stuhl fallen. Er sagte: „Rudi - Rudi - ist doch dabei erschoss'n worden..."
Franz wohnt jetzt bei Bruno. Er sagt, dass der ein anderer Mensch geworden sei. Bruno ist abgemagert. Er sitzt bei den Mahlzeiten, wenn alle diskutieren, stumm am Tisch. Er isst apathisch. Bruno ist zu keiner disziplinierten Arbeit mehr zu gebrauchen. Wie ein nimmermüder Vogel umkreist ihn Tag und Nacht nur ein Gedanke: Rache für Rudi! Er ist immer unterwegs, kommt dann spät nachts nach Hause.
Der Bezirk hatte wenige Tage nach dem Vorfall ein Flugblatt herausgegeben. Bruno hat so lange gedrängt, bis er die Gesamtauflage erhielt. Die anderen Genossen erzählen Franz, dass überall, wo Seifahrt auftaucht, die Flugblätter mit ihm gehen. Bruno folgt ihm wie sein Schatten. Seifahrt wechselte seine Wohnung. Er geht jetzt nur noch in SA-Begleitung. Trotzdem findet man ihn eines Abends in seinem Hausflur schwer verletzt auf. Bruno kommt in dieser Nacht mit einem zerkratzten Gesicht nach Hause.
Doch auch im Krankenhaus lässt Bruno dem Seifahrt keine Ruhe. Klebezettel über Seifahrts Tür tauchen dort an den Wänden auf. In der Station, auf der Seifahrt liegt. Als Seifahrt aus dem Krankenhaus entlassen wird, zieht er wieder in eine andere Straße. Die SA hat inzwischen einen regelrechten Überwachungsdienst eingerichtet. Sie kontrolliert überraschend die Taschen der Personen, die das Haus betreten. Bruno ist jedoch nicht abzuschütteln. Nach einigen Tagen stehen auf Seifahrts Treppenflur, tief in die Wand eingegraben, die Worte:
„Achtung! Der Arbeitermörder Seifahrt wohnt jetzt hier!"
So jagt Bruno, der immer gegenwärtige Ankläger, sein Opfer durch die Großstadt. So macht er Seifahrt jede weitere Spitzeltätigkeit unmöglich. Seifahrt ist wie ein gehetztes Wild, das nie weiß, wo der Feind lauert. Denn er kennt Bruno nicht.
Brunos Rachefeldzug hebt das Kraftbewusstsein der Genossen. Er zeigt ihnen, dass sie trotz Terror der SA und der Polizei auch Spitzeln gegenüber nicht wehrlos sind.
Eines Tages gab Seifahrt es endlich auf. Er verschwand unauffällig aus dem Bezirk. Auch Bruno fand seine Spur jetzt nicht mehr. Da sagte er zu Franz: „Einmal finden wir ihn -dann rettet ihn niemand mehr!"
Ich warte am Untergrundbahnhof Wittenbergplatz. Auf Käthe, mein Mädel. Ich habe sie im Büro angerufen. Wie lange habe ich Käthe nicht gesehen! - Diese Zeit hat unser persönliches Leben verschluckt. Nicht nur unser eigenes - das aller Genossen. Ob es den andern auch so geht wie mir? Immer häufiger habe ich jetzt den Wunsch, Käthe zu sehen. Zu wissen, da ist jemand, der dich versteht, mit dem du über alles sprechen kannst, über alles. Gewiss, es ist schon viel, die Genossen zu haben. Menschen, die in diesem Land, in dem jeder und alles zur braunen Schablone geworden zu sein scheint, ihren klaren Verstand behalten haben. Der Wirbel der Ereignisse, die Ungewissheit des nächsten Tages hat unsere persönliche Bindung viel, viel stärker gemacht. Ja, wir wissen heute mehr denn je, was wir aneinander zu verlieren haben. -- Am Kaufhaus drüben leuchten grell die Lichtreklamen. Die ganze Tauentzienstraße ist von rotem und blauem Licht überschüttet. Am Straßenende steht klobig und breit die Gedächtniskirche. Die Fußgänger schieben sich in dichten Reihen über die Bürgersteige, an den Auslagen der Läden vorbei. Dicht vor mir schwenken zwei Schupos ihre Arme mit den weißen Stulpen, dirigieren lange Autoreihen um den Platz inmitten der Straße, auf dem ich stehe. Aus der Untergrundbahn kommt eine Menschenmenge. Käthe! Ihre braunen Augen glänzen.
Ich nehme ihre Hand. Käthe hängt sich fest in meinen Arm. Langsam gehen wir durch das Menschengewühl. Wochenlang haben wir uns auf dieses Wiedersehen gefreut, es gäbe nun so viel zu reden. Jetzt aber bleiben wir stumm. Sehen uns nur an, drücken uns die Hand. Nein, jetzt nicht - nachher. Wir werden irgendwohin gehen, uns setzen. Käthes kleine trippelnde Schritte, denen ich mich anpasse, die Wärme ihrer Hand, mir ist, als ob wir hier nur allein gehen. Blass und abgespannt sieht sie aus. Ihr Gesicht ist schmal geworden. Oder macht es ihr hellblondes Haar, das grelle Licht hier?
An einer Ecke steht eine Heilsarmeegruppe und singt. Eine Frau streckt uns eine Sammelbüchse entgegen. Ihr rotes, volles Gesicht unter der großen Schute lächelt ölig.
In einem kleinen Cafe wählen wir einen einzelnen Tisch am Fenster. Hinter der Scheibe zieht rastlos der Strom der Fußgänger vorbei, wie dumpfes Brausen kommt der Verkehrslärm zu uns herein. Käthe rückt dicht zu mir heran. Ich spüre ihre Wärme. Schweigend rührt sie in ihrer Tasse, sieht mich immer wieder lächelnd an. Ich ziehe den Rauch meiner Zigarette tief ein. Schön so. -Käthe sieht mich wieder an.
Sie sagt: „Mutter ist krank. Liegt schon ein paar Tage." „Krank?! - Doch nichts Ernstes?" „Nein. Immer dasselbe."
„Sie fragt immerzu nach Franz", sagt Käthe wieder. „Ich habe ihm nicht erzählt, dass sie krank ist. Beunruhigt ihn bloß."
„Wann hast du ihn denn getroffen?" „Gestern. Hilde war auch dort."
„Ich sah ihn vorige Woche. - Ist bei denen alles in Ordnung?"
„Ja. Es geht ihm gut."
Ich atme auf. Hat er also den beiden Mädels von der Sache mit Rudi und Bruno nichts gesagt. Auch er wollte sie nicht beunruhigen.
Lange schweigen wir. Dann sage ich zu Käthe, dass wir Weihnachten rausfahren sollten. Irgendwo in die Provinz. Ihr Gesicht wird rot vor Freude. Sie legt ihren Arm um mich. Ihre Augen werden ganz blank. Mit dem Gefühl der Vorfreude machen wir „Reisepläne". Am liebsten möchte sie in die Mecklenburgische Schweiz, sagt Käthe. Die tiefen Wälder, die vielen Seen dort. Wir überrechnen die vermutlichen Ausgaben. Unsere „Reisekasse" würde gerade langen, freuen wir
uns. Ich bringe Käthe noch bis zur zweiten Querstraße. Dann trennen wir uns.
Langsam gehe auch ich, aus einer anderen Richtung kommend, in unsere Straße zurück. Vielleicht schneit es bis Weihnachten. Wir werden durch einsame Wälder laufen. Rumtollen. Uns schneeballen. Spaß macht es, Steine auf das Eis der Seen zu werfen. Vielleicht kann man auch die Schlittschuhe mitnehmen. Abends werden wir dann in irgendeinem Dorf sein. Wenn wir dann durch die stille, verschneite Dorfstraße gehen, ist es immer, als ob man Neuland entdeckt. Hinter den niedrigen Fenstern wird Licht sein - man sehnt sich dann nach der warmen Wirtshausstube - Käthe! Wir werden wieder zusammen sein. Tagelang - tagelang -
Der Maikowski-Prozeß läuft nun schon tagelang. Die Presse schrieb bereits, dass die Plädoyers der Staatsanwälte für Anfang Januar zu erwarten seien. Seit dem Marsch der Dreiunddreißiger durch unsere Straße, in der Nacht der Kanzlerernennung, ist nun bald ein Jahr vergangen. Das Urteil soll wohl unbedingt vor dem Jahrestag gefällt werden, als „symbolische Sühne". Aus den Zeitungsberichten über den Prozess ersehen wir klar, dass es den Staatsanwälten noch immer nicht gelungen ist, den angeklagten Genossen nachzuweisen, dass sie den Sturmführer Maikowski und den Polizisten Zauritz erschossen haben. Trotzdem ein riesiger Apparat in Bewegung gesetzt, die Vorgänge der fraglichen Nacht bis in die geringsten Einzelheiten zerlegt wurden. Die gesamte gleichgeschaltete Presse schreibt aber immer nur über den „Mordüberfall der Kommune". Damit soll in der Öffentlichkeit der Begriff „kommunistische Mörder" gezüchtet werden. Keine der Zeitungen erwähnt auch nur mit einer Zeile die Tatsache, dass die SA durch die Wallstraße marschierte, obwohl sie damals der Rückmarsch vom Fackelzug zu ihrem Sturmlokal durch Straßen hätte führen müssen, die völlig entgegengesetzt liegen. Durch ihren Einmarsch in unsere Straße hat doch die SA erst die Möglichkeit eines Zusammenstoßes herbeigeführt. Wir wissen es, sie wollte unsere Straße im ersten Siegestaumel der Machtübernahme „im Sturm nehmen". Die angeklagten Genossen müssen in der Gerichtsverhandlung zumindest auf diesen Einmarsch hinweisen; denn die Presse deutet Entkräftigungen und Widerlegungen der Angeklagten an, die „bewusste Verdrehung und Lüge" seien. Auch die Gerichtsverhandlung muss für die Genossen eine furchtbare seelische Folterung sein. (Wie müssen sie erst vorher bei den monatelangen „Vernehmungen" gelitten haben!) In den Prozessberichten der Zeitungen steht oft der nüchterne, gemeine Satz: „Die Verhandlung musste abgebrochen werden, weil eine Angeklagte wieder mal ihre Schreikrämpfe bekam ... weil ein Angeklagter, wie schon oft ausprobiert, mit Krämpfen umfiel..."
Die nationalsozialistischen Zeitungen haben aus Maikowski bereits einen „Nationalhelden" gemacht. Den SA-Sturm 33 bezeichnen sie immer nur als „den Ehrensturm Deutschlands, den Sturm der alten Kämpfer". Goebbels „weihte" unlängst auf dem Tempelhofer Feld neue Fahnen der Partei. „Durch Berühren mit der Blutfahne Maikowski." Die darüber veröffentlichten Bilder zeigen den Sturm 33 als „Ehrenspalier" vor der Rednertribüne. Es gab bisher nur die „Blutfahne vom 9. November 1923". (Die Fahne, die damals bei ihrem Putsch in München getragen wurde.) Es gab nur einen „Nationalhelden": Horst Wessel. Der von seinen eigenen SA-Leuten erschossene Maikowski ist jetzt ihr zweiter „Märtyrer". Dies alles hat unsere Sorge um die angeklagten Genossen noch größer gemacht. Um so mehr, als die Nazizeitungen jetzt schon offen nach den Köpfen der Angeklagten schreien.
Trotz alledem steht der Maikowski-Prozeß nicht im Blickfeld der Öffentlichkeit. Der Reichstagsbrandprozeß überschattet ihn immer stärker. Nach der Vernehmung von Göring und Goebbels ist die Spannung über den Ausgang dieses Prozesses in allen Kreisen der Bevölkerung auf das höchste gestiegen. Die Menschen holen sich die Berichte über den Prozess aus den ausländischen Zeitungen. Nie sind diese soviel
bei uns gelesen worden wie jetzt. Überall, in den Bahnen, in den Cafes, sitzen die Menschen und lesen in ausländischen Zeitungen. In den Cafes gehen diese Zeitungen von Hand zu Hand, jeder wartet schon darauf, dass sie der andere ausgelesen hat. Denn nicht alle haben Geld genug, ausländische Zeitungen zu kaufen.
Doch selbst die deutsche Presse hat dem Diktator Göring eine Ohrfeige geben müssen. Als Göring von der verbrecherischen Weltanschauung des Kommunismus sprach und Dimitroff ihn kühn fragte, ob ihm bekannt sei, dass diese verbrecherische Weltanschauung den sechsten Teil der Erde, nämlich die Sowjetunion, regiere, brauste Göring wieder auf. Ihm sei zunächst bekannt, dass die Russen mit Wechseln bezahlten, aber ihm sei nicht bekannt, dass diese auch eingelöst würden. Tags darauf erschien in der deutschen Presse ein amtliches Dementi, das feststellen musste, „dass die Sowjetregierung bis zum heutigen Tage ihren Verpflichtungen in Deutschland pünktlich nachgekommen ist". Die Notiz war in allen Zeitungen ganz klein gedruckt, sie wurde außerdem an versteckter Stelle gebracht, aber unsere Genossen gaben sie schmunzelnd von Hand zu Hand. Nicht nur wir haben uns darüber gefreut. In den Lebensmittelgeschäften hörte ich die Leute darüber sprechen: „Die haben es nötig, so zu reden ..."
Alle Verdrehungen und Unterschlagungen können nicht mehr verhindern, dass die Wahrheit über die wirklichen Brandstifter in immer weitere Kreise dringt. Wo unsere illegalen Flugblätter und Zeitungen nicht hinkommen, bringen die Radiowellen des Moskauer Senders Aufklärung. Überall sind Hörergemeinschaften organisiert worden, jetzt auch in unserer Straße. Jeden Abend hören wir die Prozessberichte. Sie werden dann von den Genossen mündlich weitergetragen. Hilde erzählte uns, dass sogar SA-Leute, die zu ihrem Bruder kommen, über diese Nachrichten des Moskauer Senders sprechen. Einige voller Wut, andere, um „nur Neuigkeiten mitzuteilen". Göring ist sich klar darüber, welchen Umfang dieser Radioempfang bereits angenommen hat. Er erließ eine Verfügung: „Der Radioempfang ausländischer Sender und das gemeinsame Abhören derselben wird als staatsfeindliche Versammlung betrachtet und dementsprechend bestraft."
Die Verfügung wird Druckerschwärze bleiben, zumindest für uns. Görings „Kollege" Goebbels „unterstützt" uns hierbei hilfreich. Auf seine Anweisung hat die deutsche Radioindustrie die Fabrikation von so genannten Volksempfängern aufgenommen und dieselben verhältnismäßig billig herausgebracht. Man kann diese kleinen Apparate für wenige Mark Anzahlung erwerben und zahlt dann die restliche Summe in kleinen Monatsraten ab. Mit diesen Apparaten kann man nur die deutschen Sender empfangen, das war auch der Zweck der Übung. Unsere Radioamateure hatten jedoch bald heraus, dass man die Reichweite dieser Apparate mit einem kleinen Zusatzgerät, das nur einige Mark kostet, erhöhen kann. Jetzt hören mit solchen Radios viele Genossen - die nie das Geld für einen teuren Fernempfangsapparat aufbringen konnten -Moskau.
Heute ist „Heiligabend". Ich habe mich mit Ede verabredet. Ede will zur Verteilungsstelle des Winterhilfswerkes gehen. Zu der NSV,
„Kannste ruhig mitkomm. Die stehn da imma uff der Straße an. Wenn ick drankomme, kommste eben nich mit rin, fällt janich uff", hat mir Ede auf meine Bedenken erwidert. „Da kannste aber mal hör'n, watt die Leute so reden", meinte er dann.
Aus diesem Grunde hatte ich die Sache mit ihm überhaupt nur besprochen. Wir wollen uns aber doch erst in der Nähe der Verteilungsstelle treffen. Es ist von unserer Straße knapp zehn Minuten Weg.
Winterhilfswerk. - Teichert hat mir erzählt, dass in seinem Betrieb jeder wöchentlich fünfzig Pfennig dafür „opfern" muss. Eine von den vielen „freiwilligen" Spenden. Der Nazifunktionär lässt bei ihnen am Geldtag eine Liste herumgehen, auf der schon alle Namen stehen. Dahinter ist auch meist der Geldbetrag eingesetzt, und so traut sich niemand, weniger als sein „Vorgänger" zu geben. Freiwillige Spender bekommen eine Winterhilfsplakette. Die runden, bebilderten Papierrosetten mit der Aufschrift „Wir helfen" kleben in allen Häusern, auch in meinem, an vielen Wohnungstüren. Sie haben jeden Monat eine andere Farbe. An manchen Türen ist schon eine richtige „Bilderkollektion". Für die Scharen der Sammler, die in allen Häusern mit klappernden Büchsen herumlaufen, sind sie der Ausweis, dass diese Mieter schon „geopfert" haben. Teichert erzählte, dass die Proleten für die fünfzig Pfennig, die sie auf der Sammelliste „zeichnen", noch keine Papierrosette bekommen. Das sind gewissermaßen „Pflichtgroschen". Sie müssen für die Plakette erst noch mal fünfzig Pfennig „spenden". Die meisten täten das auch, meinte er, damit sie wenigstens in ihren Wohnungen Ruhe hätten. -In der Krolloper eröffnete Hitler „feierlich" das Winterhilfswerk. Er sprach zu den Versammelten, zu Krupp, Siemens, Thyssen und anderen Großindustriellen, zu den Parteibonzen in ihren Prunkuniformen, von diesem „Sozialismus der Tat". Er feierte Goebbels als den Organisator „dieser größten sozialen Tat in der Geschichte". Unsere arbeitslosen Genossen haben mir erzählt, was sie von der NSV bekommen. Einige zehn Pfund Kartoffeln, einen Zentner Kohlen, ein Pfund Margarine, monatlich! Die Margarine nicht einmal gratis. Nur zu „verbilligten Preisen". Auch für Kohlen und Kartoffeln muss zugezahlt werden. „Dett hab ick früher vom ,System'-Wohlfahrtsamt ooch schon jekriegt, und da war die Jeldunterstützung obendrein noch jrößer", hat mir Ede dabei erklärt.
Die Bauern müssen die Kartoffeln „spenden". Die Kohlen die Kohlenhändler. Die Lebensmittel die kleinen Geschäftsleute. Pfundspenden nennen sie das. Kein Geschäftsmann kann es wagen, sie abzulehnen. Was sie von den kleinen Gewerbetreibenden erpressen, geben sie den ganz Armen und nennen das „Sozialismus". Und wo bleiben die gesammelten Barbeträge? Wird damit auch aufgerüstet? Es müssen doch in jedem Monat Millionen sein! -
Goebbels muss wissen, dass die einfache Büchsensammelei nicht mehr wirkt. Lautsprecherwagen fahren jetzt umher. Neulich zog eine ganze Werbekolonne mit Kamelen, Affen und andern exotischen Tieren durch die Straßen. In der Tau-entzienstraße, der belebtesten Straße Berlins, saß die sammelnde SA auf Pferden. Sie hatten den Pferden die Sammelbüchsen um den Hals gehängt und stellten sich damit quer über die Bürgersteige. - Wir aber in unserer Straße habe; auch wieder zweimal gesammelt. Einige zwanzig Mark. Wir haben sie der Mutter von Karl Kurgel und Heinz Preuß bringen lassen. Für Weihnachtspakete an die beiden. Preuß sitzt im Konzentrationslager Brandenburg, Kurgel in Oranienburg. Den Kurgel haben sie doch ohne jeden Anlass ins Konzentrationslager gesteckt. Die Dreiunddreißiger haben ihn doch damals nur verhaftet, weil sie von ihm wissen wollten, wo Franz ist. X aus der SA-Reserve hat es mir doch damals erzählt. In den langen Monaten haben wir nur erfahren können, dass beide im Konzentrationslager sind. Sonst nichts.
Dieser Eintopfsonntag! In keinem Haushalt soll da das Mittagessen mehr als fünfzig Pfennig kosten. Die Sammler kommen manchmal in die Wohnungen, sie kontrollieren die Kochtöpfe.
„Der Führer isst heute auch nur ein Eintopfgericht und führt das übrige Geld an das Winterhilfswerk ab", erklären sie.
Mit der Topfguckerei haben sie sich bei allen was eingebrockt. Nie habe ich die alte Frau Zieschke in unserem Hause so erregt gesehen wie an diesem Sonntag. Holt sie mich doch in ihre Küche rein, reißt den Deckel vom Kochtopf und schimpft los: „Dem Sammler habe ich Bescheid gesagt! ,Ich beziehe eine kleine Rente', habe ich gesagt. ,Mein Mittagessen darf nie fuffzig Pfennige kosten', habe ich gesagt. ,So? Der Führer isst auch so?! Na, ich bin froh, wenn ich mir zu Weihnachten ein Essen für fuffzig Pfennige leisten kann', habe ich
gesagt." Frau Zieschke schimpft und schimpft, und ich dachte, -warum holt sie dich gerade herein, sie weiß doch nichts von dir?! Da fragte sie mich plötzlich, ob ich das „Eintopflied" schon kenne. Nein, sagte ich. Da fängt sie mit ihrer dünnen Greisenstimme an zu singen:
„Wenn am Sonntagmorgen der Reichskanzler spricht: Eintopfgericht, Eintopfgericht, Grünkohl, Und der dicke Göring macht ein langes Gesicht: Eintopfgericht, Eintopfgericht, Grünkohl!"
Nach der Melodie „Wenn am Sonntagabend die Dorfmusik spielt" sang die alte Frau mit ihrer zittrigen Stimme. In der linken Hand hielt sie noch den Kochtopfdeckel. Es sah grotesk aus, ich habe gelacht, gelacht. Natürlich kannte ich das Lied schon, wir alle kennen es lange. Aber wo Frau Zieschke das bloß her hatte? -
Dort drüben steht Ede! - Er schüttelt mir kräftig die Hand. „Tach, Jan. - Denn man los. Mal sehn, watt ick die aus'n Leib reiß'n kann."
Er räuspert sich, spuckt im hohen Bogen aus.
„Ick hab dett Ordensjemüse mit. Wenn die Bonzen da nicht jenug rausrücken, wer ick se watt erzähl'n von Tuten und Blasen!"
„Hör zu: wir kennen uns natürlich nicht. Sei bei Gesprächen vorsichtig. Wir müssen immer doppelt vorsichtig sein!"
„Na klar. Weeß ick doch."
Die Lebensmittelverteilungsstelle des Winterhilfswerks ist in einem leerstehenden Laden untergebracht. Eine lange Menschenschlange steht in Viererreihen davor. Wir stellen uns an. Schon nach wenigen Minuten sind wir eingekeilt. Es kommen ständig neue Leute. Ich sehe mir die Menschen an. Es sind meist Arbeiterfrauen, arbeitslose Männer. Andern sehe ich aber an der Kleidung an, dass sie es früher besser gehabt haben. Den kleinen Mann mit dem steifen Hut und dem dunklen Mantel würde ich auf der Straße für einen Menschen mit gutem Auskommen halten. Der Mantel hat einen schönen Samtkragen, sieht ganz neu aus. Da links die ältere Frau mit der Pelzjacke? Was sie für ein hochmütiges Gesicht macht! Markiert auch hier noch stolzes Bürgertum. Ist sicher für sie „peinlich und entwürdigend", hier zu stehen. Die Frau hat bestimmt nur die äußerste Not hergetrieben.
Alle Füße treten den Bürgersteig. Es ist kalt und zugig. So war es in den Kriegsjahren. Da habe ich um ein paar Gramm Butter, um die Kohlrübenmarmelade angestanden. Vater war im Krieg, Mutter in der Granatenfabrik. Abends kam sie kaputt und hungrig nach Hause. Ihr Gesicht war immer ganz gelb. Vom Schwefel. Ein SA-Mann schließt die Ladentür auf und lässt einen Schwung Leute herein. Alles drängt nach vorn.
„Bewegt euch da drinnen mal schneller!" - „Wie lange sollen wir denn noch hier stehen!"
Die Ladentür ist schon wieder geschlossen. Ede blinzelt mir zu. Er steht jetzt ganz links von mir, an der Außenseite. Er hatte recht. Hier kann ich ungefährdet dabeistehen. Niemand wird darauf achten, ob ich überhaupt mit hineingehe. Alle drängen doch dann nach vorn. Ich habe aufgepasst, wer gerufen hat. Zwei Männer. Der eine trägt ein Abzeichen der Arbeitsfront. Die dort vorn müssen ja auch schon mindestens eine Stunde hier stehen, bei der Abfertigung! Sind doch noch ungefähr sechzig Leute vor uns, und der SA-Mann hat nur ein knappes Dutzend reingelassen. - Die Stiefel klappen weiter auf dem Bürgersteig. Es fängt plötzlich an zu schneien. Ein feines Sprühen, halb Schnee, halb Regen. Auch das noch! Wie viel stehen denn jetzt hinter uns? Ich zähle die Reihen. Sieben, acht... mehr als dreißig Menschen. Bis sie drankommen - wir beide sind doch schon zwanzig Minuten hier! Der Schub vorhin hat uns nur zwei Schritte vorwärts gebracht.
Ein junger Mann geht plötzlich am Rand der Reihen entlang. Ich sehe nur seinen Kopf, einen verbogenen Schlapphut darüber.
„Hallo! Erich!" ruft er laut.
Zwei Reihen vor mir reckt der kleine Mann mit dem steifen Hut den Kopf.
„Ja, hier!"
„Komm mal raus!"
Der Kleine drängt sich durch die Menge. Ich kann die beiden nicht mehr sehen, höre sie aber sprechen. Auch die andern drehen die Köpfe in die Richtung.
„Bist du abgefertigt?"
„Ja."
„Na und - was gibt es?"
„Kannst du in einer Hand tragen. Ein Pfund Zwiebeln, ein halbes Pfund Kistenkäse und einen Lebensmittelgutschein über eine Mark."
Es klatscht. Der junge Mann schlägt wohl auf das Paket.
„Was soll ich als Junggeselle mit Zwiebeln, frage ich dich?"
Die beiden reden noch weiter, aber ich kann nichts mehr verstehen. Links vor mir fängt eine große hagere Frau an zu schimpfen. Sie stemmt die Arme in die Seiten:
„Ein Pfund Zwiebeln - ein halbes Pfund Käse! - dafür stehen wir hier stundenlang?!"
Jetzt fuchtelt sie mit den Armen herum. Die andern fahren unwillkürlich zurück.
„Wo lassen die das alles ...?! Bei meinem Schlächter haben sie Speck abgeholt und solche Würste... solche Würste!"
Sie beugt den linken Arm als Maß, hält ihn den andern vor die Gesichter. Sie sieht alle der Reihe nach an, als fordere sie Antwort.
„Die wollen ja auch Weihnachten feiern", sagt ein Mann bissig. Er hat einen kurzen weißen Bart.
„Draußen war et ooch so. Vorne hatt'n wir nischt - aber die Etappe hat jelebt!"
Ede! Der soll doch seinen Rand halten. Vor allem nicht so deutlich werden. Ich sehe ihn starr an. Er grinst, schüttelt leicht den Kopf. Er hält wohl seine Bemerkung noch für besonders „taktisch".
„Ist eben der alte Laden. Bloß die Firma hat gewechselt", sagt einer hinter mir. Der kleine Mann mit der steifen Melone drängt sich wieder zu seinem Platz durch. Am Mantel hat der ja ein Naziparteiabzeichen. Die letzten Bemerkungen muss er gehört haben. Jetzt schiebt er sich die Melone ins Genick und sagt aufgeregt: „Ich mache einen Bericht, sage ich Ihnen! Einen Bericht über die Verteilungsstelle Lützow hier!... Direkt an den Leiter des Berliner Winterhilfswerkes... direkt an Spiewok!"
„Eine Krähe hackt der andern..." - der Mann mit dem weißen Spitzbart bricht den Satz jäh ab - „die Augen nicht aus", wollte er sagen. Aber er hat jetzt auch das Parteiabzeichen bei dem Kleinen gesehen. Das nicht beendete Sprichwort wirkt auf die Umstehenden wie ein Warnungsschuss, sehe ich. Erst haben sie den Alten verwundert angesehen, jetzt mustern sie den Kleinen prüfend. Ich mache Ede mit den Augen Zeichen zum Kleinen hin. Stelle mich auf die Zehenspitzen, damit er mich sehen kann. Unauffällig ziehe ich mit dem Zeigefinger einen kleinen Kreis auf dem Mantelkragen. Ede sieht mich lange an. Endlich! Er nickt. Hat verstanden. Jetzt wird er wohl die Klappe halten. - Der Kleine ist vielleicht hergeschickt worden - als Horchposten. Da sagt der wieder: „Eine Schweinerei, die Verteilung hier! Ich werde mich dafür einsetzen! Da muss Abhilfe geschafft werden!" Der ärgert sich wohl tatsächlich selbst über die zu erwartende magere „Spende"! Ich höre aus seiner Stimme auch deutlich Prahlen heraus. Der fühlt sich uns gegenüber als wichtige „halbamtliche" Person. Kann auch alles täuschen. Aber ich sehe, wie sich die Gesichter der andern entspannen. Vorn geht die Ladentür auf. Das Drängeln beginnt wieder. Im Türrahmen steht der SA-Mann und blickt prüfend über die Reihen.
„Keinen mehr anstellen lassen dahinten!" ruft er. „In einer Stunde machen wir Schluss!"
Seine Worte lösen einen Tumult aus.
„Stehen wir hier umsonst, was?!... In einer Stunde sind wir noch nicht dran!... Lasst andere arbeiten, wenn ihr's nicht könnt!"
Die Viererreihen verschieben sich plötzlich, schwenken nach links. Die Menschen rücken vor der Tür zusammen. Arme fuchteln mit Stempelkarten in der Luft herum. „Wenn hier nicht Ruhe wird, schließen wir gleich!" schreit der SA-Mann.
„Oho!... Wär ja noch schöner!... Aber nicht mit uns, nicht mit uns!" rufen Stimmen durcheinander.
Die Ladentür klappt zu. Der Schlüssel kreischt im Schloss. Ich bin an die Schaufensterscheibe gedrückt worden. Ein großes Plakat ist von innen angeklebt:
„Werdet Sozialisten der Tat! Hinein in die NSV!" Darunter klebt ein kleiner Zettel:
„Gebraucht werden: Ein kleiner Kanonenofen. Ein gut erhaltener Kinderwagen."
Der SA-Mann muss den hinteren Ladenausgang benutzt haben. Er kommt jetzt aus dem Hausflur, stellt sich vor den Menschenhaufen und fängt an, die Leute zurückzudrängen. Mit Zanken und Schimpfen kämpft sich jeder auf seinen alten Platz zurück. Die große hagere Frau steht jetzt neben mir. Der Kleine mit dem Parteiabzeichen vor ihr. Ede ist weiter vorn. Er hat zwei Reihen gewonnen. „Das alles, wo die so viel Geld sammeln", fängt die hagere Frau wieder an. „Mein Bruder hat Arbeit, dem ziehen sie doch gleich für die Winterhilfe vom Lohn ab!"
„Jaja", nickt eine junge Frau neben ihr, „ein Viertel vom Lohn ist weg, wenn die ganzen Abzüge ab sind!"
Sie zieht sich ihr Umschlagetuch fester. Sie hat es um den Kopf geschlungen.
Teichert hat mir doch neulich einen Vers erzählt, der in seinem Betrieb die Runde macht. Es ist eine Umdichtung des christlichen Tischgebetes:
„Komm, Herr Hitler, sei unser Gast, und erfülle die Hälfte von dem, was du uns versprochen hast."
„Ja, und die indirekten Gelder!" sagt die große hagere Frau wieder.
„Indirekten? Wie meinen sie das?" fragt die junge Frau.
Die andere holt tief Luft, sieht sich prüfend um, ob auch alle zuhören.
„Neulich im Butterladen. Eine Frau verlangt einen kleinen Käse - so einen in Stanniolpapier -", alle hören interessiert zu, auch der Kleine mit der Melone, „da sieht sie den Preis, fängt an zu schimpfen: ,Schon wieder teurer geworden.' ,Der ist nicht teurer geworden', sagt die Verkäuferin. »Selbstverständlich', sagt die Frau wütend, »können Sie mir doch nicht erzählen! Zwölf Pfennig, der hat doch immer zehn Pfennig gekostet!'"
Der Hagere weidet sich an den Blicken der Umstehenden.
„,Kaufen Sie einen', sagt die Verkäuferin, ,dann werde ich es Ihnen erklären.' - Was war? - Die zwei Pfennig Aufschlag werden an die Winterhilfe abgeführt!"
Rings nicken sie bedeutungsvoll mit den Köpfen. Der Alte mit dem weißen Spitzbart lacht trocken. Der Kleine rückt an seiner Melone. Ich merke, eine Verlegenheitsgeste. Dass sie hier schon so reden - der Kleine mit dem Parteiabzeichen sich alles ruhig mit anhört! In den Läden, auf dem Wochenmarkt habe ich Frauen oft über die Teuerung schimpfen gehört -aber hier vor der Nazistelle!
„Man erlebt schon was", sagt die junge Frau mit dem Umschlagetuch. „Wir hatten ein Ehestandsdarlehen beantragt. Sie schreiben doch soviel darüber. - Tagelang haben sie uns genau untersucht. Wegen der rassischen Eigenschaften, ob auch erbgesunder Nachwuchs zu erwarten ist" - sie zuckt mit den Schultern - „mein Mann hat sich von den Heimatbehörden Bescheinigungen über unseren Familienstammbaum besorgen müssen. Hat monatelang gedauert und Gebühren gekostet -"
„Ja, und - ja, und!" unterbricht sie die Hagere.
Die junge Frau sieht sie an. Sie hat ein spitzes Gesicht schmal, wie ein Kind. Tiefbraune Augen.
„Dann hieß es plötzlich: ,Ach, Sie sind arbeitslos? Dann bekommen sie nicht tausend, sondern bloß fünfhundert Mark. Dafür müssen Sie aber erst einen Bürgen bringen, dass Sie es auch zurückzahlen.'" Sie lacht spöttisch. „Ist natürlich nichts daraus geworden. Wenn wir in der ganzen Familie jemanden hätten, der fünfhundert Mark verborgen kann, brauchten wir die ja nicht!"
Der ganze Kreis lacht. Jeder legt seine Meinung in das Lachen hinein, spüre ich.
„Jetzt kriegen Arbeitslose auch mit Bürgen kein Darlehen mehr!" sagt die junge Frau wieder mit Nachdruck. „Da haben nun viele deshalb geheiratet - wir waren ja schon verheiratet."
Alle sehen plötzlich nach vorn, dort recken sich die Köpfe. Der SA-Mann in der Verteilungsstelle blickt durch die Scheibe der Ladentür. Ich nicke Ede zu. Er lächelt, nickt zurück. Er hat sich ganz schön vorgedrängt, kommt sicher mit dem nächsten Schub rein. Dann wird's Zeit für mich.
Der SA-Mann im Laden dreht den Schlüssel herum, öffnet. Alle drängen vorwärts. Ich rutsche unbemerkt aus der Reihe. Ede ist tatsächlich hineingekommen.
Langsam gehe ich an der Straßenecke auf und ab. Mir wird kalt. Noch fünf Minuten, wenn Ede dann nicht kommt - aus dem Seitengang kommen Leute. Ede ist nicht dabei - doch, da kommt er, als letzter. Er sieht sich suchend um, geht dann langsam die Straße herunter. Ich lasse ihn ein Stück vorgehen. Hole ihn dann ein, fasse ihn am Arm. Ede fährt erschrocken zusammen, ist dann überrascht.
„Ick dachte, du bist schon weg, Jan."
„Wollte gerade gehen, ist verdammt kalt. - Wo hast du denn deine ,Spende'?"
Ede trägt kein Paket. Er lacht, schlägt mir auf die Schulter.
„Mir ham se't schriftlich jejeben. Hier!"
Er zieht einige Zettel aus der Tasche. Ich lese: „Anweisung für ein Pfund Zucker, ein Pfund Reis, ein halbes Pfund Kakao." Außerdem ist ein Lebensmittelgutschein über eine Mark dabei.
„Wieso hast du gerade...?"
„Dett war vielleicht ooch 'n Tanz!" lacht Ede. „Bevor ick drankam, hörte ick schon, wie der Verteilungsbonze zu die Leute sacht: ,Es jibt bloß noch den Jutschein über eene Mark, die Lebensmittel sind alle.' Die Leute ham 'n bisken jemosert, aber se begnüchten sich doch damit. Ick kramte mein Ordensjemüse raus. Wie der mir nu denselben Zimt erzählt, lege ick dett Eiserne Kreuz Erster, det Joldene Verwundetenabzeichen und den Blindenausweis uff den Tisch. ,Kiek'n Se sich dett mal an', sachte ick. ,Ick war vier Jahre draußen, ick bin für't Vaterland een Krüppel jewor'n. Jetzt soll ick noch nich mal zu Weihnachten watt Anständiget zu essen ham? Meine beeden Onkels ziehn se doch jede Woche vom Lohn für die Winterhilfe ab, meiner Schwester ooch. Die ham jesacht, se woll'n mir jetzt dett Jeld selba jeb'n, da kriege ick zumindest watt!' - Ick hab janz laut jeredet, die Leute standen uff eenmal alle um mir rum."
Wir biegen um eine Ecke.
„Leiser reden, hier..."
Aber Ede ist in Fahrt.
„Watt denn, dett kann ick dir doch erzähl'n! - Also - der Bonze hat sich uffjeregt, sage ick dir. ,Sie könn' sich doch dett Jeld nich jeb'n lassen! Sie sabotier'n ja damit dett System der Winterhilfe!' Na ja, een Weihnachtsboom könnte ick ja noch krieg'n, meente er dann. ,Watt soll ick mit'n Weihnachtsboom, den kann ick nich in Topp steck'n!' hab ick wieda anjefang'n. Da steht der uff, schiebt die Klappe von dett Jeländer hoch und sacht: ,Komm' Se mal rin, nach hinten.' In dett Zimmer hinten hat er mir denn die Scheine ausjestellt. ,Dürfen Se aber draußen keen sag'n', ermahnte er mir ..." Ede lachte wieder laut. „Hab ick ooch nicht jemacht. Aber als ick rauskam, hab ick die Scheine schön deutlich in de Hand jehalten! Die andern im Laden sin' uff mir los: ,Ha'm Se watt jekriegt - ha'm Se watt jekriegt?!' Ick habe bloß immer mit die Scheine jefuchtelt, und die meisten sind mir nachjeloofen, der Laden war ganz voll. An de Ladentür hab ick denn leise jesacht:
,Klar hab ick jekriegt. Sie müss'n eben ooch Krach mach'n!' Von de Tür hab ick denn jesehn, dett die janze Meute uff den Bonzen losjing!" -
Allein gehe ich in unsere Straße zurück, mache einen Umweg.
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