Vor mir drehen die Passanten die Köpfe. Ein Mann geht mit schleppenden Schritten über den Fahrdamm. Er hat ergraute Schläfen, ein Einglas sitzt in seinem zerknitterten Gesicht. Er trägt eine alte Husarenuniform, weiße Schnüre baumeln auf seiner Brust. Einer aus der wilhelminischen Mottenkiste! - Meine beiden Verwandten, SA-Männer, fallen mir ein. Sie haben die vier Jahre Krieg hinter sich. Tragen ihre Auszeichnungen jetzt stolz auf dem Braunhemd. Der eine ist Angestellter, der andere Friseur. Sie haben sich immer als „was Besseres" gefühlt. Die Zeiten, da sie vom Kasernenhofdrill, vom Schützengrabendreck sprachen, sind vorbei. Die Uniform ist wieder da. Die Uniform. Wie vielen gibt sie erst Haltung! Vor den Frauen, vor allen. Ist es nicht ein Unterschied, in Arbeitslosenkleidern - oder in einer schmucken Uniform zu dem Mädel zu kommen?
X, der mir den Bericht über Kurgel gab, konnte nur noch als SA-Mann weiter Brote backen. Selbst in unserer Straße sind in der letzten Zeit braun Uniformierte aufgetaucht. Der eine ist bei einem Direktor Chauffeur. „Der Alte will nur noch mit einem SA-Mann am Steuer fahren", hat er mir erklärt. Der zweite arbeitet bei einem Klempnermeister, der zwar immer unter Tarif bezahlt, aber auch nur SA-Leute beschäftigt. Für sie gibt es tausend Gründe, weshalb sie auf keinen Fall arbeitslos werden wollen. Sie können dann nicht mehr mit ihrem Mädel ins Kino gehen. Sie können nicht mehr rauchen. Sie wollen sich nicht von ihrer Mutter den Teller Suppe hinschieben lassen. Der dritte SA-Mann in unserer Straße ist arbeitslos. Er hofft, durch die SA Arbeit zu bekommen. Trotzdem, der war immer da, wo „was los" war. Früher war er in einer unserer Wehrorganisationen.
Hier auf der Straße können die weniger Ängstlichen die Sammler noch mit einem Kopfschütteln abtun. In ihren vier Wänden aber sind sie ihnen - und den Organisationswerbern ausgeliefert. In seinem Hause muss jeder den „Volksgenossen" spielen. Vor zwei Wochen hat die Nachbarin aus persönlichem Hass einen indifferenten Arbeiter bei der Gestapo denunziert. Er wohnt einige Häuser von mir entfernt. Er komme abends immer mit großen Säcken nach Hause, hat die Frau angegeben. Eine Haussuchung wurde gemacht. Der Mann saß zwei Tage in Haft. Dann war heraus, dass er sich in den Säcken von seiner Arbeitsstelle Brennholz mitbrachte.
Wie hat sich neulich meine Gemüsefrau ausgedrückt? -Nichts weiß sie von mir, nur, dass ich kein Nazi bin. - „Was sollen wir machen?" meinte sie. „In eine Organisation muss man doch eintreten, um endlich Ruhe zu haben. Wir haben uns die mit den niedrigsten Beiträgen ausgesucht."
Und was hat die Tochter unserer Nachbarin erzählt? - Sie arbeitet in einem städtischen Betrieb. Zum zweiten Mal wurden der Belegschaft Reverse vorgelegt, die sie unterschreiben musste. - „Es ist wiederholt festgestellt worden, dass die Volksgenossen in ihrem privaten Umgang den deutschen Gruß nicht anwenden. Ich verpflichte mich hiermit, den deutschen Gruß... Es ist mir nunmehr bekannt, dass ich bei Nichtbeachtung dieser Anordnung in unserem Betrieb nicht mehr tätig sein kann." - -
Der Öffentlichkeit aber haben sie den „deutschen Gruß" mit der Drohung erpresst, „dass jeder »Volksgenosse', der die Hakenkreuzfahne nicht grüßt, sich marxistenverdächtig macht".
Ein Untergrundbahnzug kommt zischend aus dem Tunnel, fährt die steil ansteigende Überführung hoch. Nollendorfplatz. Dort ist die Telefonzelle. Sie ist leer. Ich schlage das Telefonbuch auf.
Albrecht - Krämer - Nathan - hier! Auf der ersten Seite des Buchstabens „N" ist oben links ein Bleistiftkreuz. Die neue Wohnung ist also noch in Ordnung. Franz muss das Kreuz, wie vereinbart, erst vor einer halben Stunde gemacht haben. Eine gute Idee. Sie bewahrt uns davor, eine Wohnung „anzulaufen", die nicht mehr „sauber" ist. Rothacker steht schon an der verabredeten Ecke. Ich gehe langsam an ihm vorbei, sehe in den Schaufensterscheiben, dass er mir folgt.
„Dr. W. Schönbeck" steht an der Tür. Ich läute. Eine junge, schlanke Frau öffnet.
„Wir möchten Herrn Stückert sprechen."
Die Frau nickt.
„Bitte, treten Sie näher", sagt sie freundlich.
Ein breiter Korridor, Hirschgeweihe, ein großer Garderobenständer mit geschliffenem Spiegel. Wir gehen an zwei weißlackierten Türen vorbei. Wartezimmer steht an der einen. An einer Tür mit mattierter Scheibe klopft die Frau.
„Herein!" ruft eine Männerstimme. Das ist doch nicht Franz? - Ein großer Mann mit schütterem, angegrautem Haar und einer Hornbrille kommt uns entgegen. Stimmt da was nicht? — Aber das Zeichen im Telefonbuch war doch da!
„Herr Karl?"
Der Mann sieht uns fragend an.
„Ja, bin ich."
„Bitte, nehmen Sie Platz. Franz kommt sofort."
Der Mann verlässt das Zimmer.
„Merkwürdig —", flüstert Rothacker und wiegt den Kopf.
Karl - den Namen kann er doch nur von Franz wissen. Aber mir ist doch etwas beklommen. Wir warten einige Minuten. Nichts rührt sich. Rothackers Finger trommeln nervös auf der Tischplatte.
Da kommt Franz.
„Mensch, wir dachten schon ..."
„- wir sind in der Falle!" lacht Franz.
Seine grauen Augen glänzen, er legt die Arme um uns.
„Ich hatte im Zimmer dahinten noch mit jemandem zu tun. Der brauchte euch nicht zu sehen."
Wir setzen uns um den runden Tisch.
„Wie geht's euch?"
„Uns geht's gut", sagt Rothacker.
„Und zu Haus, Jan?"
„Sie lassen dich grüßen. Ist alles in Ordnung. Vorgestern sprach ich mit Käthe."
„Grüß sie auch schön, ja? — Und was macht euer Laden?"
„Geht alles weiter. Bloß —", Rothacker stockt.
Franz legt die Arme auf den Tisch. Er sieht uns nicht an.
„Preuß ist verhaftet worden - Hilde erzählte mir —", sagt er leise.
Schweigen.
„Bei der Klebezettelaktion, sagte Hilde."
„Ja."
„Er ist in der Papestraße - in der Kaserne der Feldpolizei", sagt Rothacker. Er sieht den Fußboden an. Wie müde er spricht! Er müsste mal ausspannen.
„Dich suchen sie sicher auch noch", sagt Rothacker wieder.
Franz zuckt mit den breiten Schultern.
„Schon möglich. - Gut, dass ihr Hilde von der Sache mit Kurgel nichts erzählt habt. Sie macht sich sonst bloß Sorgen."
„Dammert haben sie laufen lassen."
„So?!"
„Wir haben selbstverständlich die Genossen vor ihm gewarnt. Er hat sich ganz zurückgezogen, macht einen bedrückten Eindruck. Sie haben ihn furchtbar geschlagen. Seine Arbeit hat er natürlich verloren."
Wieder Schweigen. Rothacker zupft an der Tischdecke.
„Kümmert ihr euch um die Angehörigen der Verhafteten?"
„Wir haben zweimal Geld gesammelt."
„Auch bei den Geschäftsleuten?"
„Ja. Bei den beiden, die wir genau kennen."
„Keine Lebensmittel?"
„Lebensmittel? - Nein."
„Müsst ihr auch versuchen." Franz tippt mit dem Zeigefinger auf den Tisch. „Wir haben hier im Bezirk schon 'ne Menge Lebensmittel gesammelt."
Rothacker dreht gleichzeitig mit mir den Kopf zur Tür. Im Gang draußen tappen Schritte, die Korridortür klappt mehreremal.
„Ist nichts", sagt Franz, „die Sprechstunde fängt an. Ist doch der beste Deckmantel für uns."
Er streicht sich über das Haar.
„Was ich noch fragen wollte - die Laubenkolonieverbindung. Habt ihr für Strubbel einen Ersatzmann?"
Die Laubenkolonie. Wir schweigen. Franz sieht mich fragend an. Rothacker stößt die Frage heraus: „Du kennst doch Herbert Ziemeck?"
„Aus Strubbels Laubenkolonie - der im Röntgenstraßenprozess von den Nazis mitbeschuldigt war? -"
„Tot", sagt Rothacker dumpf. - „Einundzwanzig Jahre alt - -."
Es wird ganz still im Zimmer. Franz stützt den Kopf in die Hände. Rothacker nimmt die Brille ab, fährt sich über die Augen. Sein Gesicht sieht zusammengefallen aus.
„Die SA hatte mit Motorrädern die Kolonie umstellt. Ziemeck floh aus der Laube, kletterte über die Zäune, rannte in Todesangst die Gänge entlang. Es war am hellen Nachmittag. Die ganze Kolonie sah die Menschenjagd —"
Franz sitzt unbewegt.
„— Sie schossen nach ihm. Trafen ihn in den Rücken. Ein Motorradgespann fuhr an. Sie packten ihn in den Beiwagen. Die Mutter lief schreiend hinterher. Beim Charlottenburger Amtsgericht, auf offener Straße, hat er sich noch einmal gewehrt. Er stieß dem Fahrer die Hände von der Lenkstange. Das Gespann stürzte um. Der Fahrer brach sich einige Rippen, liegt jetzt noch im Krankenhaus -."
Rothacker sieht auf den Tisch, nur seine Lippen bewegen sich.
„----In der Maikowski-Kaserne haben sie ihn dann totgeschlagen. Er ist der zweite von den acht Jungens, die damals in dem SA-Prozess freigesprochen werden mussten... Seine Mutter ist halb wahnsinnig geworden... sie läuft umher und erzählt überall, dass ihr Junge ermordet worden ist..."
Franz sitzt noch immer unbewegt.
Rothacker sagt wieder: „Der Hamburger Reichstagsabgeordnete Georg Stolt ist vor einigen Tagen beerdigt worden -auch aus der Maikowski-Höhle."
Draußen schrillt eine Klingel. Wir rühren uns nicht.
— Maikowski-Höhle — wie viele solcher Höhlen gibt es
in Deutschland----? Vor einigen Tagen hat Göring einen
Erlass verkündet: „Für Angriffe auf die SA und SS und den Stahlhelm - Todesstrafe." Für Angriffe? Wer sich nur wehrt -hat angegriffen.
Da hebt Franz den Kopf.
„Es ist ja bei euch —", er spricht den Satz nicht zu Ende, sieht an uns vorbei.
Ich sage: „Es ist auch, als ob sich alles gegen uns verschworen hat. Unseren Zeitungsausträger haben sie gefasst. Es war schon vorsichtshalber ein Genosse aus einer anderen Straße, weil wir doch vielleicht zu bekannt sind. Wir können uns seine Verhaftung nicht erklären. Wir haben da zum ersten Mal an Spitzelei gedacht. Jetzt werden wir alle Genossen durchgehen und beobachten. Der Genosse hatte noch fünf Zeitungen bei sich. Sie haben alle fünf Empfänger geholt. Er hat ihre Namen genannt, so lange haben sie ihn ..."
„Kenne ich —!"
„Georg Krüpel. Drei Jahre Gefängnis hat er gekriegt. In der Urteilsbegründung heißt es, er sei schon früher Funktionär gewesen, Milde sei da am falschen Platz."
Franz steht auf, geht hin und her.
Rothacker sagt: „Du überlegst jedes Mal, ob du noch nach Hause gehen sollst. Bist du zu Haus, sitzt du wie auf einer heißen Herdplatte. - Das Gefühl habe ich immer im Felde gehabt. Da hast du dich jeden Tag gewundert, dass du noch lebst - -"
Er hebt die Arme, lässt sie wieder fallen.
„Man hat Familie - kein Geld -", seine Stimme wird hart - „wir wollen auch nicht fort! Wenn's nicht zum Äußersten kommt."
Franz bleibt am Fenster stehen, sieht hinaus.
„Die beiden Frauen, die bei der Plaketteneinweihung gerufen haben -", sage ich.
Franz dreht sich um. Sieht mich fragend an.
„— die eine hat vier Wochen Gefängnis gekriegt. Die andere haben sie nicht mitgenommen, sie ist hochschwanger."
Schweigen.
Dann sagt Franz: „Wir haben eine neue Sache konstruiert. Kommt, ich zeige sie euch."
Wir gehen durch eine Verbindungstür in das Nebenzimmer. Ein schwerer Teppich liegt dort. Klubsessel stehen um einen Rauchtisch. Über einem Flügel hängt ein großes Ölgemälde. So etwas habe ich doch mal auf einer Ausstellung gesehen? -Medea! Auf dem Flur dreht sich Franz um. Es ist niemand zu sehen. Wir gehen scharf links herum. Ich höre, wie hinter uns eine Tür geöffnet wird. Eine helle Frauenstimme fragt etwas, eine Männerstimme antwortet. Metallinstrumente klappern. Franz zieht uns in eine schmale Kammer.
Regale stehen an den Wänden. Glasschalen, Blechbüchsen, Holzklammern liegen darauf. In der linken Ecke steht ein kleiner Tisch. „So, hier!" sagt Franz.
Ü ber dem Tisch hängt waagerecht eine Holzlatte. Auf der einen Seite ist daran ein kleiner Blecheimer mit Schnüren befestigt, auf der andern ein wie eine Schale zurechtgebogenes Stück Pappe. Auf der Pappschale liegt zusammengefaltetes Papier. Franz greift in den Blecheimer. Die Pappschale drüben senkt sich. „Sand, gewöhnlicher Sand", sagt Franz und öffnet die Hand. Er zeigt auf den Blecheimer. „Hier am Boden ist ein kleines Loch. Es ist jetzt mit Papier verstopft. Die ganze Geschichte wird an einem Dach befestigt, das an einer Verkehrsstraße liegt -." Er lächelt. „Ihr seid ja gespannt wie Flitzbogen!"
„Und ob, und ob", sagt Rothacker.
Ich freue mich. Rothacker ist wie ausgewechselt.
„Der Papierpfropfen wird im letzten Augenblick entfernt", erklärt Franz weiter, „der Sand läuft langsam aus dem Eimer, die Pappschale senkt sich zur Straße."
„Allerhand! Allerhand!" sagt Rothacker.
„Wir haben es lange ausprobiert. Es dauert einige Minuten, bis die Flugblätter von der Pappschale kippen. Wir nehmen dann auch ganz dünnes Papier. Das schaukelt langsam herunter und wird vielleicht noch vom Wind weitergetragen. -Das Gewicht muss natürlich am Anfang auf beiden Seiten genau ausbalanciert sein."
„Könnten wir auch machen. Wenn es bei uns ruhiger ist", sage ich.
Rothacker nickt.
„Einfach und ziemlich sicher. Sag uns durch Hilde Bescheid, wie's geklappt hat, ja?"
„Wird gemacht."
Auf dem Heimweg bleibe ich an einer Ullstein-Zeitungsfiliale stehen. Wir sind einzeln gegangen. Rothacker vor mir.
„Ergebnisse der Polizeifahndungsaktion.
,Die gestern im ganzen Reich schlagartig um zwölf Uhr mittags einsetzende Untersuchung der Autos und Eisenbahnen hat ein günstiges Resultat gezeigt, Staatsgefährliches Material gefunden — Kuriere der KPD —'"
Mit mir lesen sechs andere. Ich mustere verstohlen die Gesichter. Sie sehen gewollt gleichgültig aus. Wenn die anderen Nazis wären, würden sie nicht so krampfhaft starren, sicher hätte dann einer schon eine genugtuende Bemerkung gemacht.
Gestern war ich in einer schlimmen Situation. Ich fuhr mit dem Fahrrad zu einem Genossen, der in einem angrenzenden Bezirk wohnt. Ich sollte von ihm internes Material über die SA abholen, für unsere nächste Zeitung. Der Genosse saß mit seiner Frau gerade beim Abendbrot. Sie redeten mir so lange zu, bis ich mit ihnen aß.
Wir tauschten unsere Erfahrungen aus. Redeten lange über den bevorstehenden Reichstagsbrandprozess. Der Genosse erzählte mir, dass sie regelmäßige Rundfunkabende organisiert hätten. Sie hätten mehrere Gruppen, die ständig zu fünft oder sechst den Moskauer Sender hörten. Nachrichten aus Deutschland, hauptsächlich aber über den kommenden Reichstagsbrandprozeß. Im Ausland seien große Gegenaktionen im Gange. Bekannte ausländische Juristen hätten sich zu einem Komitee vereinigt, das in England einen Gegenprozeß machen will. Es sei auch ein Buch mit dokumentarischem Material in Vorbereitung. Das Material beweise klar, dass die Nazis die Brandstifter seien. Er erzählte mir noch, dass zwei sozialdemokratische Genossen ihre Wohnung und Apparate zur Verfügung gestellt haben. Ich sagte ihm, dass wir keine Hörerabende organisieren könnten, wir seien zu gefährdet. Er lud mich darauf für einen Abend ein. So erfuhr ich viel, viel Neues, doch als ich nach der Uhr sah, war es zehn vorbei. Ich hatte nun Bedenken. So spät, mit dem Material!? Ich ließ dann aber doch aus dem Vorderrad des Fahrrades die Luft heraus, klappte den Fahrradmantel hoch, wickelte das Material um den Schlauch, pumpte das Rad wieder auf und fuhr los.
Die Sommernacht ist still. Ich biege bald in eine einsame breite Straße ein. Das Rad rollt auf dem zementierten Radfahrweg fast von selbst - ist auch noch weit. Zu beiden Seiten der Straßen liegen Laubenkolonien. Vor manchen brennen bunte Lampions, irgendwo spielt jemand Mandoline. In der Straßenmitte - der Radfahrweg liegt dicht daneben - steht eine doppelte Baumreihe. Vereinzelte Bänke dazwischen. Unwirklich hellgrün ist das Laub im Laternenlicht. Still ist es hier. Mitten in der Stadt. Ich werde mit Käthe hinausfahren. Wir werden baden, rumtollen, es wird herrlich sein. Wie schnell das Rad läuft! Meine Füße treten mechanisch die Pedale. Auf den Bänken sitzen vereinzelte Liebespärchen, ich sehe flüchtig eine dunkle Menschengruppe rechts auf dem Bürgersteig - sonst ist alles wie ausgestorben. - Es wird ja auch mal alles anders werden. - Ich schrecke aus meinen Gedanken.
Zwei-, drei-, viermal knallt es plötzlich. Ist der Schlauch geplatzt? Das fehlte mir jetzt! Meine Füße treten immer noch - ich sehe auf den Fahrradmantel - ist doch in Ordnung?! Peng-peng-psss-psss - zischt es dicht an meinem Kopf vorbei. Da schreien doch auch welche? - Ich drehe den Kopf zurück. Dunkle Gestalten rennen über den Fahrdamm hinter mir. Gilt das etwa mir? - Da verstehe ich plötzlich aus dem Geschrei die Worte: „Halten! - Anhalten! - Halten!" Ich trete auf den Rücktritt, springe vom Rad. SA! - Die stellen dich! zuckt es mir durch den Kopf. Da kommen sie auch schon heran. Fünf, sechs, sieben Mann, registriere ich. Der Schreck liegt lähmend auf meinem Gehirn. Die beiden vordersten halten mir ihre Revolver vor das Gesicht. Meine Hände umklammern die Lenkstange des Fahrrades.
„Kannst du Schwein nicht gleich anhalten!" brüllt mich der eine SA-Mann an.
Er hält mir immer noch die Pistole vor das Gesicht, das Metall glänzt stumpf.
„— Ich wusste nicht —, dass Sie mich —"
„Wenn dich ein SA-Mann anruft, hast du zu halten, du Schwein!"
„Gleich in die Fresse haun - in die Fresse haun!" schreit der SA-Mann daneben. Er stößt mir den Revolverlauf vor die Brust.
„Erst mal durchsuchen!" sagt der erste barsch. Und zu mir: „Leg das Rad hin, du Schwein! Hände hoch!"
Ich gehorche. „Leg das Rad hin -." Sie werden nicht drauf kommen -. Mein Herz klopft wie ein Hammer, doch meine Nerven habe ich schon wieder in der Gewalt.
Sie tasten meine Knickerbockerhosen ab. Befühlen besonders den weiten Stoff an den Knien.
„Taschen leeren!" Ich tue es. - Kein Mensch ist auf der Straße - wenn die mich hier -? Und wenn sie mich fragen, wo ich wohne? - Wie komme ich in diese Gegend -? Mein Gehirn arbeitet fieberhaft.
Ich darf den Schlüsselbund, den Kamm und die beiden Taschentücher wieder einstecken. Was soll ich auch an mir verstecken? Ich habe ja nur die Knickerbockerhosen und das Polohemd an! - Am besten ist, ich spiele den Ängstlichen, da imponiert ihnen ihre „Stärke", überlege ich krampfhaft. Das In-die-Fresse-Haun haben sie wohl inzwischen vergessen? Aber die Revolver sind immer noch da - sie stehen im Halbkreis um mich herum - denken die, ich werde flüchten? -Irrsinn. Der vorne links scheint das Kommando zu führen? Aha, ein Stern am Uniformkragen - Scharführer!
Da stößt der mir den Revolverknauf in das Schulterblatt. „Wo kommst du jetzt noch her?!"
„- Ich war bei Bekannten - da hatte einer Geburtstag -", sage ich stotternd.
Einen Augenblick lang sieht er mich drohend an. Die andern? - Warten sie auf ein Kommando?
„Mach, dass du weiterkommst!" brüllt da der Scharführer. „Weißt Bescheid jetzt! Wenn dich ein SA-Mann anruft, hast du sofort zu halten, verstanden?!"
„Jawohl", sage ich, scheinbar verängstigt. Der Scharführer sieht die andern grinsend an. „Der macht sich bald in die Hosen", steht in dem Blick. Die andern grienen auch. - Lass sie grienen - die können mich mal -. Ich stehe immer noch still.
„Los! Verdufte!" brüllt er mich wieder an. Ich schiebe das Rad ein paar Schritte weiter, steige auf. Nur nicht hastig losfahren - ruhig bleiben - die sehen mir sicher nach - das Material in dem Reifen - -
Rothacker hat mich abgeholt. Wir wollen zum Arbeitsnachweis. Rothacker geht stempeln. Ich könne jetzt wieder ruhig mitkommen, meinte er. Der Nachweis sei immer noch so voll wie früher, die Beamten an den Schaltern hätten alle Hände voll zu tun, könnten sich nicht um jeden einzelnen kümmern. Rothacker hat uns in den letzten Wochen ständig berichtet, dass auch bei den Arbeitslosen die erste Furcht vor dem Terror schwindet. Dass sie bereits anfangen, zwar sehr vorsichtig, gegen die Hitlerdiktatur zu diskutieren. Auf Grund seiner Berichte haben wir schon in unserer Zeitung darüber geschrieben.
Am Umformerwerk stößt mich Rothacker an. An der schmalen Straße, die sich zwischen dem Werk und den Notstandsbaracken hinzieht und durch die Franz damals flüchtete, steht ein neuer Laternenpfahl. „Zauritzweg" steht auf dem Schild. Die Benennung ist erst seit kurzer Zeit. Es ist den Nazibehörden reichlich spät eingefallen, dass der konstruierten „Kameradschaft" des in der „Mordnacht" gefallenen Polizeibeamten Zauritz zu Maikowski auch ein äußeres „Symbol" gegeben werden müsste. Gleichzeitig mit der Wegbenennung haben sie unter der Gedenktafel Maikowskis in unserer Straße eine Bronzeplatte für den Polizisten Zauritz angebracht. Sie ist durch einen Aufmarsch der Dreiunddreißiger und einer Schupoformation eingeweiht worden.
Wir biegen in die Berliner Straße ein. Rothacker sieht mich an. „Das ist doch ...?"
Natürlich, Ede! Er hat uns schon gesehen, kommt auf uns zu.
„'Tach, ihr Rabauken", sagt er und schüttelt uns die Hand. Einen Griff hat der an sich!
„Vormittags - und schon so in Schale?"
Ede hat einen blauen Anzug an, trägt einen hellen weichen Hut. Auf dem karierten Oberhemd baumelt eine bunte Krawatte. Er trägt sein Glasauge.
„Du merkst ooch allet", lacht er.
Sein gesundes Auge blinzelt mich an.
„Hast du was Besonderes vor, für uns was zu ,arbeiten'?" fragt Rothacker.
Ede legt den Kopf schräg, sieht ihn an.
„Nee, diesmal nich. Ick jeh zu meine Kleene. Die hat heute Ausjang."
„So, so", sage ich. Ich muss lächeln. Er hat mir mal von dem Mädel erzählt, sie ist als Köchin in Stellung. Der „Stullendampfer", wie er sie in seiner drastischen Art getauft hat.
„Muss doch ooch mal sein", nickt Ede. Er tupft sich mit dem Taschentuch gegen das Glasauge. „Dett drückt mir mächtig -aber ohne det darf ick nich komm", sagt er. Und dann: „Also, macht's jut. Die Kleene wartet!"
Wir gehen schweigend weiter. Das Charlottenburger Rathaus steht auf der anderen Straßenseite. Aus den kleinen Fenstern an der Turmspitze hängen schlaff zwei riesige Hakenkreuzfahnen. An der linken Seite eine schwarzweißrote. Auf den breiten Steintreppen laufen ständig Menschen. Auch die Bürgersteige der breiten Verkehrsstraße füllt das lärmende Hin und Her des Werktages. Niemand sieht zu den Fahnen hinauf. Wir empfinden immer wieder Hass bei ihrem Anblick. Nehmen die Passanten sie schon hin? Sind sie schon etwas Alltägliches geworden, etwas, das unabänderlich zu sein scheint?
Vor uns auf dem Wilhelmplatz, dicht hinter dem Rathaus, stehen in der prallen Sonne kleine Gruppen. Arbeitslose. An der verschossenen Kleidung, den ausgetretenen Schuhen erkennt man sie. Ich freue mich plötzlich. Auf dem Platz haben früher in diesen Vormittagsstunden immer unsere Diskutiergruppen gestanden. In der Nebenstraße liegt der Arbeitsnachweis. Zu Hunderten überqueren die Arbeitslosen den Platz. Niemand hat in den ersten Monaten gewagt, sich hier hinzustellen. Er hätte sich verdächtig gemacht. Wir bleiben bei einer Gruppe stehen. Ich habe deutlich gesehen, dass mehrere Männer sprachen. Jetzt stehen sie mit den Händen in den Taschen und hören einem schlanken, schwarzhaarigen Burschen zu. Der führt in stummer Verabredung das Gespräch weiter.
„_ _ Wie ich die Angel rausreiße -", er legt die rechte Hand abschätzend auf den linken Oberarm - „so ein Hecht, sage ich euch!"-
Die andern lachen laut. Klingt für mein Ohr zu deutlich, wie bestellt. Keiner der Männer nimmt anscheinend Notiz von uns. Aber ich sehe, dass sie uns verstohlen mustern. „Wollt wohl Horchposten machen?" steht in ihren Blicken.
Wir gehen weiter.
„Die haben den Bogen weg", sagt Rothacker schmunzelnd.
In der kurzen Straße, die zur Stempelstelle führt, stehen dicht hintereinander auf dem Bürgersteig Verkaufsbuden und -stände. Laut schreien die Händler in den Zug der Arbeitslosen hinein.
Um einige Stände stehen dichte Gruppen. „Sensationelle Gebrauchsartikel" werden da vorgeführt. Hier wird nur mit Groschenware gehandelt, der Kaufkraft der Passanten angepasst. Fünf Rasierklingen für zehn Pfennig, die „echte Kalbfleischbockwurst" zu demselben Preis, „neu erfundene" Krawattenhalter für fünfzehn Pfennig, Obsthändler stehen dazwischen, sogar eine Bude, die sich stolz „Schnellbesohlanstalt" nennt. Eine Mark kostet die Ersatzgummisohle. Sie wird auf Wunsch sofort angeklebt.
„Die Dummen werden nicht alle", sagt Rothacker. Ein Wahrsager steht unter einem Zeltdach. Ein Menschenknäuel um ihn, zumeist Frauen. Er hat ein buntes Tuch als Turban um den Kopf gedreht, trägt einen Umhang mit grellen Sternenbildern. An seinen Ohren hängen lange gelbe Ringe. Er zieht ständig an einer Kette, die in einer Glassäule ein kleines Männchen auf und ab bewegt. „Der kleine Mann aus Amsterdam, der alles weiß und alles kann." - „Ein Blick in Ihre Zukunft - 10 Pfennig" steht auf dem Schild. Ein Kasten mit „Horoskopen" daneben.
Wie Pilze schießen die „Wahrsager" jetzt aus der Erde. Selbst auf dem Kurfürstendamm, in der „vornehmen" Gegend, stehen sie. „Wissenschaftler" nennen sie sich dort, und die Honorare sind entsprechend höher. Im Dritten Reich erscheinen Dutzende Hellseherzeitungen. Hanussen hat Schule gemacht.
Die Stempelstelle der Arbeitslosen ist in einer stillgelegten Fabrik untergebracht. Wir gehen über den ersten Hof. Über holpriges Pflaster. Rechts flammt in Parterreräumen grelles Licht. Eine Versuchsanstalt für Schweißapparate ist dort. Dicht daneben stehen in langer Reihe Menschen. Sie haben noch nicht den stumpfen Gesichtsausdruck der langjährig Erwerbslosen. Auch ihre Kleider sind gut erhalten. Es ist die Zahlstelle für Erwerbslose, die erst kurze Zeit ohne Arbeit sind. In einigen Wochen werden auch sie auf dem Wohlfahrtsamt landen.
Rothacker muss auf den zweiten Hof. Zur Stempelstelle für ungelernte Arbeiter. Ich weiß, dass er sich hierher umschreiben ließ. Er spart so den stundenlangen Weg zu seinem Fachnachweis in die innere Stadt. Eine kleine Treppe führt zum zweiten Hof hinunter.
Dem Stempelraum gegenüber steht eine verregnete Holzbaracke. Die Massenspeiseküche für Wohlfahrtsempfänger. „Löffelstampe" nennen sie die Arbeitslosen. Über der Tür hängt eine Hakenkreuzfahne. Hinter den Scheiben sehen wir SA-Uniformen. In einer knappen Stunde werden in Scharen die Arbeitslosen kommen. Das Wohlfahrtsamt gibt Essenkarten aus, mit denen sie für einige Groschen einen Napf Essen erhalten. Viele verschämte Kleinbürger sind dann darunter, die das Essen in Henkeltöpfen nach Hause tragen. Früher sind die Arbeitslosen oft mit den vollen Essnäpfen protestierend
zu den Stadträten ins Rathaus gezogen. Das Essen ist meist eine dunkelbraune Brühe, in der Kartoffel- und Gemüsestücke schwimmen. Es ist fettarm und halb roh. Die Protestmärsche zum Rathaus sind nicht mehr, aber das schlechte Essen ist geblieben.
„Wenn de dett im Stehn jenießt, biste bloß Durchjangsstation", hat mir Ede mal erklärt.
Die große Stempelhalle ist voller Menschen. Es ist ein schmutziggrauer Saal. Rings an den Wänden stehen in großen Buchstaben Sprüche: „Ehrlich währt am längsten" - „Wer am Wege baut, hat viele Meister".
In der Saalmitte stehen lange Reihen niedriger Bänke. Sie sind dicht besetzt. In Gruppen sitzen die Männer zusammen und diskutieren. Andere klatschen schmierige Karten auf die Bänke. Die Stimmen der Hunderte füllen den Raum mit dumpfem Brausen. Die Luft ist schwer und verraucht, es riecht nach Tabak und Schweiß. Vorn sitzen hinter einer Holzbarriere Beamte. Einer ist in SA-Uniform. Sie schreien zuweilen Namen in den Raum. Auf beiden Seiten stehen in langen Reihen Männer, die auf ihre Stempel warten. Rothacker stellt sich an.
„Ich warte hier an der Seite."
Rothacker nickt. „Gut."
Wie eine seltsame Verschwörerversammlung sieht das aus. Die niedrigen Bänke, auf denen die Männer fast hocken. Die Rauchschwaden, die halblaut geführten Gespräche, die die Luft mit Summen füllen. Manche haben noch gut erhaltene Kleider, die meisten sind blankgescheuert und geflickt. Junge Gesichter, alte, zerfurcht, mit strubbligen Bärten. Ich erkenne einige Genossen. Einer nickt mir zu. Er trägt noch die blaue Schirmmütze unserer früheren Wehrorganisation. In der Mitte über dem zusammengelegten Sturmriemen ist auf dem blauen Tuch ein runder, nicht ausgeblaßter Fleck. Dort saß früher das antifaschistische Abzeichen. Einige Gruppen stecken die Köpfe dicht zusammen, schon ihre Mienen und Gesten verraten mir, worüber sie sprechen: Politik. Dass die SA-Bonzen diese Ansammlung überhaupt dulden? - Gespräche nicht kontrollieren? Die decken sich sicher alle gut ab. Vorn rechts hängt über einem Schalter eine Tafel. Mit Kreide steht groß darauf: „Arbeiter für die Landwirtschaft gesucht." Es steht niemand vor dem Schalter.
Jemand schlägt mir auf die Schulter. Ich fahre herum.
„Mensch, Jan!"
„Kurt, du?!"
Kurt schüttelt mir die Hand, zieht mich auf eine Bank. Drei Männer sitzen neben uns. Sie unterbrechen ihr Gespräch. Einer stopft sich umständlich eine Pfeife. Ich merke, wie er Kurt fragend ansieht.
„Macht weiter", sagte Kurt, „der Kumpel ist knorke."
Die drei stecken wieder die Köpfe zusammen.
„Wie geht's ,Geschäft', Jan? Man hört von euch nichts."
„Wie soll's gehen? Mal gut, mal schlecht. Ich bin nicht der Chef, weiß auch nicht alles."
Kurt schiebt sich die Mütze aus dem Gesicht. Er lächelt verständnisvoll. Schöne Zähne hat er. Sieht immer noch so braun und gesund aus wie früher. „Hm, na ja", sagt er.
Kurt ist ein junger Genosse aus Strubbels Laubenkolonie. Wir haben früher oft nachts zusammen Parolen geklebt und gemalt. Jetzt habe ich ihn lange nicht gesehen. Unser Verbindungsmann für die Kolonie ist ja der Lahme geworden, zu dem ich damals mit Strubbel ging. Kurt weiß sicher nichts davon. Ist auch Prinzip. In unserer Straße sind wir bei Besprechungen, beim Materialherstellen auch immer nur zwei oder drei. Die anderen Genossen in den Fünfergruppen hören und sehen nur die Resultate.
„Habt ihr von Strubbel gehört?" fragt da Kurt.
„Nein. Nichts."
„Aber ich."
„So?"
„Der sitzt bei Königs Wusterhausen. Hat sich eine Lehmbude gebaut. Es geht ihm leidlich - jedenfalls hat er kein »Ungeziefer' mehr."
„Hast du ihn gesprochen?"
„Ja. Ich war mal mit dem Fahrrad draußen." Kurt lacht trocken. „Der ist sogar in ,Lohn und Brot' gebracht worden. Landhilfe. Pflichtarbeit. Muss er machen. Die zahlen dort Landarbeiterlöhne, dreizehn Mark die Woche, mit Frau und Kind. Hat er hier fast als Stütze gehabt. |
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