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Jan Petersen - Unsere Straße (1933)
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„Ja - ja -", würgt sie heraus - „geflüchtet — warum denn?"
Sie hängt sich schwer an meinen Arm.
„In unserer Straße war Razzia, wie überall heute nacht. Er floh im letzten Augenblick, durch Teicherts Fenster."
Sie sieht mich noch immer fassungslos an. Ich drücke ihre Hand.
„Weißt du - wo er jetzt ist?"
„Ich treffe ihn nächsten Montag."
„Kann ich ihn nicht heute noch —?"
„Du musst vernünftig sein, Hilde. Ich gebe dir später Bescheid, wo du ihn erreichst. Wir müssen vorsichtig sein. Wir anderen werden vielleicht auch schon überwacht. Deshalb traf ich dich ja hier!"
Hilde sieht lange vor sich hin. „— Ja - ja -"
Sie tut mir leid. Ich sehe sie an. Ich bin noch nie eingehakt mit ihr gegangen, sie ist etwas größer als Käthe. Käthe!
„Mir geht es doch mit Käthe genauso. Wir haben sie natürlich abhängen müssen. - Franz ist doch nicht verschüttgegangen."
Hilde schweigt lange.
„Du hast recht, Jan. Es hat mich im Moment nur so erschreckt." Es klingt wie eine Entschuldigung.
„Schon gut. Ich sage dir also Bescheid. Wir treffen uns wieder hier."
Hilde nickt.
„Wenn du mich oder Käthe in unserer Gegend siehst, darfst du uns nicht ansprechen. Wir kennen uns nicht!"
„Ja, ich verstehe ...", sagt sie leise.
Wir gehen einige Schritte schweigend.
„Also deshalb war mein Herr Bruder die Nacht nicht zu Haus!" sagt Hilde plötzlich. „Er kam erst heute morgen. Der hat wohl mitgeholfen!"
Ich antworte nicht. Hat's doppelt schwer, das Mädel.
„Komm, ich bring dich jetzt zur Bahn. Wir fahren einzeln."
An der Haltestelle kramt Hilde ihre Geldbörse aus der Handtasche. Sie gibt mir fünf Mark.
„Für Franz. Wird's brauchen. Ich hab nicht mehr bei mir."
Na also, die ist ja wieder ganz beisammen.
Kaum bin ich zu Haus, kommt Rothacker. „Wir müssen sofort versuchen, Franz zu erreichen!"
Mir geht ein dumpfer Druck aufs Herz.
„Wieso, was ist?"
„Ich komme vom Arbeitslosennachweis - war Geld holen -sie können ihn verhaften -!"
Rothacker hält mich an der Jacke fest. Seine Hand zittert, sein Atem geht stoßend. Die Gläser seiner Brille sind beschlagen. Ich kann in seinen Worten keinen Zusammenhang finden. Ich ziehe einen Stuhl heran.
„Setz dich, Erich. Erzähle genau, ich verstehe nicht!"
Seine Erregung ist auf mich übergesprungen. Es muss etwas Unerwartetes passiert sein. Rothacker lässt sich mit einem Ruck fallen, wie jemand, der nach einem plötzlichen Schreck apathisch wird. Er nimmt die Brille ab, reibt die Gläser mit dem Taschentuch und blinzelt mit den kurzsichtigen Augen.
„Also, was ist?!" dränge ich.
Rothacker setzt die Brille auf und holt tief Atem.
„Ich hatte Geldtag heute. Wir stehen in einer langen Reihe an, rücken schrittweise vor. Plötzlich recken sich vor mir die Köpfe. An der Kasse ist eine Stockung. - ,Herr Neumann?!' hören wir den Kassierer scharf fragen ..."
„Der von den Stanileuten etwa?" Ich ahne, was jetzt kommt.
Rothacker nickt. „Ja, der Neumann, ich hatte ihn sofort erkannt. ,Moment warten!' sagt der Kassierer zu ihm, und wir sehen, wie im selben Augenblick zwei Männer aufspringen. Sie saßen abseits. Der eine springt über das Holzgitter, packt Neumann am Arm." Rothackers Stimme wird leise. „Er hat sich nicht gewehrt, so überrascht war er." Er schiebt den Zeigefinger unter die Brille, fährt sich über die Augenbrauen. „Sie gingen dann an uns vorbei, hatten ihn in der Mitte und jeder eine Hand in der Tasche."
Rothacker schweigt. Mir ist plötzlich unerträglich heiß. Heute ist Sonnabend. Ich kann Franz vor Montag nicht erreichen. Unser Treff ist auf der Straße, in einem andern Stadtteil. Wir haben die Stelle lange schon festgelegt, für den Fall, dass uns etwas Unvorhergesehenes trennt. Ich grüble, finde aber keine Lösung. Halb höre ich nur zu, wie Rothacker weitererzählt. Die Arbeitslosen hätten erregt diskutiert. Den hätten sie gesucht - er sei sicher Kommunist - warum er noch herkäme, wenn er wüsste, sie seien hinter ihm her - wovon er denn leben solle!
„Weißt du, wann Franz immer stempelt und Geld holt, Erich?"
Rothacker überlegt einen Augenblick.
„Er stempelt donnerstags - holt mittwochs Geld", sagt er.
„Also geht er erst nächsten Mittwoch wieder hin? Weißt du's genau?"
Rothacker nickt energisch. „Ja, bestimmt!"
„Ich kann ihn vor Montag nicht erreichen, Erich. Das langt dann, wie?"
„Ja, langt, Jan!"
Wir schweigen. Ich überlege. Auf dem Korridor draußen fängt plötzlich der Staubsauger meiner Wirtin hell an zu summen.
„Am besten ist, du kommst mit, Erich. Er wollte in seinem neuen Bezirk eine Wohnung besorgen. Als Verbindungsstützpunkt. Die lernst du dann gleich kennen - falls mit mir mal etwas ist."
Rothacker nickt. „Ja, gut."
„Merk dir: Montag, drei Uhr. Franz steht vor einem Schaufenster des KDW, Tauentzienstraße. Du folgst uns unauffällig. Ich spreche ihn auch nicht an, gehe ihm nur nach. Verstanden?"
„Ja. Ich bin dort."
Gestern kam Ede mit einer Abendzeitung zu mir.
„Ernst Thälmann, der Führer der Kommunisten, verhaftet!"
Ich habe lange auf die Buchstaben gestarrt, konnte kein Wort herausbringen. Thälmann - verhaftet!
„Mensch, Jan! Dett kann doch nich sein - sach doch watt sach doch watt!" redete Ede auf mich ein und rüttelte an meiner Schulter.
Da habe ich ihn beruhigt. Das sei bestimmt eine falsche Meldung. Die Nazis wendeten eben alle Mittel an, um uns zu verwirren, sagte ich ihm.
Gestern abend habe ich Ede noch beruhigt - heute wissen wir, dass diese Zeitungsmeldung stimmt. Thälmann, der Führer der Partei, ist verhaftet worden! In Charlottenburg, in unserem Bezirk. Rothacker hat es mir heute bestätigt. Er sagte nicht, wie und von wem er darüber Näheres erfahren hat. Er meinte bloß, er kenne von früher sogar die Wohnung, in der Thälmann verhaftet wurde.
Die Genossen kommen in gedrückter Stimmung zu mir. Sie stellen mir alle ähnliche Fragen. Wie konnte das geschehen? War Teddy denn nicht ganz sicher untergebracht? Ich weiß ja darüber nicht mehr als sie.
Ich gehe langsam an Franz vorbei und bleibe an dem nächsten Schaufenster des Kaufhauses stehen. Ich sehe, wie er den Kopf dreht. Er hat mich schon bemerkt! Er geht in dem dichten Menschengewühl an mir vorüber, blinzelt mir zu. Ich lasse ihm einige Meter Vorsprung und folge ihm dann langsam. An der Ecke bücke ich mich, als binde ich meinen Schnürsenkel neu, und sehe schnell zurück. In Ordnung. Rothacker ist hinter uns. Franz biegt bald in eine kleine Nebenstraße ein. Ich vergrößere unsern Abstand, die Straße ist weniger belebt. Franz! Ich würde ihn aus Tausenden herausfinden, auch wenn er mir, wie jetzt, den Rücken zudreht. An seinen breiten Schultern, die sich so merkwürdig wiegen, würde ich ihn erkennen. An seinen eckigen Armbewegungen, an seinem dichten, hellblonden Haarschopf. Er läuft tapsig wie ein Bär, als taste er jeden Schritt ab. Muskelknoten haben wir ihn getauft. Seeleute müssen so gehen, die immer das Gefühl der schwankenden Planken in den Füßen spüren. Unsinn. Franz war nie auf See. Ich kenne sein Leben genau. Gewalzt ist er viel. In den letzten Kriegs)ahren. Er hat damals in vielen Provinzen und Städten gearbeitet. Immer, um wieder für einige Monate „Betriebskapital" zu haben. In den ersten Nachkriegsmonaten ist er dann in Hamburg hängengeblieben. Er trat in die neu gebildeten „Volkswehren" ein. Half „Ruhe und Ordnung" aufrechtzuerhalten. Oft hat er mir davon erzählt. „Was verstand ich schon damals von Politik, es gab gutes Essen, hohe Löhnung." Achtzehn Jahre war er damals alt. Auch seine erste Entwicklung zum „Politischen" kenne ich. Das war Dreiundzwanzig. Er war Monteur in einer Werkzeugfabrik. Die Inflation kam. Die Arbeiter wussten nicht, ob sie für ihren Wochenlohn ein Pfund Schmalz bekamen. Ein Streik jagte den andern. Damals wurde Franz zum ersten Mal verhaftet. Er war schon gewerkschaftlich organisiert. Er bekam vier Monate Gefängnis. Nach diesen vier Monaten sah Franz die Welt mit andern Augen. Brennert, sein Zellengenosse, ein alter Spartakuskämpfer, hatte dafür gesorgt. Franz las jetzt viel, er ging in theoretische Kurse. Er wurde langsam ein klassenbewusster Arbeiter und Kämpfer. -Ich schrecke aus meinen Gedanken. Franz bleibt vor einem Haus stehen. Er tut, als suche er die Hausnummer, geht dann hinein. Auf dem ersten Treppenabsatz treffe ich ihn. Er schüttelt mir die Hand, seine grauen Augen strahlen. „Altes Haus!" sagt er.
„Rothacker kommt noch, er soll die Verbindungsstelle kennen lernen, ist sicher gut für später", sage ich hastig.
„Na gut." Es klingt etwas erstaunt. „Zwei Treppen rechts, Mahlke, kommt nach."
Franz öffnet. Wir gehen durch einen Korridor. Hinter einer geschlossenen Türe links schreit ein Säugling. Eine andere Tür steht halb auf. Die Küche. Es ist aber niemand zu sehen. Dann sind wir in einem kleinen Zimmer. Ein Sofa, ein kleiner Tisch, zwei Gartenstühle. Hinter dem schmalen Fenster ist ein kahler Giebel. Wir setzen uns schweigend. Mir ist plötzlich beklommen. Wir haben nur Schlimmes zu berichten. „Du siehst nicht gut aus, Erich. Bist du krank?" fragt Franz.
Rothacker lächelt. Um seine Augen hinter den Brillengläsern liegen tiefe Schatten. Sein Gesicht sieht noch schmaler aus als sonst.
„Wir haben in den letzten Tagen nicht viel geschlafen -und dann, wir haben nur schlechte Nachrichten", sagt Rothacker.
Franz sieht mich an.
„Haben sie zu Haus jemand verhaftet - Käthe?"
„Nein, aber ..."
„Du holst Mittwoch Geld!" spricht Rothacker in meine Worte hinein.
„Ja, warum?" fragt Franz.
„Am Sonnabend haben sie einen Stanimann auf dem Nachweis verhaftet", sagt Rothacker mit schwerer Stimme.
Schweigen. Franz dreht nachdenklich den Zipfel der Tischdecke.
„Muss dann auch so weitergehn", sagt er, „ich werde es melden. Sie verwenden mich sowieso nur noch in diesem Bezirk."
Draußen klappert Geschirr. Ein Wasserkessel pfeift.
„Ihr müsst jetzt alle zusammenhalten", sagt Franz wieder. „Zieht Teichert und Schwiebus heran, die wissen, was sie wollen." Und nach einer Pause. „Ihr müsst auch für Funktionärnachwuchs sorgen, wir werden Verluste haben. Ich denke an Heinz Preuß und Ede."
Rothacker nickt stumm. Franz' einzige Sorge ist, dass die Arbeit weitergeht, über seine Schwierigkeiten spricht er kein Wort, geht es mir durch den Kopf.
„Kümmert euch um Strubbel. Ihr wisst, dass er außer Teichert unsere einzige Betriebsverbindung ist."
Strubbel! Ich sehe auf den Giebel draußen.
„Strubbel ist nicht mehr in der Laubenkolonie", sagt Rothacker langsam, als müsse er jedes Wort überlegen.
„Strubbel ist nicht mehr ... ist er verhaftet?"
Rothacker stützt die Arme schwer auf den Tisch.
„Es wäre ihm sicher schlimmer ergangen", sagt er, „er ist auch geflüchtet. Wir haben ihn bei Genossen untergebracht. Seine Frau und den Jungen bei anderen."
„Wie kam es? Polizei?"
„Nein. SA. Sie wollten ihn wohl ganz erledigen. Du weißt, sie hatten in den letzten Wochen in der Kolonie zwanzig SA-Leute einquartiert. Die bekannten Genossen konnten sich nicht rühren, ohne beobachtet zu werden."
„Ja und ..."
„Sie kamen in der Brandnacht, wie bei dir. Strubbel fährt aus dem Schlaf. Schüsse knallen. Er sieht auf dem Laubenweg einen dunklen Menschenhaufen. Sie treten gerade seinen Zaun ein. Er weckt seine Frau, reißt den Jungen aus dem Bett. Im Hemd sind sie über den Drahtzaun des Nachbars geklettert und haben sich in seinem angrenzenden Aborthäuschen versteckt —"
Franz stützt den Kopf in die Hände, sieht auf den Tisch.
„... dort haben sie vor Kälte zitternd gesessen. Strubbel mit dem Kind auf dem Schoß, er beruhigte es leise. Zwei Meter entfernt suchte die SA mit der Blendlaterne die Laube, den Schuppen ab. Da sie ihn nicht fanden, schlugen sie vor Wut alles kaputt. Zwei Dutzend Einschüsse hat die Laube."
Es klopft an unserer Tür. Eine große blonde Frau kommt mit einem Kaffeetablett herein. Sie nickt uns zu.
„Trinkt einen Schluck Kaffee", sagt sie freundlich.
Franz nimmt ihr das Tablett ab. „Dank schön, Edith", sagt er. .
Als die Frau hinaus ist, sage ich leise: „Ist noch nicht alles -Richard Hüttig ist verhaftet worden."
Franz, der in seiner Tasse rührt, lässt den Löffel fallen. Seine Lippen werden schmal. Er sieht an uns vorbei. Die Stille im Zimmer lastet schwer auf mir.
Da sagt Rothacker: „Im ,Angriff' schreiben sie schon: ,Der Charlottenburger Verbrecherführer Hüttig gefasst.' "
Franz bleibt stumm.
„Sie werden ihn in die Maikowski-Geschichte hineinziehen. Außerdem machen sie ihn für den Zusammenstoß mit der SS neulich, am 17. Februar, verantwortlich. Ein SS-Mann starb doch an einem Revolverschuss am nächsten Tag. Unsere Jungs waren ja unbewaffnet. Die SA schoss aber auch dabei."
Ich muss an Paul Schulz denken. Zwanzig Jahre alt war er. Wie er mich immer mit seinen klaren Augen dankbar angesehen hat, wenn ich ihm seine Fragen erklärte. Vor wenigen Wochen haben ihn die Dreiunddreißiger nachts auf der Straße erstochen.
Franz ist aufgestanden und starrt auf den Giebel draußen.
Mein Freund Otto Grüneberg. Ich werde nie die Nacht vergessen, als wir gegen zwei Uhr von einer Nachtveranstaltung der IAH fortgingen. „Ich habe von den Dreiunddreißigern wieder Drohbriefe bekommen", erzählte er. „Sie schreiben, dass sie mich abknallen werden. Ich kann mich nicht einmal wehren, habe keine Waffe." Ich wollte ihn begleiten. Er schlug es ab. „Du wohnst entgegengesetzt, Jan", sagte er. „Die beiden Genossen hier haben denselben Weg." Aber eine halbe Stunde später war Otto Grüneberg von Schüssen zerfetzt. Der Sturmführer der Dreiunddreißiger, Hahn, der rote Hahn wegen seiner Haarfarbe genannt, hatte mit der SA alle Ecken besetzt, wo Otto wohnte. Ein regelrechter Kurierdienst meldete ihn, als er kam. Sie ließen ihn bis in die Mitte der hell erleuchteten Straßenkreuzung gehen, gaben dann von allen Seiten Schnellfeuer. Otto lief mit sieben Schüssen noch bis vor seine Haustür, brach dann sterbend zusammen. Er war einer unserer Besten und Tapfersten. Führer der Charlottenburger Roten Jungfront. Sechzigtausend Berliner Arbeiter gaben ihm das Grabgeleit.
Franz hat sich umgedreht.
„Wo habt ihr euer Flugblatt zum Reichstagsbrand gemacht?"
„Bei dem Konfektionär, wie immer", sagt Rothacker.
Franz geht auf und ab.
„Ihr seid jetzt besonders gefährdet. Wir haben mehrere gute Abziehstellen hier. Ihr könntet zwischendurch eine benutzen."
„Wäre sehr gut", sagt Rothacker.
„Werde ich also mit Jan besprechen. Du verstehst, Erich, es kann nur einer kommen. Ist auch Prinzip jetzt. Der beste Genosse darf nichts erfahren, was er nicht für die Praxis wissen muss."
Rothacker nickt.
„Noch eins", sagt Franz. „Jeder müsste sich nach einer Möglichkeit umsehen, wo er im Notfalle einige Nächte schlafen kann. Wo er fürs erste auch untertaucht, falls er fort muss."
Er nickt mir zu.
„Für dich kann ich das hier besorgen. Ergibt sich auch aus der Arbeit. Du musst vorher ein oder zwei Nächte hier im Bezirk bleiben, damit du uns nicht eventuell Spitzel auf den Hals hetzt." -
Rothacker ist fort. Ich gebe Franz die fünf Mark von Hilde. Er freut sich. Er nennt mir einen Treff, den ich ihr angeben soll.
Ich mache auf dem Heimweg absichtlich Umwege. Vor einer Zeitungsfiliale steht ein Menschenknäuel. Ich stelle mich dazu. Die Abendzeitungen mit dem Endresultat der Reichstagswahl. Wer gelesen hat, tritt zur Seite und geht. Keine Bemerkung fällt. Auch die Gesichter der Lesenden sind ohne Bewegung. Die neue Staatsautorität verschließt die Münder, legt den Menschen Masken an. Wie wurde hier früher bei Reichstagswahlen diskutiert!
Ich gehe langsam weiter. Die Nazis haben einen Gesinnungsterror ohnegleichen ausgeübt. Sie haben wochenlang den gesamten Propagandaapparat des Staates spielen lassen. Und doch: Elf Millionen haben die Arbeiterparteien gewählt. Allein fünf Millionen Menschen haben sich zu den „Mordbrennern" bekannt. Haben Kommunisten gewählt. Alle haben mit ihren Stimmen ihr Urteil über die wahren Brandstifter abgegeben.
Einzelne Straßen fallen mir auf. Dicht hängen die schwarz-weißroten und Hakenkreuzfahnen. In anderen Straßen wieder nur wenige. Die Restaurants aber haben ausnahmslos geflaggt. Auch viele Geschäfte. Das Rennen um die „gute Gesinnung" hat begonnen.
Unser früheres Verkehrslokal Werner wurde schon polizeilich geschlossen. Heute kam SA und überstrich mit schwarzer Farbe unsere Parolen. Am Bretterzaun des Lumpenplatzes, an den Mauern neben dem Umformerwerk. Auch Edes „Dauertransparent" an dem frei stehenden Giebel wurde überstrichen. Sie haben sogar überall die Reste unserer Plakate abgekratzt.
Am nächsten Tag. Wegen der Maikowski-Affäre sind neue Verhaftungen vorgenommen worden. Auf jedem von uns liegt ein dumpfer Druck. Wen holen sie noch? Wer ist der nächste? Ein Misstrauen gegen jeden ist plötzlich da, hat auch auf uns übergegriffen. Ich spreche nur noch mit Genossen, die ich seit Jahren als zuverlässig kenne, doch auch dann nur in Andeutungen. Selbst Rothacker meinte, dass diese Verhaftungen keine Zufallsgriffe seien. Die zuerst Verhafteten müssten Namen genannt haben, oder es seien einige in der Straße, die denunzieren. Es ist für uns schwer, klar zu sehen. Fast jeden Tag werden neue verhaftet, die man scharf verhört. Wir haben vorläufig alle öffentliche Agitation eingestellt, halten nur untereinander Kontakt.
Unsere Wallstraße ist nicht wieder zu erkennen. Niemand steht mehr vor den Haustüren und diskutiert. Sobald es dunkel wird, liegt die Straße wie ausgestorben. Wer zu zweit oder dritt geht, macht sich schon verdächtig.
Zwei Tage später. Der SA-Sturm Dreiunddreißig hat sich dicht vor der Wallstraße einquartiert. Er hat das Charlottenburger Volkshaus besetzt. Es liegt nur wenig mehr als hundert Meter von unsern Häusern entfernt. Im Haus Rosinenstraße vier. Rothacker warnte mich, dort vorbeizugehen. Es sei, als ob dort plötzlich ein unsichtbares Schild: „Achtung! Gesperrtes Gebiet!" über der Straße hänge. Die Fußgänger meiden die Rosinenstraße. Abends sehen die Häuser rings wie unbewohnt aus. Fast nirgends brenne Licht. Die SA hätte abends schon Passanten angehalten, die nachweisen mussten, dass sie dort wohnen. Ich will aber trotzdem morgen vormittag vorbeigehen. Am Tage muss das doch während des Geschäftsbetriebes möglich sein.
Ich gehe langsam um den Knick der Wallstraße. Die Maschinen im Umformerwerk drüben summen. Vor Franz Zanders Haus ist niemand zu sehen. Einige Kinder spielen mit Tonmurmeln auf dem Bürgersteig. Käthe! Es ist ein strahlend schöner Tag, die Sonne wärmt schon. Einige Wochen weiter, wir werden ins Grüne fahren können, uns gefahrlos treffen und sprechen. Käthe hat mir zwar sagen lassen, dass sie trotz größter Aufmerksamkeit bisher nichts von einer Beobachtung gemerkt hat. Uns allen wird das Rausfahren neue Möglichkeiten geben. Niemand wird in Leuten mit Badehosen Funktionäre sehen, die eine Besprechung haben.
Augenblicke später bin ich an der Berliner Straße. Sie liegt als breites Verkehrsband quer zwischen der Wall- und Rosinenstraße, die drüben wie die Verlängerung der Wallstraße beginnt. Hier an der Ecke habe ich gestanden, als die Lastautos der SA in die Stadt rollten. Mit Richard Hüttig und Franz. Richard ist verhaftet, Franz geflüchtet. Auch unsere Straße hat sich verändert. Mir ist, als seien inzwischen Jahre vergangen.
Ich sehe mich vorsichtig um, gehe langsam über den Fahrdamm, in die Rosinenstraße hinein. Es sind nur wenige Schritte. Dort drüben, das Volkshaus, Nummer vier. Ein SA-Doppelposten steht vor der breiten Toreinfahrt. Die SA-Männer haben die Sturmriemen der Mützen unter dem Kinn.
Links vor mir ist ein Zigarrengeschäft.
„Eine Schachtel Juno", sage ich.
Ich sehe mir scheinbar die Schaufensterauslagen an, doch mein Blick fliegt hinüber. Autos und Motorräder stehen vor dem Gebäude in langer Reihe. Das Nickel, der Lack blitzen in der Sonne. Sind ganz neu. Die haben jetzt die Staatskassen.
Ich kann durch den Torweg ein Stück vom Hof sehen. Auch dort stehen Fahrzeuge. Links vom Tor ist eine Niederlage der Konsumgenossenschaft. Kein Käufer ist zu sehen. Ich zünde mir umständlich eine Zigarette an. - Die langen Fensterreihen des großen grauen Hauses sind geschlossen. Vor einigen hängen dichte Vorhänge. Im ersten Stock war das Heim der sozialistischen Jugend. Man sah immer die roten Transparente an den Wänden. Sie sind fort. Ein großer Wagen fährt drüben vor. Auf der Nickelstange am Kühler steht eine Standartenfahne in steifer Gazeumhüllung. Eine betresste Uniform springt aus dem Wagen. Die SA-Posten klappen die Hacken zusammen, legen die Hände an die Hosennähte. Ich gehe. Draußen ziehe ich nervös an der Zigarette. Wenn die mich anhalten? Unsinn. Nur der Posten ist zu sehen. Außerdem gehen auch andere Zivilisten vorbei. Das Volkshaus geht noch mit scharfem Knick rechts in eine kurze Sackgasse hinein. Die Räume der Ortskrankenkasse sind im Erdgeschoß, sonst wohnen in dem ganzen Haus ausschließlich sozialdemokratische Genossen. Die Parolen auf dem Hausgiebel links in der Sackgasse hat die SA auch übermalt.
Ich mache kleine Schritte. Das Charlottenburger Volkshaus - SA-Kaserne! „Dieser marxistische Schweinestall wird zuerst ausgemistet", haben die Nazis früher schon immer erklärt. Maikowski-Haus haben sie es getauft. Die vergitterten Keller im Hof sollen, mit Verhafteten gefüllt sein.
Was hat das Volkshaus schon gesehen! Lange vor dem Kriege tagten hier sozialdemokratische Parteiversammlungen. Neunzehnhundertachtzehn waren heimgekehrte Truppen einquartiert. In den Revolutionstagen standen auf dem Hof die Gewehrpyramiden der republikanischen Volks- und Einwohnerwehren - gegen Spartakus.
Nun ist das Volkshaus die Kaserne der Dreiunddreißiger!
Das Volkshaus - Maikowski-Kaserne! Heute ist unser aller Leben bedroht!
Heute wäre Rothacker beinahe verhaftet worden. Er kam zu mir. „Vielleicht schreibst du das auf, Jan." Er weiß, dass ich mir über alle Vorfälle Notizen mache.
Rothacker fuhr mit seinem Fahrrad zum Bahnhof Jungfernheide. Er hatte einen Treff mit unserem neuen Verbindungsmann aus den Siemensstädter Laubenkolonien, der für Strubbel einspringen sollte. Wir hatten dazu die Stunde gewählt, in der die Siemenswerke Betriebsschluss haben. Die Bahnhofsgegend ist dann stark belebt.
Straßenbahnen fuhren an Rothacker vorüber. Sie hatten alle zwei Anhänger und waren dicht besetzt. Vielleicht ist Teichert darin, dachte er. Teichert ist Dreher bei Siemens. Kurz vor dem Bahnhof griff Rothacker in seine Westentasche. In Ordnung. Der in Kurven zerschnittene Zeitungsabschnitt war da. Der andere hatte den dazugehörenden Teil, aneinandergelegt mussten sie zusammenpassen. Rothacker überlegte auch noch mal die weiteren Erkennungsmerkmale des Genossen. Runder grauer Filzhut, frisches Gesicht mit kleinem schwarzem Bärtchen, in der linken Hand die „Deutsche Allgemeine Zeitung".
„Können Sie mir bitte den kürzesten Weg nach Tegel sagen?" würde er ihn ansprechen.
„Leider nicht. Ich bin nur zu Besuch in Berlin", musste die Antwort lauten. Rothacker lehnte dann sein Rad an die Bahnhofsmauer und behielt die Straßenbahnhaltestelle im Auge. Die Bahnhofsuhr zeigte zwei Minuten vor voll. Der Genosse war noch nicht hier. Die Straßenbahnen brachten ununterbrochen Menschen heran, sie gingen in dichten Reihen in den Bahnhof hinein. Genau auf voll stand jetzt der große Zeiger der Uhr. Wo der Genosse nur blieb? Er konnte ihn doch unmöglich übersehen haben! Fünf Minuten nach voll. Immer noch nicht hier. Rothacker ging auf und ab. Noch fünf Minuten, dann haue ich ab. Er sah sich aufmerksam um. Drüben, an der Taxihaltestelle, standen zwei Wagen. Die Chauffeure unterhielten sich. Ein auf Räder montierter Zeitungsstand stand an der Ecke. Der Händler sah aus dem kleinen Guckfenster. Rothacker wurde unruhig, weil er als einziger hier so lange stand. Hinter dem letzten Taxi sah er plötzlich ein Motorrad, an dem zwei SA-Leute bastelten. Ob die bloß mimten! Ach was. Die haben Panne, du siehst weiße Mäuse. Den ersten Fehler machst du, wenn du ein „schlechtes Gewissen" hast und dich beobachtet fühlst. Jeder, der sich auffällig benimmt, macht so die Polizei erst auf sich aufmerksam, eine alte Erfahrung. Zehn Minuten nach voll! Rothacker schob sein Fahrrad zum Rinnstein und fuhr los. Er war ärgerlich. Der hatte den Treff nicht eingehalten. Als ob man sich diese Schlamperei heute noch leisten konnte. Tot oder verhaftet musste man sein, einen andern Grund konnte es dafür nicht geben. Dem würde er seine Meinung sagen, wenn da etwas nicht stimmte.
Rothacker bog hinter dem Bahndamm links ein, fuhr in eine stille Nebenstraße hinein. Eine Querstraße weiter hörte er Motorgeknatter hinter sich. Das Motorrad mit den beiden SA-Leuten fuhr an ihm vorbei. Der Fahrer bremste plötzlich, die Reifen kreischten auf dem Asphalt. Die Maschine wendete, stand quer zur Straße. Also doch! Der Soziusfahrer sprang ab.
„Anhalten!" schrie er.
Der andere stellte die Maschine auf den Ständer. Er war groß und breitschultrig, der vom Sozius klein und sehr jung. Rothacker sah die beiden ruhig an. „33" stand in hellen Metallziffern auf den schwarzen Spiegeln ihrer Uniformkragen. Verdammt, „unser" Sturm. Hoffentlich kennen die mich nicht!
„Durchsuchen!" sagte der Große.
„Nehmen Sie die Hände hoch!" befahl der Jüngere.
Rothacker legte das Fahrrad auf den Asphalt und gehorchte. Die Straße war leer, ein Stück weiter stand ein Mann mit seiner Frau am Arm. Sie sahen scheu herüber. Hier bin ich ihnen ausgeliefert, dachte Rothacker.
Der jüngere SA-Mann begann seine Taschen abzutasten. Als er an die hintere Hosentasche kam, zuckte er zurück.
„Was haben Sie da drin?"
„Eine Ledertasche mit Schlüsseln."
„Nehmen Sie selbst heraus!"
Die Helden! Es könnte eine entsicherte Pistole sein. Rothacker zog die Tasche heraus und schob den Reißverschluss auf.
„Hier, bitte!"
„Werden Sie nicht frech!" brüllte der SA-Mann.
„Haben Sie einen Ausweis bei sich?"
„Ja. Meinen Militärpass."
Die beiden sahen sich an.
„Sie waren im Felde?"
„Ja."
„Zeigen Sie mal her!"
Rothacker zog seine Brieftasche aus der Jacke, kramte den Pass heraus. Die SA-Leute drehten sich mit dem Rücken gegen das Licht der Straßenlaterne, lasen. Rothacker sah, wie der Große den Jüngeren anstieß.
„Sie waren verwundet?"
„Ja. Dreimal, einmal schwer."
Der Große gab ihm den Pass zurück. Pause.
„Auf wen haben Sie denn da am Bahnhof gewartet?"
„Auf einen früheren Betriebskollegen. Von Siemens. Er wollte versuchen, mir Arbeit zu besorgen."
Die beiden sahen sich wieder an. Der Große nickte.
„Nichts für ungut. - Die Zeiten sind nun mal so, da packt es manchmal auch Unschuldige." Er zuckte mit den Schultern. „Wir tun auch nur unsere Pflicht!"
„Heil Hitler!"
„Heil Hitler!"
Am nächsten Tag. Strubbel ist bei mir. Noch schneller als sonst streicht er fortwährend seine Haare aus dem Gesicht.
„Hat dir Rothacker alles erzählt?"
„Ja."
Strubbel macht eine lange Pause, stützt den Kopf in die Hände. Die strähnigen schwarzen Haare fallen drüber. Hängen ihm immer in die Stirn. Kämmt er sich nie? Ich warte, sehe ihm an, dass er irgend etwas sagen will und mit sich kämpft.
„Et wird schummrich. Ick jehe in die Kolonie, wir müssen die Verbindung haben." Die Worte kommen schwer über seine Lippen. „Edith und der Junge brauch'n ooch Kleider. - Die Schreibmaschine und der Abziehapparat sind ooch noch da. - Kommst mit?"
Die SA hat ein „Überfallkommando" in der Laubenkolonie liegen. Er ist vor vierzehn Tagen ihren Kugeln knapp entgangen. Er will... Ist ja Wahnsinn!
„Nenne uns den Namen eines anderen Genossen. Wir werden versuchen, ihn zu erreichen. Kleider könnt ihr morgen schon haben. Die Apparate holen wir später. Wir, nicht du, Strubbel!"
Strubbel schüttelt den Kopf. Fährt sich wieder und wieder durch das Haar. Redet lange. Er hätte seine „Fahnenflucht" schon lange bereut. Was denn die Kolonisten von ihm denken sollten, die er jahrelang... Ob er etwas Besonderes sei? Alle anderen Genossen wären geblieben. Überhaupt, er müsse sich um die weitere Arbeit dort kümmern. Jawohl! Um die Apparate. Er hätte einen Kolonisten beauftragt, sie zu bergen. Einen kleinen Lahmen. Der gelte dort allgemein als harmloser Blöder. Hätte auch früher nie etwas mit ihnen zu tun gehabt. Zu dem wolle er, der wohne dicht am Waldrand. Der gäbe aber den ganzen Kram nur ihm, traue sonst niemandem.
Ich versuche, ihm die Sache erneut auszureden. Er verstoße gegen die primitivsten Regeln der Konspiration. Ich drohe mit einem Beschluss wegen seiner Disziplinlosigkeit.
Strubbel steht auf.
„Ick jehe", schneidet er mir die Worte ab.
Ich kämpfe mit mir. Kann ich ihn allein gehen lassen? Was ich sagte, gilt auch für mich. Ich bin Funktionär, darf mich nicht auf Abenteuer einlassen. Aber er wird denken, ich sei feige. - Ich nehme den Hut vom Haken.
------Wir gehen über einen sumpfigen Feldweg. Die Füße
saugen sich bei jedem Schritt fest. Zehn Meter Abstand liegen zwischen uns. Strubbel bleibt oft stehen, lauscht. Der Wald kommt. Ich habe Mühe, ihn zwischen Gestrüpp und Bäumen im Auge zu behalten. Plötzlich lässt sich Strubbel fallen. Ich werfe mich hinter eine Brombeerhecke. Zwei SA-Leute fahren am Waldrand auf Rädern vorbei. Karabiner hängen quer über ihre Rücken.
„— und dann hat se mir uff eenmal..."
Sie sind schon ein Stück weiter, nur das Lachen kommt noch herüber.
Dann sind wir in engen Gängen. Verrostete, wacklige Zäune. Niedrige, verschachtelte Lauben stehen dahinter. Strubbel sieht sich um, macht einige große Sätze. Eine Türangel kreischt. -
Die Petroleumlampe wirft «einen gelben Kranz auf den Tisch, taucht den Raum in trübes Dämmerlicht. Es riecht nach Dung und etwas Säuerlichem. Der „blöde" Lahme sitzt mir gegenüber. Sein Kopf liegt tief zwischen den Schultern, die Ohren stehen wie breite Klappen darüber. Seine Arme liegen auf dem Tisch. Sie sind ungewöhnlich lang. Die Handrücken dicht behaart.
„Is alles da", sagt er, „ich warte schon zwei Tage."
Er hat eine helle, dünne Stimme wie ein Kind.
„Wir wollten jestern eenen aus der Kolonie treffen, er kam nich", sagt Strubbel.
„Wer?"
„Dumke."
„Vor drei Tagen verhaftet."
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