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Jan Petersen - Unsere Straße (1933)
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Schweigen.
„Ist die SA ...?"
„Liegt noch bei Schwenke. Zwanzig Mann. Der Schuft ist mit ihnen von Laube zu Laube gegangen. Eber hatten sie auch mitgenommen. Nach zwei Tagen war er wieder hier. Völlig zerschlagen. Sie lassen ihn als Leimrute hier, sagen die Genossen. Wollen sehen wer sich mit ihm trifft."
„Sonst?"
„Haben nichts gefunden. Nach dir haben sie überall gefragt."
Draußen tapsen Schritte vorbei, das kleine Fenster ist nur angelehnt. Wir lauschen. Es ist nichts zu erkennen, nur dass es drei Personen sind, sehen wir. Sie gehen vorbei. Der Lahme kramt in einer Ecke. Kommt wieder an den Tisch.
„Hab ich für dich hier gesammelt."
Ein Zwanzigmarkschein liegt vor Strubbel. Der nimmt zögernd den Schein, will etwas sagen ... grelles Scheinwerferlicht füllt plötzlich den Raum - verschwindet. Ein Motorrad knattert draußen vorbei.
„In der Kolonie ist keins", sagt der Lahme.
Also SA!
„Kannst du vorläufig mit uns Verbindung halten?"
„Ja."
Ich nenne ihm einen Ort, gebe die Zeit an.
„Los, kommt jetzt!"
Wir tappen um die Laube, stehen dann im Stall. Hühner sitzen auf langen Stangen, schütteln sich. Der Schein der Taschenlampe schreckt eine Ziege hoch. Sie glotzt uns an, meckert leise, ihr pralles Euter schaukelt. Der Lahme macht eine verkratzte Truhe auf. Sie ist zur Hälfte mit gelben Futterkörnern gefüllt. Er wühlt darin, zieht zwei große Pakete hervor. Die Schreibmaschine und den Abziehapparat. Wir stopfen sie in die Rucksäcke, die Kleider obenauf.
Es geht durch Beerensträucher, an dem Aborthäuschen vorbei, dann kommt der Zaun. Dahinter Wald. Der Lahme hebt das Drahtgeflecht hoch. -
Zwei Wochen danach zog Strubbel mit seiner Familie in die Gegend von Königs Wusterhausen. Er nahm Arbeit bei einem Bauern. Er konnte sich hier bei uns nicht mehr länger halten.
In den ersten Wochen nach dem Reichstagsbrand hatten wir keine Verbindung mit zentralen Parteistellen. Der ganze Apparat schien auseinandergefallen zu sein. Dazu kam die gerade auf unsere Gegend konzentrierte Terror- und Verhaftungswelle. Wir konnten keine Zeitung herausbringen, nur das Flugblatt zum Reichstagsbrand. Da kein zentrales Material und auch keine Anweisungen kamen, hatten wir uns darauf beschränkt, die zuverlässigen Genossen zusammenzuhalten. Auch unsere beiden Betriebsverbindungen, über Strubbels Laubenkolonie und über Teichert, haben wir aufrechterhalten können.
Vor acht Tagen ist nun in unserem Bezirk eine Stadtteilleitung gebildet worden. Zum ersten Mal bekamen wir gedruckte Zeitungen, die „Rote Fahne", geliefert. Franz' Vorschlag, unsere eigene nächste Zeitung in seinem neuen Bezirk herzustellen, ist von unserer Stadtteilleitung gebilligt worden, wegen der besonders großen Gefahr bei uns. Heute hat unsere neue Stadtteilleitung sogar bei uns angefragt, ob wir einen zuverlässigen Genossen hätten, der mit dem Motorrad Material in die Provinz bringen könnte. Ernst Schwiebus fährt in seinem Parfümgeschäft bei eiligen Lieferungen anstatt mit dem Dreirad mit einem Motorradgespann. Aber eben wegen seiner Arbeit kommt er nicht in Frage. Die Fahrt muss am Tage gemacht werden. Wir kommen auf Ede. Er hätte keinen Führerschein, meint Rothacker, aber er fahre gut. Er sei früher einmal mitgefahren. Es wäre nicht Edes Rad gewesen, der Teufel wisse, woher er es gehabt hätte. Ede sei eben Ede.
Am Nachmittag treffe ich Ede. Er hat Rothackers Anweisung befolgt, ist in „Zivil". Er hat einen blauen Anzug an, trägt einen weichen Hut. Das Glasauge ist eingesetzt. Er schüttelt mir kräftig die Hand.
„Der Erich hat anjejeben. Ick hab mir extra in die Sonntachsschale jeschmissen."
Ich muss lachen.
„Siehst auch wie ein guter Bürger aus."
„Ick fühl mir ooch so, Jan."
Wir biegen in einen Parkweg ein.
„Watt is denn dett für 'ne Karre?"
Ede dreht den Kopf weit herum, sein rechtes Auge sucht mich. Der scheint aufgeregt zu sein, freut sich wohl auf die Motorradfahrt.
„Haben sie nicht gesagt. Der Ort liegt fünfundsiebzig Kilometer entfernt, du sollst in spätestens drei Stunden zurück sein."
Ede verzieht die Mundwinkel, wiegt den Kopf.
„Müsste wenichstens 'ne Fünfhunderter sein." Er lacht. „Drei Stunden - und wenn ick Panne habe?"
Fünfhunderter? Ich verstehe seinen Fachausdruck nicht. Fasse ihn am Arm.
„Fährst du auch sicher? - Es ist keine Spazierfahrt. Du hast eine heiße Ladung mit, mein Lieber."
„Mensch, Jan. Kennst mir lange jenuch!" Ede schüttelt vorwurfsvoll den Kopf. „Ob ick sicher fahre? - Ick war bei's Militär een Jahr lang Motorradfahra."
Richtig, er ist ja auch Mechaniker. Wenn er mal Arbeit bekam, war es immer nur für kurze Zeit. Er kann die feine Arbeit nicht mehr vollwertig machen.
Wir gehen langsam zurück.
„Watt ick noch sagen wollte - Kurgel war bei mir."
„Na, und?"
Kurgel ist der Genosse vom Roten Frontkämpferbund, der mit uns Verbindung hält.
„Er wollte zu Franz. Weeß er denn nich, wo der is?"
„Niemand darf es wissen. Du doch auch nicht. Vereinbare was mit Kurgel und sag mir Bescheid."
„Jut", sagt Ede, und nach einer Pause, „er fragt ooch, ob wir über Dammert watt wissen."
„Nichts Genaues. Er soll im Maikowski-Haus sein."
Dammert ist vor zwei Wochen verhaftet worden. Wegen der Maikowski-Affäre, nehmen wir an.
Wir gehen eine Zeitlang schweigend. Ede lacht plötzlich vor sich hin. Ich sehe ihn fragend an.
„Kurgel hat mir 'ne Sache erzählt! Der Pfeifer-Rudi -kennst'n doch?"
Ich nicke. Es ist auch ein RFB-Genosse, der im Spielmannszug früher Querpfeife blies.
„Der ist doch zur Tarnung mit andern in die Jugend vom Deutschnationalen Kampfring geschickt worden?"
„Damit hängt dett ja zusamm'! Der jeht also vor unjefähr acht Tagen mit eenem Stahlhelmer von dett Werbelokal zu Hause. Beede war'n in Uniform, in die blauen Hemden mit de Hakenkreuzbinde am Arm. Red' der Dollbräjen Rudi den janzen Weech de Ohr'n voll. Een richtijen Kommunisten möcht er mal in'e Knochen ham. Dem würde er's jeben. De Fresse würde er ihm breitschlagen und so weita. Er red' und red'. Rudi kommt langsam in Wut. Uff eenmal holt er aus und langt dem ,Kameraden' eene, noch eene. Er hat'n richtich fertichjemacht."
Ede lacht laut, klatscht sich mit der Hand auf den Schenkel.
„Und du hältst das noch für eine große Tat?!"
Ede ist ein guter Genosse, aber er ist eben Ede. Er würde in solchen Augenblicken also genauso handeln. Eben habe ich mit ihm die Motorradfahrt vereinbart. Kann ich das überhaupt verantworten?
„War natürlich Blödsinn", sagt Ede, „sie ham ihn verhaftet, klar." Er tippt sich gegen die Brust. „Aber ick kann den Jung vastehn. Mir war ooch der Kaffee hochjekomm'!"
Ede macht eine Pause, schüttelt den Kopf.
„Nich mal die Fahne kann ick jrüßen", fängt er wieder an. „Ick jeh in een Haus, wenn so 'n Zuch kommt."
Ich sehe ihn an. Selbst das starre Glasauge scheint seinen Widerwillen auszudrücken. Seit einigen Wochen ist eine Verfügung heraus, dass die im Marschzug mitgeführten Hakenkreuzfahnen von allen „Volksgenossen" gegrüßt werden müssen. Andernfalls sie sich marxistenverdächtig machen, hieß es weiter. - „Neulich konnte ick keen Haus mehr erreichen", sagte Ede wieder, „da hab ick se den Arsch jezeicht!"
„Du bist verrückt! Gebückt hast du dich?!"
„Quatsch. Ick wer mir schnappen lassen, watt. Umjedreht hab ick mir."
Ich muss nun doch lachen.
„Watt denn, watt denn?" fragt Ede.
„Denkst du, die haben gewusst, was das bedeutet?"
„Ick hab et jewußt, dett jenücht mir!" sagt Ede beleidigt.
Ü ber das Maikowski-Haus gingen bei uns in all den Wochen Gerüchte um, dass die verhafteten Genossen dort furchtbar gefoltert würden. Wir hatten aber nie Einzelheiten gehört. Wussten nie genau, wer von den verhafteten Genossen dort war.
Gestern aber sprach ich mit X. Er hatte Ernst Schwiebus um eine Unterredung mit mir gebeten. Ich habe lange überlegt, ob ich mich mit X treffen soll, ging aber dann doch. Schwiebus versicherte mir, er hätte unbedingt den Eindruck, dass X es ehrlich meine. X war früher in einer unserer Massenorganisationen. Nach der Reichstagswahl am 5. März sahen wir ihn plötzlich in SA-Uniform herumlaufen. Wir mieden ihn, warnten alle Genossen.
X hat mir gestern erzählt, dass er von seinem Meister gezwungen wurde, in die SA einzutreten. Der Meister erklärte ihm, er könne nur noch SA-Leute beschäftigen. X ist Bäcker. Er arbeitet seit vielen Jahren in dieser Bäckerei. Er wollte seine Familie nicht in Not bringen. Seine Frau ist oft krank, er hat zwei Kinder. „Ich bin nicht im Sturm 33, gehöre nur zur Standarte West", sagt X. (Er trug auch eine andere Sturmnummer am Braunhemd, zeigte mir außerdem seinen SA-Ausweis.)
„Ich bin in der SA-Reserve, weil ich über fünfunddreißig Jahre alt bin. Ich gehe sonst nicht in die Maikowski-Kaserne. An dem Abend aber hatte man mich hinbestellt. Ich sollte eine Kassiererfunktion übernehmen —." X machte eine Pause. Ich drängte ihn nicht, ich merkte, dass alles schwer aus ihm herauskam.
„Wir saßen an den Tischen, viele spielten Karten, einige lasen Zeitung. Plötzlich flog die Tür auf.
,Der Sturmführer', schrie einer.
Da sprangen alle auf. Es war wirklich der Sturmführer. Ein paar Dreiunddreißiger waren bei ihm, sie hatten zwei Zivilisten in der Mitte.
Ein SA-Mann schrie: ,Der links ist Trompetenkarl vom RFB!' Ich sah, wie der eine Verhaftete zusammenzuckte."
X brach dann ab. Er zuckte selbst zusammen. Er fuhr fort:
„Der ganze Haufen schob sich zur Raummitte. Der Sturmführer setzte sich auf einen Tisch, er stemmte die Schaftstiefel auf die Bank. ,Nun wollen wir uns mal ein bisschen unterhalten', sagte er zu dem Burschen, den sie Trompetenkarl genannt hatten. So einen Schwarzhaarigen. Er zeigte dann auf den anderen Zivilisten.
,Den stellt in die Ecke. Wir haben ihn eben erst vor der Haustür aufgegriffen. Er soll sich den Betrieb mal ansehen -mehr wie ein Paar trockene Unterhosen wird's nicht kosten. Dabei wird ihm das Herumschnüffeln vergehen.'
Die ganze SA lachte. Es war ein kleiner dicker Mann. Er zitterte jämmerlich. Er hatte so eine steife Melone. Die drehte er in den Händen. Er sah verstört umher. Es sah aus, als ob er zu weinen anfangen wollte.
,Herr Sturmführer ... Herr ... ich wollte bloß nach Hause gehen ... Ich ...', so stotterte er.
,Maul halten!' brüllte der Sturmführer.
Ein SA-Mann zog dann den Dicken beiseite. Dann haben sie sich den Schwarzen wieder vorgenommen. Der Sturmführer schrie:
,Du bist einer der feigen Banditen, die unseren Hanne auf dem Gewissen haben - du bist aus dem Rotmordverein! Los, sag allen deinen Namen - wie heißt du?!'
Der sagte ganz ruhig: ,Kurgel.' Er sagte weiter: ,Ich war früher im RFB. Mit dem Fall Maikowski habe ich nichts zu tun - da war ich gar nicht in Berlin.'" (Ich schreckte zusammen, als ich den Namen hörte, verbiss es aber. X brauchte nicht zu merken, dass ich Kurgel kannte. Denn dass Kurgel verhaftet worden war, wussten wir. Ede hatte ihn nach unserer Besprechung nicht mehr erreicht. Die Hausbewohner hatten ihm erzählt, dass ihn die SA spätabends geholt hatte. Wo er aber war, wussten wir nicht. Auch der Verhaftungsgrund war uns rätselhaft.)
„Die ganze SA war näher an den Kurgel herangerückt, als der Name Maikowski fiel. Der Sturmführer aber schob sich dicht an ihn heran.
,Wo ist Zander? - Franz Zander?!' fragte er ihn dann plötzlich." (Wegen Franz hatten sie ihn also verhaftet. Ich verbarg meine Erregung.)
„Der Kurgel sah ihn an. Blieb aber stumm.
Der Sturmführer drohte ihm: , Wird's bald? Oder sollen wir nachhelfen?!'
Aber dieser Kurgel sagte: ,Ich kenne keinen Franz Zander.' Er sprach dabei ganz anders, so mit dunkler Stimme. Aber fest. Ich merkte ihm an, er hatte in den paar Sekunden einen Entschluss gefasst. Das Gesicht des Sturmführers wurde blaurot vor Wut. Er holte aus, schlug Kurgel die Faust ins Gesicht. Dem kam das Blut in dicken Tropfen aus der Nase, lief auf sein Hemd.
Der Sturmführer fing jetzt schon an zu brüllen: ,Du kennst keinen Zander? - Du lügst, du Lump!'
,Nein!' sagte der Kurgel noch mal.
,Der hat Mumm', sagte einer leise hinter mir.
,Dammert aus dem Koller holen!' befahl der Sturmführer."
(Hier unterbrach ich X: „Hast du richtig gehört - Dammert?") „Ja. Dammert!"
(Dammert hatte ihn also denunziert. Und zwei Tage vorher hatte Kurgel Ede noch gefragt, ob wir wüssten, wo Dammert sei.)
„Zwei SA-Leute liefen fort. Der Sturmführer war vom Tisch gesprungen, lief aufgeregt hin und her. Da kamen die SA-Leute mit dem Dammert. Sie zogen ihn halb. Er sah furchtbar aus. Sein Gesicht war vollkommen verschwollen, mit geronnenem Blut bedeckt. Die Kleider hingen ihm bedreckt und zerfetzt am Leibe.
Der Sturmführer schrie: ,Gegenüberstellen!'
Sie zerrten den Dammert in den Kreis. Der Sturmführer stellte sich vor die beiden. Er stieß den Dammert gegen das Kinn.
,He! Wach mal auf! - Ist das der Kurgel hier? Zanders Helfer?!' fragte er.
Der Dämmert hob schwer den Kopf. Sein Blick war so: Verzeih mir - ich kann nicht mehr. Der Dammert nickte dann müde mit dem Kopf.
Der Sturmführer lachte: ,Dem ist die Kur schon ganz gut bekommen, was?' Er drehte sich zu dem Kurgel um. „Willst du noch immer leugnen, du Lump! Heraus damit! Wo steckt Zander?!' schrie er."
(X fragte mich, ob ich Zander kenne. Ich habe natürlich nein gesagt.)
„Ja, ich kenne Zander - weiß aber nicht, wo er ist', sagte Kurgel dann. Es klang ganz verzweifelt. Er wusste wohl, dass sie ihm nicht mehr glauben würden, nachdem er erst angegeben hatte, er kenne ihn nicht. Der Sturmführer fuchtelte Kurgel vor Wut mit den Fäusten vor dem Gesicht herum, auch die SA war erregt geworden.
,In die Zange nehmen - Peitsche riechen lassen!' schrieen einige.
,Der Junge hat Nerven, verdammt hat der Nerven', sagte der eine wieder hinter mir. Es war ein ganz Großer, mit zusammengewachsenen Augenbrauen. Sie nannten ihn .Antenne'.
Der Kurgel aber sah immer starr geradeaus. Er blutete immer noch.
Der Sturmführer sagte: ,Du kennst ihn nun ja schon, weißt aber immer noch nicht, wo er ist?' Er knöpfte langsam seine Pistolentasche auf, nahm den Revolver heraus. Er schob die Sicherung zurück, hielt Kurgel den Revolver vor. Er schrie ihn an: ,Zwei Minuten hast du für dein Gedächtnis noch Zeit!'
Der Kurgel stand ganz still, sagte kein Wort."
(Ich musste die Zähne zusammenbeißen, um X nicht merken zu lassen, dass ich die Genossen alle kannte. Kurgel - er wusste ja wirklich nicht, wo Franz war!)
„Der Sturmführer brüllte: ,Gesicht zur Wand!'
Sie rissen den Kurgel herum. Er stand ganz ruhig, er sah die Wand an. Der Sturmführer schoss zweimal. Der Kalk spritzte. Ich war mit den andern SA-Leuten zurückgegangen. Er hatte absichtlich danebengeschossen. Sie rissen den Kurgel wieder herum.
Der Sturmführer schrie ihn wieder an: ,Hast dir's überlegt? Sonst wird's ernst! Wo steckt der Zander?!' Der Kurgel sah ihm starr ins Gesicht. Der Sturmführer rief: ,Die Streichelriemen bringen!' Dann rief er: ,Antenne!' Das war der Große, der die Bemerkungen gemacht hatte, der mit den Augenbrauen.
,Hast du gut Abendbrot gegessen?' fragte ihn der Sturmführer.
Da lachten alle.
Der SA-Mann, die »Antenne' lachte aber nicht. Der sagte: ,Besser ist aber, wenn sie sich gegenseitig »streicheln«.' Der Sturmführer sagte: ,Hast recht.' Und ich bin der Meinung, sagte X, dass die ,Antenne' nicht schlagen wollte. Er wollte einfach nicht. Es gibt doch solche unter ihnen, wenn der Verhaftete tapfer ist, dann finden sie es manchmal feige, ihn zu schlagen.
Zwei SA-Leute kamen mit dicken Lederpeitschen. Der Dammert wurde über eine Bank gelegt. Dann zogen sie ihm das Hemd über den Kopf. Sein ganzer Rücken hatte blutunterlaufene Striemen. Der Sturmführer gab dem Kurgel eine Peitsche. Und er sagte:
,Reden willst du nicht, jetzt betreu du deinen Genossen damit. Bis du dir's überlegt hast!' Er drohte ihm mit der Faust."
X stand selbst vom Stuhl auf und drohte auch so mit der Faust.
„,Wenn du nicht schlägst, kommst du dran. Also!'
Sie stießen den Kurgel zur Bank. Er stand ganz regungslos. Da wurden alle still.
Der Sturmführer fuhr ihn an: ,Na, wird's bald?!'
Und ich", sagte X, „ich hatte immerzu Angst, die andern müssten hören, wie mein Herz in mir schlägt.
Der Kurgel aber rührte sich nicht. Alle waren wieder ganz still. Und da stöhnt doch der Dammert: ,Schlag doch... schlag doch...'
Da sank dem Kurgel der Kopf auf die Brust. Plötzlich aber drehte er sich um, und er warf dem Sturmführer die Peitsche vor die Füße. Da packten sie ihn und zerrten ihn über die Bank. Der Sturmführer selbst schlug. Der Kurgel schrie so, dass ich mir die Lippen zerbissen habe, um stillzubleiben. Dann röchelte er und wurde ganz ruhig. Er war ohnmächtig geworden." -
Wir saßen lange stumm. X sagte dann schließlich, ich solle aber keinen Gebrauch von alledem machen, er befürchte dann das Schlimmste für sich. Mit uns ständig in Verbindung zu bleiben, lehnte X ab. Er sei nur in der SA-Reserve, erfahre nicht soviel. Ich brachte ihn aber doch so weit, dass er sich in großen Abständen bei Schwiebus im Parfümgeschäft melden will. -
Ich weiß, was mir geschieht, wenn ich mit diesen Aufzeichnungen in die Hände der Nazis falle. Die ganze vorige Woche schrieb ich nicht. Ich war nahe daran, alles zu verbrennen. Die Schwierigkeiten schienen mir zu groß. Ich habe versucht, mir zum Schreiben eine andere Wohnung zu besorgen. Doch es könnte nur bei Genossen sein. Sie stehen aber wie ich in der illegalen Arbeit. Auch bei ihnen kann eine plötzliche Haussuchung gemacht werden. Dann hätte ich sie auch noch damit belastet. Mein Platz, an dem ich die geschriebenen Seiten aufbewahre, ist auch nicht unbedingt sicher. - Aber in dieser Woche, in der ich nicht schrieb, kam ich innerlich auch nicht zur Ruhe. Ein seelischer Druck lastete auf mir, zwang mich, jetzt weiterzuschreiben. - Ich muss das alles aufschreiben! Es muss uns gelingen, dieses Manuskript in das Ausland zu bringen. Es muss helfen, das Gewissen der Menschen wachzurütteln.
Gestern traf ich Franz in seinem neuen Bezirk. Ich habe ihm sofort den Bericht von X erzählt. Er hörte schweigend zu.
Franz brachte mich dann dort zu Genossen, bei denen ich heute nacht schlafen soll. Wir wollen uns dann gegen Morgen treffen, um unsere Zeitung abzuziehen. Schon gestern auf dem Heimweg hatte ich den Gedanken, Käthe in ihrem Büro anzurufen. Wenn ich sie in diese Gegend bestelle? Ich könnte endlich wieder mit ihr zusammen sein. Sie hat mir ständig sagen lassen, dass sie nichts von einer Beobachtung gespürt hat. Aber darf ich sie trotz alledem mitnehmen? In eine Wohnung, die für mich Ausgangspunkt der Arbeit sein soll? Ich habe lange geschwankt, mir selbst „Verteidigungsgründe" geschaffen - einmal wird es gehen; sie sagt, dass sie keine „Beschattung" merkt -, aber immer wieder kamen die politischen Bedenken. Nun habe ich sie heute aber doch angerufen.
Ich gehe langsam durch die Straßen. Es ist schon warm. Die Sonne liegt noch auf den Fensterreihen der Häuser. Die Tage sind ja schon länger. Auf der Tauentzienstraße gehen die Fußgänger in dichten Reihen. Wie immer. Die Frauen tragen Frühjahrskleider. Die Lokale sind überfüllt, viele SS-Offiziere sitzen zwischen den Gästen. Hinter den Schaufenstern der Läden stehen Schilder: „Deutsches Geschäft!" -„Deutsche Waren! Rein deutsche Wertarbeit!" Hitler-Bilder, in schweren Gold- und Silberrahmen, teilweise grün umkränzt, stehen hinter den Schildern. Viele Ladenbesitzer grenzen sich gegen die plötzliche „Schmutzkonkurrenz" ab. Ihre Schilder sind größer:
„Altes nationalsozialistisches Geschäft seit..." In einem Schaufenster sieht Hitler ernst, mit verschränkten Armen, auf die um ihn gruppierten, seltenen (entsprechend teuren) Blumen. Hinter ihm steht eine große, rot beleuchtete Glaskugel, in der Schleierschwänze und Goldfische schwimmen. Auch dieser Ladeninhaber beteuert auf einem Schild, dass seine Blumen und Fische schon immer deutsch gewesen seien.
Käthe ist schon in dem Cafe. Ihre Augen glänzen auf. Sie wird rot vor Freude.
„Den Platz habe ich mit vieler Mühe gehalten, mein Lieber."
Sie spricht sicher nur, um etwas zu sagen. Ich bin über die Begrüßung nicht hinausgekommen. Wir haben uns so lange nicht gesehen, jetzt bringe ich aber kein Wort heraus. Ich nehme nur ihre Hand. Von vorn kommt bisweilen das schrille Klingeln der Kasse. Mädchen mit weißen Hauben laufen hin und her. Mir ist ruhig. Wenn nur die Zeit nicht so kurz wäre. Ein Zeitungshändler geht mit hoch erhobenem Arm durch die Reihen.
„Geben Sie mal."
„Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums!"
Ich fange dann doch an zu lesen. Ich lasse sogar Käthes Hand los.
„Die neue Firma verteilt die Posten", sage ich.
Wir gehen, Käthe hängt sich fest in meinen Arm. Sie trägt ein helles Frühjahrskostüm, ein buntes Dreiecktuch um den Hals. Ich freue mich.
„Nach vorn sehen, Jan. Wir rennen ja die Leute um."
„Heute geht's nicht anders - ich kenne dich doch fast nicht mehr."
„Wohin gehen wir eigentlich?"
„Wirst ja sehen."
Lange gehen wir schweigend. Ich biege in eine kleine Nebenstraße ein.
„Jan?"
Ich schrecke aus meinen Gedanken. Die Bedenken waren wieder da. Unsinn. Es ist uns niemand gefolgt, ich habe das letzte Stück Weg aufgepasst.
Die Treppe ist breit und ausgetreten. Von den Wänden ist der Kalk in großen Stücken abgeplatzt. Es riecht nach gebratenen Zwiebeln. In jedem Stockwerk liegen im Halbkreis vier Türen. Ich läute.
Die Genossin Lamprecht, eine kleine dunkle Frau, öffnet.
„Da sind wir."
„Man rein", sagt sie freundlich und lässt uns vorbei.
Wir gehen durch einen langen Korridor. In der offenen Stubentür steht ihr kleines Mädel. Das Licht der Lampe liegt hell auf dem blonden Kopf.
„Onkel Karl - Onkel Karl!"
„So heiße ich nämlich hier", sage ich leise zu Käthe.
Lamprechts essen gerade Abendbrot. Der Mann sitzt in einem blaukarierten Hemd hinter dem Tisch. Er hat die Ärmel hochgekrempelt. Er ist groß und breit gebaut, sieht sehr jung aus. Wir schütteln uns die Hände.
„Das ist also Käthe."
„Kurt - Erna", sagen die beiden.
Erna hat eine weiche, verquollene Hand.
„Ich war waschen", sagt sie.
„Und ich trage Kohlen", lacht Kurt, „bei mir gibt's also auch genug zu waschen."
Wir setzen uns.
„Wollt ihr eine Tasse Kaffee mittrinken?"
„Danke, wirklich nicht."
Das kleine Mädel steht bei der Mutter, sieht aber Käthe an.
„Wie heißt du denn?" fragt Käthe.
Sie kommt zögernd näher. Käthe nimmt sie auf den Schoß.
Wir wollen auch mal zusammen wohnen. Ein gedeckter Tisch, ein Zimmer.
„Was gibt's Neues, Kurt?"
„Auf dem Kohlenplatz? Nichts. Rudi war kurz vor euch hier, hat den Rucksack und den Anzug gebracht. Du sollst pünktlich sein, drei Uhr."
„Sonst hat er nichts gesagt?"
„Nein."
„Dann wird's ja klappen. Sind tüchtig, eure Jungs."
Kurt erzählt dann doch von seinem Kohlenplatz. Er beliefere den größten Teil der Kollegen mit illegalen Zeitungen. Die Kutscher nähmen sie dann zu den Spreekähnen mit.
Wir reden noch lange. Ich frage Kurt noch dies und jenes, aber ich höre seine Antworten nur noch halb.
„Ich werde dir noch meine vier Wände zeigen", sage ich endlich zu Käthe.
Wir gehen den Korridor ein Stück zurück. Ich klinke die Tür auf, zünde die Petroleumlampe an. Eine Kommode, auf der eine Waschschüssel steht, ein schmaler Tisch, ein Stuhl. Rechts an der Tür steht ein Feldbett. Vergilbte Bilder aus Illustrierten sind darüber mit Reißnägeln angeheftet. Ich lege mich halb auf das Feldbett, verschränke die Arme unter dem Kopf. Käthe geht schnell zum Fenster, sieht hinaus.
„Klein, was?"
Käthe nickt, setzt sich neben mich. Ich lege den Arm um sie. Sie zeigt auf den Stuhl. Ein blauer Monteuranzug. Ein Rucksack.
„Wozu braucht ihr denn das?"
Ich lege die Hände um ihren Hals, ziehe ihren Kopf herunter.
Ihr Haar hängt über unsere beiden Gesichter.
Unser Atem geht ineinander. - Aber es denkt doch immer weiter in meinem Kopf, denkt ohne mich weiter: vielleicht war's doch falsch, hier in diesem Zimmer.
Die Straßen sind menschenleer. An den hohen gußeisernen Masten hängen die Leuchtglocken rötlichgelb im Morgengrauen. Mich fröstelt. Ich mache große Schritte. Lange Taxireihen stehen an den Straßenecken. Die Chauffeure haben die Mantelkragen hochgeschlagen. Die meisten schlafen zurückgelehnt. Sie warten auf verspätete Zecher. Hier im Westen gibt es viele Tanzdielen und Barstuben. Rot und grün flammen ihre Leuchtbuchstaben. Sie haben Eingänge im Rokokostil, manche kleine dicke Butzenscheiben. Plakate hängen davor: „Kapelle Soundso spielt zum Tanz!"
Franz wartet mit Rudi und Bruno schon an der Ecke. Auch sie sind in blauen Monteuranzügen. Über Rudis Schulter hängt eine große lederne Werkzeugtasche. Die andern haben Rucksäcke. Sie schütteln mir die Hand. „Morjen, Karl."
„Los, ab geht die Post", sagt Bruno.
An der Ecke stehen zwei Schupos. Sie sehen uns nach.
„Wenn die wüssten, au Backe", sagt Rudi leise.
Bruno lacht. Seine Knollennase wird noch breiter. Er war bei den Fichteboxern, daher die Nase, hat mir Franz erzählt.
Rudi kommt an meine Seite.
„Wir sind Monteure der Firma Schindler & Co., Bülow-straße 3. Schlosserarbeiten für die Bühnendekoration. Verstanden?"
„In Ordnung."
„Wie viel ham wir denn diesmal?"
„Sechshundert."
„Die Reinemachefrauen kommen später. Schaffen wir's bis dahin?"
„Klar, allemal."
Schweigen. In Rudis Werkzeugtasche klappert Metall.
„Hier ist der Puff", sagt Bruno.
Blaue Leuchtbuchstaben sind an dem Haus: „Spanische Rose."
Links von dem Lokaleingang ist eine kleine Eisentür. Ein Messingknopf daneben. „Nachtklingel" steht schräg darüber.
„Jetzt die Klappe halten", sagt Rudi.
Der elektrische Türkontakt schnarrt. Wir gehen in einen schmalen Gang hinein. Eine matte Birne brennt an der Decke. Ein Stück weiter ist ein kleines Fenster. Es steht auf. Rudi steckt den Kopf hinein. „Heil Hitler!"
Es ist ein kleiner Raum. Eine Taschenlampe mit grünem Glasschirm brennt auf einem Schreibtisch. Ein dicker Mann steht in Hemdsärmeln vor einer Waschschüssel. Er hat schwarze Hosen an, dicke goldene Troddeln hängen an den Seiten. Die Jacke, mit ebensolchen Tressen, hängt über einem Stuhl. Der Dicke hat ein Handtuch in der Hand. Auf seinem feisten Gesicht brennen rote Flecken, seine Nase ist blauviolett.
„Heil Hitler!" sagt er mit Bassstimme. „Wieder da? Ich will gerade abrücken."
Er fährt sich mit dem Handtuch über die Glatze, sein Bauch schwabbelt in der Hose.
„Mit Verstärkung", sagt Rudi, „wir wollen heute fertig werden."
„Gut, gut, ihr kennt ja den Weg", brummt der Dicke.
Wir gehen durch eine Küche. Die weißen Fliesen leuchten, links stehen zwei große elektrische Herde, eingebaute Kühl-und Wandschränke. Durch eine geschliffene Glastür kommen wir in einen länglichen Raum. Es riecht nach kaltem Rauch. An den Wänden sind kleine Kojen. Schwere rote Samtportieren hängen davor. Ein Vorhang ist zurückgeschlagen. Zwei tiefe Klubsessel stehen um einen niedrigen runden Tisch. Eine halbe Zigarre mit dicker Bauchbinde liegt auf einem blanken Rauchservice. Die Tischdecke hat einen großen Weinfleck. Der nächste Raum ist eine Barstube. Langbeinige Hocker stehen vor dem gebogenen Mixtisch. Die Nickelhähne blitzen. In dem Spiegel der Anrichte spiegeln sich lange Reihen dickbauchiger Flaschen, einige sind mit Bastgeflecht umhüllt.
„Für die feinen Pinkels", sagt Bruno und bleibt stehen.
„Weiter zum Kabarettsaal", drängt Rudi, „jede Minute fehlt nachher."
Der Saal hat in der Mitte eine glänzende Tanzfläche. Rechts ist ein Podium. Ein Flügel, zwei Reihen Stühle und Notenständer stehen darauf. An den Saalseiten stehen silberlackierte Tische und geschweifte Stühle. An den Wänden sind gleichfarbige Beleuchtungskörper mit Kristallschalen angebracht. Sie heben sich von den mit dunkelblauem Tuch bespannten Wänden hell ab.
Bruno rückt einige Tische zusammen, legt eine Decke auf den Stuhl daneben.
„Los, die Nudelkiste uffbaun. Falls jemand kommt, schmeißt ihr die Decke über den Kram."
„Der Paradeonkel war der letzte", meint Rudi.
Bruno pfeift durch die Zähne.
„Der letzte. - Hat meine Mutter ooch jesacht - nachher war't doch wieder soweit."
Rudi zeigt auf die kleine Bühne im Vordergrund.
„Könnt ruhig poltern, wir machen schon genügend Schlosserlärm."
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