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Jan Petersen - Unsere Straße (1933)
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Ich werde solchen Zeitungsausschnitten nur einige erklärende Worte hinzufügen. Sie zeigen doch, wie der Prozess durchgeführt wurde. Dass er um jeden Preis nur ein Ziel haben soll: Todesurteile! Ich werde auch sagen, dass vierundzwanzig Genossen wegen dieses Prozesses verhaftet worden sind und nur achtzehn vor Gericht stehen. Sie müssen also schon ermordet worden sein, sonst wären sie mit angeklagt!
„...Hunderte Tote! Hunderte Tote! - In den nächsten Tagen entscheidet es sich. In den nächsten Tagen, sage ich euch!"
Teichert läuft auf und ab, gestikuliert mit den Armen.
„Muss et sich ooch! Wird et sich ooch! Denkste, die jeht's so wie uns?! Die ham Maschin'jewehre! Die ham Handgranat'n!"
Teichert bleibt vor Ede neben dem Tisch stehen. Zeitungen liegen dort. Mit großen Überschriften:
„Einige Aufstandsherde in Österreich erstickt! - der Karl-Marx-Hof von den Regierungstruppen im Sturm genommen! -Schwere Verluste der Heimwehren!"
Teichert sagt:
„Mussolini zieht Truppen an der Grenze zusammen! - Hitler bereitet vielleicht schon den Einmarsch vor! - Jeder von uns hofft, dass die österreichischen Genossen siegen, Ede. Aber es kann auch anders kommen, es..."
„Kümmert mir 'n Dreck, watt die Tintenkulis hier schreiten. Die Proleten ham losjeschlag'n, und wir sitzen hier und könn' nischt mach'n! Verrückt könnt' man wer'n!"
„Schreit doch nicht so!"
„Hört doch endlich: leiser! leiser!" Der Konfektionär fuchtelt mit den Armen.
Teichert läuft wieder hin und her. Ede stützt den Kopf in die Hände. Den ganzen Abend - überhaupt seit die ersten Meldungen über die Ereignisse in Österreich kommen - geht das nun schon. Jeder überschüttet den andern mit Fragen. Jeder hofft. Stundenlang diskutieren wir - schreien uns an -heute kommen wir zu fünft zusammen! -
„Heldenhaft kämpfen die Proleten", fängt Ernst Schwiebus wieder an, „aber macht's nur der Mut, die Maschinengewehre? Generalstreik gehört dazu, stillstehen muss alles. Hast ja gelesen: in den Betrieben arbeiten sie weiter, du!"
Ede wischt wütend die Zeitungen vom Tisch.
„Hast jelesen! Hast jelesen! Die wehr'n sich wenichstens! Wie war't denn bei uns, als Adolf kam?! Nischt hat sich jerührt - janischt. Und wenn sie nich durchkomm'! Jekämpft ham se! Jekämpft!"
„Ede hat recht. Besser eine militärische Niederlage, als die Faschisten ohne Widerstand die Macht an sich reißen lassen. Das deprimiert immer, haben wir bei uns gesehen. Die österreichischen Genossen spüren die Kraft der Arbeiterklasse, sie werden aus ihren Fehlern lernen, sie werden in späteren Kämpfen..."
„Spätre Kämpfe?! Se kämpf'n noch! Watt heißt spätre Kämpfe!"
„Wir verstehn dich doch alle, Ede. Aber nach allem, was wir schon jetzt wissen, müssen wir auch darüber reden, oder wir reden überhaupt nicht."
Ede vergräbt wieder den Kopf in den Händen.
„In einzelnen Stadtteilen sind die Läden offen. Der elektrische Strom ist wieder da - die Eisenbahn fährt - die Eisenbahn! Weißt du, was das heißt: die Dollfuß-Regierung kann mit ihren Faschistengarden - mit dem Heer operieren. Mit Kanonen beschießen sie die Wohnblocks und die Arbeiterheime!"
Teichert bleibt mit einem Ruck stehen.
„Man kann den Arbeitern nicht immer nur sagen: die Gewehre sind für den äußersten Notfall da - wenn die Faschisten die Demokratie antasten! Die ganzen Jahre haben sie eine Errungenschaft nach der anderen abgebaut! Jetzt haben die Arbeiter spontan zu den Waffen gegriffen. Weil sie sich klar waren, dass die Entscheidung kommen musste."
Edes Kopf fährt hoch.
„Na also! Na also!"
„Aber Ernst hat es doch schon vorhin gesagt! Nie darf man dabei auf halbem Wege stehen bleiben. Darüber hätte vorher Klarheit herrschen müssen!"
Ede antwortet nicht.
„Wie es ausgeht, Ede. Eins bleibt: sie geben ein heldenhaftes Beispiel. Auch den deutschen Proleten. - Du hast recht, bei uns ist es nicht mal so weit gekommen. Wir hatten die Mehrheit der Arbeiterschaft nicht hinter uns. Wir haben..."
„Ick wer dir sag'n, wat wir ham! Wir ham unsre Sozialdemokrat'n oft vor'n Kopf jestoßen!"
„Klar, wir haben auch Fehler gemacht -", wirft Schwiebus ein. „Auch wir lernen aus unsern Fehlern, Ede. Doch daran ändert sich nichts: wir wollten verhindern, dass Hitler kam! Wir konnten es nicht, allein nicht. Jetzt entsteht erst die Einheitsfront. Wir werden schwere Einzelkämpfe haben. Bei uns..."
„Schluss jetzt. Ihr fangt wieder von vorn an - ist schon nach elf!" unterbricht der Konfektionär. Wir verlassen einzeln das Haus. Unsere Straße ist menschenleer. Die Maschinen im Umformerwerk brummen.
Heute beim Friseur. - Der Nazi auf dem Stuhl neben mir: „Bruderkampf! Deutsche gegen Deutsche! Adolf Hitlers Volksgemeinschaft hat uns das alles erspart. Das vergossene Blut hat Dollfuß verschuldet. Alles nur, weil er keine freie Meinungsäußerung zulässt!"
Ich dachte immer nur: als ob das bei uns anders ist! Blut -sind die Tausende, die sie ermordet haben, kein Blut? Ist Richard Hüttig kein Blut?! Der Ahe-Prozess - Todesurteile beantragt. Vom Maikowski-Prozeß lenkte der Reichstagsbrandprozeß die Öffentlichkeit ab. Durch den österreichischen Aufstand ist es jetzt mit dem Ahe-Prozess wieder so.
Die Abendzeitung liegt vor mir auf dem Tisch. Ich starre auf das Blatt. Mir ist, als ob ich in einem Karussell sitze, das sich rasend dreht.
„Urteil im Ahe-Prozess: Kommunistenführer Hüttig zum Tode verurteilt!" Richard Hüttig wegen schweren Landfriedensbruchs in Tateinheit mit versuchtem Mord zum Tode und zum dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Vierzehn weitere Angeklagte zu 94 Jahren Zuchthaus und 18 Jahren Gefängnis!
„... Der Prozess des Sondergerichts hatte auch das gleiche Milieu wie der Maikowski-Prozeß zum Gegenstande. Er hat aber im Gegensatz zu diesem nur sechs Tage in Anspruch genommen. Etwa 100 Zeugen konnten in dieser Zeit vernommen werden, da alles Überflüssige aus der Verhandlung ferngehalten wurde.
Staatsanwalt Dombrowski sagte unter anderem: ,Das Gericht hatte keine Bedenken, auf Grund der Erfahrung bei ähnlichen Verhandlungen und auf Grund der Tatsache, dass bei derartigen Überfällen immer wieder ein planmäßiges Vorgehen sich zeigte, Feststellungen zu treffen, die sich zwingend ergeben, ohne dass sich das Gericht allzu ängstlich an das Ergebnis der Beweisaufnahme zu halten brauchte. Dass von der Ahe durch Hüttig erschossen wurde, hat das Gericht nicht als erwiesen angesehen. Nachdem von der Ahe niedergeschlagen war, richtete er sich noch einmal auf und hat stehend auf eine nicht geklärte Weise den Todesschuss erhalten. Der Anführer verdient aber die härteste Strafe, die das Gesetz kennt. Das Gericht ist überzeugt, dass der Gesetzgeber für eine Tat wie die des Hüttig die Todesstrafe gewollt hat. Wenn andere Angeklagte Strafen von ein bis fünfzehn Jahren Zuchthaus erhalten, so hat das Sondergericht für sich in Anspruch genommen, bei diesen Angeklagten Milde walten zu lassen.'"
In der Urteilsbegründung führte dann der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Rehm, aus:
„Die Feststellungen des Gerichts wurden dadurch erschwert, dass das Gericht den belastenden Aussagen der Mitangeklagten gegen Hüttig nicht unbedingt folgen konnte. Bei den Zeugenaussagen aber war zu berücksichtigen, dass seit Begehung der Tat fast ein Jahr verflossen ist und alle Zeugen sich damals in großer Erregung befanden. Schließlich haben sich die Vorfälle in der Nacht bei schlechter Beleuchtung abgespielt. Daher gingen die Zeugenaussagen in vielen Punkten erheblich auseinander. Das Gericht ist jedoch nicht zu der Überzeugung gelangt, dass Hüttig den tödlichen Schuss auf Ahe abgegeben hat. Wer den Todesschuss abgefeuert hat, hat sich nicht einwandfrei feststellen lassen. Festgestellt sei aber, dass Hüttig schweren Landfriedensbruch begangen und gegen die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat gehandelt hat, und zwar als Rädelsführer. Daneben hat er sich des versuchten Mordes schuldig gemacht."
Kein Wort fiel über das Gutachten der Schießsachverständigen. Der Staatsanwalt erklärte einfach: „Ahe hat auf eine nicht geklärte Weise den Todesschuss erhalten."
Einer soll aber um jeden Preis sterben: Richard Hüttig.
Er ist nicht irgend jemand für sie. Er ist der verhasste Führer der Charlottenburger Häuserschutzstaffeln. Er ist für uns -seine Genossen - der Teuerste - das wissen sie. Darum wollen sie ein Exempel statuieren.
Richard Hüttig, unser Richard, zum Tode verurteilt!
„— Die Angeklagten nahmen das Urteil ruhig auf -"
Und jetzt? Wir können nicht auf die Straßen gehen, jedem ins Gesicht schreien, dass Richard unschuldig ist. Dass man einen braunen Justizmord verhindern muss. Gibt es denn wirklich kein Mittel mehr, Richard zu retten?!
17. Februar 1934.
Einen Tag später. Selbst der „Völkische Beobachter" bestätigt in seinem Bericht über den Ahe-Prozess, dass Richard Hüttig Ahe nicht erschossen hat: „Es konnte nicht einwandfrei festgestellt werden, dass Hüttig, beziehungsweise wer überhaupt den Schuss abgegeben hat. Hüttig hat jedoch die Kugel gegossen, die das Leben Ahes vernichtete, unbeschadet des Umstandes, aus welchem Lauf sie kam."
Der „Konfektionär", der Genosse, der bei Brenninckmeyer Verkäufer ist, steht schon an der vereinbarten Ecke.
„Du bist allein?"
„Ich habe die beiden ins Cafe Bumke geschickt. Alle drei konnten wir hier nicht warten."
Wir gehen langsam weiter.
In der Straße hier ist wie immer starker Verkehr. In langen Reihen fahren Autos vorbei, die Fußgänger schieben sich dicht über die Bürgersteige.
Der Konfektionär sieht aus wie ein junger Mann „aus gutem Hause". Das glattrasierte Gesicht, die dunklen, von Pomade glänzenden Haare. Den Kragen des schweren Wintermantels hat er hochgeschlagen, aber er ist ohne Hut. Der fällt nicht auf, so gehen die „besseren" jungen Leute alle hier. Aber ich?
„Zu Bumke? Teurer Laden. Können wir denn da reden?"
„Natürlich. Da ist immer Betrieb, weil sie Musik haben. -Für unsern Kaffee langt's bei mir auch noch."
„Na gut."
- Was der Max und der Erwin heute überhaupt von mir wollen? Sie sind beide Kollegen des Konfektionärs. Sie haben ihm nur gesagt, dass sie mich sprechen wollen. Sie könnten die Angelegenheit am besten mit mir regeln. Seit einigen Monaten beliefert sie der Konfektionär mit Zeitungen. Gedruckte Sachen wollen sie immer haben. Damit könnten sie besser „handeln". Sind gut, die Jungens. Sie haben einen Leserkreis, in dem jeder einige Groschen zahlen muss. Zum Schluss wird die Broschüre noch verkauft. Zwei Mark und mehr erzielen sie so für ein Exemplar. Sie rechnen über den Konfektionär ab, der strahlt jedes Mal, wenn er mir das Geld bringt. Wir haben den beiden zwischendurch auch schon theoretische Bücher gegeben zur eigenen Schulung. Der Max ist politisch schon weiter als Erwin. Bei Max waren wir ja auch schon einige Mal. Er hat sein möbliertes Zimmer für Besprechungen zur Verfügung gestellt.
Das Cafe ist dicht besetzt. Wir gehen langsam durch den langen Raum. Die Menschen schwatzen laut. An einigen Tischen sitzen Pärchen eng zusammen. Geschirr klappert. Kellnerinnen laufen hin und her. Sie tragen kleine rosa Hauben, Zierschürzen von derselben Farbe. Auf einem Podium musiziert die Kapelle. Wo stecken die beiden denn? - Dahinten - an dem runden Marmortisch in der Ecke. Haben sie gut gewählt!
'n Abend, Karl. - Ist gut der Platz, was?"
Die beiden freuen sich. (Sie kennen mich nur als „Karl".)
„Doch, doch. Ihr seid tüchtig wie immer."
Der Konfektionär bestellt zwei Tassen Kaffee. - Wer sitzt am Nebentisch? Ein älterer Herr. Er redet auf seine vollbusige Begleiterin ein. Die sind harmlos. Aber da drüben -sitzt ein SA-Sturmführer. Der hat auch mit seiner Schönen zu tun - und wenn - in dem Lärm versteht er dort drüben nichts.
„Erst mal dies. Sechs Mark. - Für die letzten Sachen."
„Dankend empfangen."
„Wann können wir wieder...?" fragt Erwin.
„Nächste Woche. Wie bisher." Ich mache eine Kopfbewegung zu dem Konfektionär hin.
„Gut." Schweigen. Max nimmt einen Schluck aus seinem Bierglas. Erwin dreht einen Bleistift in den Händen. Muss wirklich etwas Besonderes sein, die beiden brauchen eine Pause als Anlauf. - Donauwalzer, die Kapelle spielt nicht schlecht.
Max setzt das Bierglas ab, bleibt aber stumm. Ich rühre in meiner Tasse. Er sei Jude, hat mir Max neulich erzählt. - Bei dem würde der beste Nazi-„Rassenforscher" daneben tippen. Das glatte, rötlichblonde Haar - groß und schlank ist er. Hat ein kluges, regelmäßiges Gesicht. Tapferer Bursche. Dem geht es doch als Juden schlimmer als uns, wenn sie ihn mal schnappen.
„Also Karl - wir haben da noch etwas zu besprechen", sagt jetzt Max.
„Ich höre, schüttet euer Herz nur aus."
Max macht wieder eine Pause. Dann sagt er leise: „Wir wollen in die ,Familie' aufgenommen werden."
Erwin nickt. „Deswegen wollten wir mit dir sprechen."
Ich lasse vor Überraschung den Kaffeelöffel fallen, sehe beide groß an. Sie wollen in die Partei? - Alles mögliche habe ich erwartet, aber dass sie damit kommen - eine große Freude ist plötzlich in mir. Der Konfektionär ist auch verdutzt, er sieht von einem zum andern. Ich schweige noch immer. Sie wollen... der Max ja, aber Erwin? Ich mustere Erwin, als sei er mir völlig unbekannt gewesen. Der schmale Scheitel, die feinen Hände, ein richtiges Kindergesicht hat er noch, ist auch noch nicht zwanzig. Erwin müsste eigentlich in den Jugendverband. Aber er wohnt in unserem Bezirk. Die Jugend ist bei uns schwach, wird erst wieder aufgebaut. Max ist älter, klüger. Aber wissen sie überhaupt, was das heißt: jetzt in die Partei! - Man brauchte sie nicht gleich einzuspannen - sie haben sich doch schon bewährt. Wir haben Verluste - brauchen Nachwuchs. -
Die beiden sehen mich immer noch an.
Der erfordere mehr als ab und zu etwas zu verkaufen, sie hätten noch nicht genügend „Arbeits"-Erfahrung, fange ich an.
Wir freuten uns über jeden, der neu zu uns käme, gerade jetzt. Aber in der ersten Zeit könnten sie nicht gleich vollständig in die Arbeit einbezogen werden. Das sei für sie und für uns besser.
Ob sie sich aber darüber klar wären, wie schwer sich die „Familie" gerade jetzt durchbringen müsse. Ich wolle nicht unken, ob sie denn auch überlegt hätten, wie schlecht es ihnen eventuell dabei ergehen könnte!
Jawohl, das wüssten sie genau, meint Max. Sie hätten sich das alles lange überlegt. Aber der „Bilderverkauf" genüge ihnen nicht mehr, so könne es nicht weitergehen. Heute müsse jeder seine ganze Kraft einsetzen, das sei ihre Meinung.
Ich sage ihnen dann, dass ich die Sache für Erwin sofort regeln werde, weil er in unserer Gegend wohne; er bekäme dann durch den Konfektionär Bescheid. Bei Max werde es länger dauern. Er wohne in einem anderen Bezirk, ich müsste mich erst mit den dortigen „Kollegen" in Verbindung setzen. Ich mache deshalb mit Max einen Treff aus, um ihn mit den Genossen seines Wohnbezirks zusammenzubringen. Sie sind beide mit dieser Lösung einverstanden, drücken mir stumm die Hand.
Wir zahlen. Max geht mit Erwin zuerst. Der SA-Sturm-führer sitzt immer noch an dem Tisch schräg gegenüber. Er tätschelt seiner Begleiterin die Hand.
Max' Aufnahme machte mir dann Schwierigkeiten. Der zuständige Genosse in seinem Bezirk verlangte, dass ich für ihn drei Bürgen bringe. Trotzdem er mich kannte und ich ihm erklärte, dass Max schon monatelang mit uns gearbeitet habe, blieb er hartnäckig. Das sei jetzt doppelt notwendig in der Illegalität, beharrte er. Ich erfüllte dann seine Forderung.
Acht Tage später traf ich Max wieder. Da erzählte er mir freudestrahlend, dass er schon in die Arbeit einbezogen worden sei. Die Zeitungen seines Bezirkes würden nach Fertigstellung bei ihm untergebracht und dann verteilt. Die Genossen hätten also zu ihm volles Vertrauen.
Ich habe ihm nichts von meinen Bedenken gesagt. Er hätte sie sicher falsch aufgefasst und geglaubt, dass ich ihm misstraue. Aber ich werde mit dem fraglichen Genossen darüber sprechen. Erst verlangte er drei Bürgen, und wenige Tage später lagern ihre Zeitungen bei Max. So kann man nicht arbeiten. Max ist doch noch zu unerfahren in der illegalen Arbeit. Er muss aber dadurch sofort mehrere Genossen kennen lernen. Die können sich und ihre zentrale Zeitungsarbeit dabei gefährden. Ich weiß, dass Max in seinem möblierten Zimmer sicher wohnt. Er ist für die Gestapo ein „unbeschriebenes Blatt". Ich weiß auch, wie sehr unsere Arbeit durch den Mangel an „sauberen" Wohnungen leidet. Dies alles wird die dortigen Genossen zu ihrer Maßnahme bewogen haben. Doch wegen des Wohnungsmangels allein dürfen sie nicht leichtsinnig werden.
Mit zwei sozialdemokratischen Genossen von Ewalds Gruppe hat unsere Stadtteilleitung etwas Ähnliches gemacht. Auch diese Genossen waren sofort bereit, schwierige Arbeiten zu übernehmen, und bekamen sie. Über den Mut der sozialdemokratischen Genossen habe ich mich gefreut, habe aber auch gegen diese Arbeitsverteilung protestiert. Wir sind für ihre Sicherheit verantwortlich, um so mehr, als wir in der illegalen Arbeit mehr Erfahrungen haben als gerade diese beiden Genossen. Auch sie muss man erst schulen und dann langsam mit interner Arbeit vertraut machen. -
Trotz aller Fehler, ich habe wieder ein sicheres Gefühl. Man spürt, wie die Partei sich wieder aufbaut.
Heute sah ich in unseren Straßen ein Plakat:
„Blindgängersuchen der deutschen Schuljugend!"
„... Die deutsche Schuljugend muss in den Luftschutzkampf einbezogen werden... Folgende Aufgabe... angenommener feindlicher Luftangriff auf Charlottenburg... feindliche Geschwader überflogen die Häuserblocks der... Straßen, wandten sich dann zu den Straßenzügen ... Das Ziel, das Charlottenburger Elektrizitätswerk, wurde verfehlt, da
rechtzeitig eingenebelt... zahlreiche Bomben abgeworfen ... Blindgänger liegen in den Straßen... diese angenommenen Stellen sind vom Luftschutzbund markiert...
Deutsche Schuljugend heraus!
Blindgängersuche... Preise winken für die besten Blindgängersucher ... Meldungen bei..."
- Kinder als Kriegsteilnehmer im Ernstfall! - Wie oft habe ich in der Zeitung gelesen: „...fanden eine aus dem Weltkrieg stammende Granate... explodierte... drei wurden zerrissen ..." Die Schulkinder sind der braunen Erziehung ausgeliefert Alle Genossen berichten dies von ihren Kindern. Die faschistischen Lehrer drängen die Kinder täglich, in das Jungvolk - in die Hitler-Jugend einzutreten. Sie behandeln „Zivilisten" zweitrangig. Zu dem Nazischulunterricht kommen die ständigen „Ausflüge". Da „lernen" die Kinder durch Stacheldraht kriechen, „Munitionskästen" schleppen und ähnliches. Mit zerrissenen, verschmutzten Kleidern kommen sie nach Hause. Auf dem Schulhof „lernen" sie so weiter. Brennende Attrappenhäuser werden dort mit Chemikalien gelöscht. - Die Kinderfunktionäre der Naziorganisationen können jederzeit vom Schulunterricht fernbleiben, wenn sie einen „Ausmarsch" haben.
Die Kinder einzelner Genossen wünschen sich schon unter dieser Beeinflussung zum Geburtstag, zu Weihnachten: Uniformstücke. Wenn sie noch klein sind, können die Genossen nicht einmal in unserem Sinn mit ihnen sprechen. Sie müssen befürchten, dass die Kinder darüber zu andern sprechen und sie so gefährden. Ich kenne Genossen, die so gefährdet sind, dass sie nie illegales Material bei sich tragen. Aber unsere früheren Pionierbücher halten sie immer noch versteckt. Abends lesen sie mit ihren größeren Kindern darin. „Ich muss doch meinem Jungen wenigstens das geben können, er liest doch sonst nichts als den Nazischulkram", sagen sie.
Die Braunen wollen ein ganzes Volk vom Kind bis zum Greis für ihren Eroberungskrieg vorbereiten. - Die Siemenswerke arbeiten mit Hochdruck für die Aufrüstung, berichtet Teichert. Manche Abteilungen in drei Schichten. Metallspezialisten sind neu eingestellt worden, Werkzeugmacher, Dreher, Mechaniker usw. Viele werden nach außerhalb geschickt. Auf „Montage".- Neue Flugplätze! Alle werden vereidigt -schwere Strafen werden ihnen angedroht, wenn sie über ihre Arbeit sprechen. Teile der deutschen Industrie in Scheinkonjunktur - Kriegsproduktion. - Unsere Betriebszellenarbeit war früher schon darauf eingestellt. Deutschland als Heereslieferant für den Fernen Osten, dachten wir immer. Heute rüstet das Dritte Reich gegen die Sowjetunion. -
Viele unserer Genossen sind so wieder in die Betriebe gekommen. In die faschistischen Kriegsbetriebe! Wir werden sie brauchen!
Wieder hat uns ein schwerer Schlag getroffen. Franz Zander, unser Franz, ist verhaftet worden. Vorgestern abend, in unserer Straße. Franz - in unserer Straße! - Wir haben inzwischen erfahren, wie alles kam. Wir haben uns überall vorsichtig erkundigt. Wir mussten Klarheit haben, weil wir nicht wussten, ob die Dreiunddreißiger nur seinetwegen kamen oder ob nicht noch andere Genossen verhaftet werden sollten. Wir wissen jetzt: Franz war an diesem Nachmittag bei Genossen in unserem Nachbarbezirk. In Moabit. Er sprach mit ihnen über ein neues Verfahren für die Zeitungsherstellung, das die Genossen dort seit einiger Zeit anwenden. Es ist viel billiger und ermöglicht außerdem größere Auflagen. Wir wissen jetzt: Franz kam in unsere Straße, um einige Minuten bei seiner Mutter zu sein. Er hatte erfahren, dass sie schon monatelang gefährlich krank ist. Käthe, seine Schwester, hat es ihm nicht erzählt. Er erfuhr es von Hilde, seinem Mädel. - Er war im Nachbarbezirk, eine knappe halbe Stunde von unserer Straße entfernt. Da muss ihm der Gedanke gekommen sein, zu seiner Mutter zu gehen. Er wird lange mit sich gekämpft haben. Einmal wird es gehen, ich werde nur einige Minuten dableiben, es wird mich schon niemand sehen, jetzt, wo es dunkel wird. Wir wissen jetzt alles. Doch es ist für uns immer noch ein Rätsel, wie Franz, der uns alle zur äußersten Vorsicht in der illegalen Arbeit erzogen hat, in unsere Straße kommen konnte. Er wusste doch genau, dass ihn die SA seit einem Jahr hier sucht.
Im Restaurant „Afrikander", das dem Haus von Franz gegenüber liegt, schrie der Radiolautsprecher Marschmusik in das Gastzimmer. Hinter der Theke saß die dicke Wirtin und strickte. Rechts von ihr spielten an einem runden Tisch drei Männer Karten. In der anderen Ecke, ganz links, saß ein einzelner Gast. Er starrte in sein halbleeres Bierglas. Den kahlen buckligen Schädel hatte er in die Hände gestützt. Über den Daumen seiner Hände lagen die merkwürdig zusammengerollten Ohrmuscheln, Es war der Stammkunde Kranz. Die Wirtin rechnete im stillen seine Zeche aus. Drei Schnäpse, vier Mollen, zwei Zigarren.
Kranz richtete sich plötzlich auf, nahm die kalte Zigarre aus dem Mund und sah sich suchend um. Die Wirtin warf den Strickstrumpf auf den Schanktisch, ging auf ihn zu. Sie riss ein Streichholz an.
„Hier, bitte", sagte sie.
Kranz sah sie mit glasigen Augen an. Er nahm ihr das Streichholz aus der Hand, drehte den Kopf nach der Schaufensterscheibe und hielt die Flamme an die Zigarre. Plötzlich ließ er das Streichholz fallen. Auch die Zigarre fiel ihm aus dem Mund. Er saß mit offenem Mund da und starrte hinaus. Die Wirtin sah ihn verwundert an. Auch die drei Männer waren auf Kranz aufmerksam geworden. Der sprang plötzlich auf, lief zur Tür.
„Zahle nachher... komme wieder ...", sagte er stotternd. Die Wirtin ging ihm nach, wollte noch etwas sagen, aber Kranz war schon draußen, die Tür stand offen. Einer der drei Männer war inzwischen aufgestanden. Die beiden sahen, wie Kranz in Richtung Rosinenstraße davonrannte. In unserer Straße war nichts Ungewöhnliches zu sehen, und die beiden konnten sich das sonderbare Benehmen des Kranz nicht erklären. (Franz war in diesem Augenblick sicher schon in seinem Haus verschwunden. Der andere Gast an der Tür kannte ihn und sagte uns, er hätte ihn nicht gesehen.)
Die Wirtin sagte dann noch: „Der wird jeden Tag verrückter. Na, die Zeche wird er schon bezahlen."
Bald darauf liefen SA-Leute durch unsere Straße. Der braune Uniformhaufen zog sich auseinander, bildete eine Kette, die sich von den letzten beiden Eckhäusern am Knick der Straße bis weit in die enge Gasse zwischen dem Umformerwerk und den Notstandsbaracken zog. Dann ging ein Teil der SA in Franz' Haus hinein, besetzte alle Treppenaufgänge, die Zugänge zu den Höfen.
In Franz' Haus ist das alles nicht bemerkt worden. Aber die stille Straße ist in den wenigen Minuten wie aufgewühlt. In den langen Fensterreihen hängen die Köpfe dicht nebeneinander. Vor den Haustüren stehen die Menschen in Gruppen und sehen mit Hasserfüllten Blicken zu dem braunen Kordon hinüber. Sie stehen alle ein gutes Stück entfernt, doch es ist, als wächst ihr stummer Protest im Rücken der Braunen wie eine Mauer. Die SA-Leute fühlen es. Sie drehen die Köpfe, sehen die Häuser- und Fensterreihen entlang. Die Geschäftsleute sehen verschüchtert durch die Fensterscheiben, nur der Gemüsehändler steht breit in seiner Ladentür. Vor jedem stehen bange Fragen.
Wem gilt das... sie kommen so überraschend... wer ist in Gefahr? ... wer? ... wer?!...
Franz klingelte an seiner Wohnungstür. Es machte niemand auf. Käthe war noch im Büro, und die Mutter lag im Bett, konnte nicht aufstehen. Die Nachbarin, Frau Schulze, hörte ihn klingeln. Sie war überrascht, als sie Franz sah. Ja, sie hätte einen Wohnungsschlüssel, besorge doch tagsüber die Mutter, erklärte sie ihm dann. Die wolle doch nicht ins Krankenhaus, und Käthe sei den ganzen Tag fort. Käthe hätte ihm das alles längst sagen müssen, sagte Franz zu ihr. Er hätte es jetzt erst von seiner Freundin erfahren, sie hätte auch nur Andeutungen gemacht, er hätte sie aber so lange gedrängt, bis sie alles genau erzählt habe. Er wolle seine Mutter nur kurz sehen und sprechen, in einigen Minuten ginge er wieder, sagte Franz noch.
Er kam auch bald aus der Wohnung. Er sagte der Nachbarin noch, dass er seiner Mutter ebenfalls zugeredet hätte, in ein Krankenhaus zu gehen. Wäre doch das Beste für sie. Es ginge ihr ja schlimmer, als er gedacht, sie sei so furchtbar abgemagert und geschwächt. Dann sprang Franz in großen Sätzen die Treppe hinunter. Einen Augenblick später hörte die Nachbarin unten auf der Treppe Gepolter. Eine Stimme schrie, heiser vor Wut: „Jetzt haben wir dich endlich! Jetzt haben wir dich, du Bursche!"
Als die Braunen die Straße erreichen, kommt Bewegung in die Menschen vor den Haustüren, fahren die Köpfe an den Fenstern erschreckt hoch. Ein Würgen steigt allen in die Kehle. Es ist Franz Zander - ihr Franz! Alle in unserer Straße kennen ihn genau.
Die Straße bleibt stumm. Die Männer stehen vor den Haustüren. Ihre Hosentaschen stehen ab über den geballten Fäusten. Alle Fenster sind voller Köpfe. Schweigend nimmt unsere Straße Abschied von Franz Zander. Es ist, als ob sich von allen Seiten Arme ausstrecken, ihm noch einmal die Hand zu drücken.
Franz fühlt das. Sein Gesicht ist ruhig. Er lächelt sogar. Et nickt über die Straße, zu den Fenstern hinauf.
Die SA schiebt ihn mit schnellen Schritten durch die Straße. Zur Maikowski-Kaserne, nach der Rosinenstraße. Kinder laufen neben dem Zug her. Überall drehen die Menschen die Köpfe. Es war das letzte Mal, dass Franz unsere Straße - dass unsere Straße Franz sah.
An diesem Abend dachte ich sofort daran, dass Teichert gewarnt werden musste. Gerade er, denn er wohnt im selben Haus wie Franz. Wir wussten überhaupt nicht, was die Dreiunddreißiger von uns vielleicht noch fassen wollten.
Die Straßenbahnen aus Siemensstadt kommen in kurzen Abständen. Sie sind gestopft voll. Um diese Zeit, wenn die Siemenswerke Betriebsschluss haben, reichen auch die vielen Einsatzwagen knapp aus. Ich stehe und taste die Aussteigenden jedes Mal mit den Augen ab.
Wo bleibt Teichert? Ist er heute vielleicht früher ausgestiegen, irgend etwas besorgen gegangen? Ist es besser, am Eingang unserer Straße auf ihn zu warten? Ist zu auffällig; wenn er dann von der anderen Straßenseite kommt, läuft er doch unvorbereitet in seine Wohnung. Wagen auf Wagen leert sich, rollt weiter. Wieder nicht - wieder nicht. Die Minuten werden qualvoll lang, ich tappe auf und ab, stundenlang schon, scheint mir.
Eine neue Bahn kommt, mit ihr endlich - Teichert!
Er ist überrascht, rückt an seiner Frühstückstasche.
„Du hier?" sagt er aber nur.
Es klingt, als komme die Frage um das Warum gleich hinterher, doch dann geht er stumm neben mir her. Mir ist schwer ums Herz. Ich sehe ihn verstohlen an. Zwischen seinen Augenbrauen ist eine tiefe Falte. Sein Gesicht ist in den letzten Tagen nach blasser, die Backenknochen sind noch spitzer geworden. Er scheint um Jahre gealtert - seit der Verurteilung von Richard. Jetzt muss ich ihm dies noch sagen.
Da sagt Teichert: „Weshalb...? Was Gutes ist es doch sicher nicht?"
„Nein", sage ich leise.
Ich sehe ihn nicht an. Jeder Schritt geht mir wie ein harter Stoß bis in den Kopf.
„— Franz ist verhaftet." Teichert bleibt stehen.
„Franz...?" sagt er langgezogen, als hätte er den Namen nicht verstanden. - „Ist denn sein Bezirk hochgegangen-woher...?"
Er presst meinen Arm.
„Bei uns in der Straße - vor einer Stunde."
Teichert fährt sich mit der Hand über die Stirn.
„Bei uns - bei uns —", sagt er fassungslos.
Ich ziehe ihn weiter, wir dürfen nicht auffallen.
„Die Nachbarin hat ihm die Wohnung aufgeschlossen - er wollte seine Mutter besuchen, sagt sie."
Teichert antwortet nicht, starrt vor sich hin.
„Sie haben plötzlich das Haus umstellt - vielleicht -"
Ich stocke, aber Teichert hat mich schon verstanden. Er nickt apathisch.
„Deshalb fing ich dich hier ab!"
Wir gehen hin und her. Teichert bleibt stumm. Er presst die Lippen zusammen, atmet schwer.
„Wir haben der Nachbarin sagen lassen, sie soll Käthe abfangen - ist für uns zu gefährlich - die Mutter darf doch nichts erfahren - gerade jetzt..."
„Jan", sagt Teichert nur und drückt meine Hand.
Ich sehe wieder an ihm vorbei. Käthe - sie muss nun allein damit fertig werden - ich kann doch jetzt nicht -
Da sagt Teichert: „Ich gehe. Was soll auch werden. - Wenn ich auch - werde ich ja sehen."
Er drückt mir wieder die Hand. Ich sehe ihm nach, gehe dann entgegengesetzt um den Häuserblock.
Wir kommen von verschiedenen Seiten. Das rettet uns auch nicht - wenn es jetzt bei uns soweit ist.
Seit die Mutter krank war, hatte Käthe nicht viel schlafen können. Gewöhnlich schlief die alte Frau erst in den Morgenstunden ein. Damals, bevor Franz kam, hatte die Mutter schon fast eingewilligt, dass sie in ein Krankenhaus gebracht werde. Aber seit Franz hier gewesen war, weigerte sie sich wieder, die Wohnung zu verlassen. Mit dem Eigensinn von Kranken wiederholte sie immer wieder, dass sie hier auf seine weiteren Besuche warten wolle. Franz könne sie doch auch im Krankenhaus besuchen, machte Käthe der Mutter klar. Nein, sie wolle hier bleiben. Die Zeit seitdem war nicht nur eine körperliche Anstrengung, sondern auch eine seelische Qual für Käthe. Die Mutter sprach jetzt noch öfter von Franz. Wie er ausgesehen habe, dass er versprochen hätte, bald wiederzukommen. Käthe durfte sich mit keiner Miene anmerken lassen, wie es um Franz stand.
Wo mochte Franz jetzt sein - wie ging es ihm? Käthe hatte sich nach ihm erkundigt. Auf ihrem Polizeirevier. Das erklärte sich nicht zuständig. Auch die Politische Polizei im Polizeipräsidium Alexanderplatz, die Geheime Staatspolizei in der Prinz-Albrecht-Straße, im Columbiahaus, wiesen sie brüsk ab. Franz Zander? Der Name sei ihnen nicht bekannt. Nachforschungen könnten sie nicht anstellen, da hätten sie viel zu tun.
Wir konnten Käthe auch nicht helfen. Wir machten uns verdächtig, wenn wir nach Franz forschten. Auf unseren Rat hin hatte sie Hilde erzählt, Franz sei von der Polizei verhaftet worden, nicht von der SA. Sonst hätte sich Hilde noch mehr gequält, denn sie hatte ja Franz erzählt, wie es um seine Mutter stand. Hilde war seit Franz' Verhaftung völlig verzweifelt. Sie redete ständig davon, dass sie sich um Franz kümmern müsse. Jedes Mal sagte ihr Käthe, sie wüsste doch selbst nicht, wo er sei. Hilde könnte nur mit hineingezogen werden, wenn sie sich nach Franz erkundigte.
Es war klar: wenn Hilde erfahren hätte, dass die Dreiunddreißiger Franz verhaftet hatten, hätte sie versucht, durch ihren Bruder etwas über ihn zu erfahren. So hatten wir wenigstens verhindert, dass sie sich ihrem Bruder, dem SA-Truppführer, gegenüber verriet.
Die Dreiunddreißiger! Ob Franz noch in der Majakowski-Kaserne war? Der SA-Wachtposten hatte Käthe nicht in die Kaserne hineingelassen. Sie könne sich nach dem Dienst mal bei ihm persönlich melden, hatte er ihr höhnisch erklärt. Wo war Franz? Wo nur? Dieses Wo nur? ist Käthes erster Gedanke beim Aufwachen. Sie steht an diesem Morgen früh auf. Sie zieht sich hastig an. Sie holt für die Mutter Handtuch und Waschschüssel aus der Küche. Auf dem Rückweg fällt ihr Blick auf den Filzüberwurf am Briefschlitz der Wohnungstür. Etwas Weißes hängt darunter. Es ist ein Brief. Jetzt, am frühen Morgen? Der war sicher von der Abendbestellung gestern, den
hatte sie im Dunkeln übersehen. Auf dem Kuvert ist eine aufgedruckte Briefmarke. Aufgedruckt - ein amtliches Schreiben? - An Frau Elise Zander - Käthe weiß nicht warum, aber der Brief wird plötzlich bleischwer in ihrer Hand. Ein amtliches Schreiben?! Sie dreht den Brief unschlüssig hin und her, dann trennt sie den gezähnten Rand auf.
„Gestorben im Staatskrankenhaus... Todesursache Herzschwäche ... zur Beerdigung freigegeben am ..."
Käthe liest die Sätze immer wieder. Sie spricht sie vor sich hin, ohne dass sie es weiß. Gestorben - wer denn? - Gestorben ... Der Brief ist doch gar nicht für sie. Sie dreht ihn mechanisch herum. An Frau Elise Zander...
Elise Zander... Elise... für ihre Mutter. Sie starrt wieder auf das Papier... Gestorben... darüber steht - steht ein Name: Franz Zander - Franz - Franz -
Käthe taumelt in die Küche, sucht an dem Tisch dort Halt.
„Kä... the... Kä... the..."
Schwach und zittrig ruft die Mutter aus dem Zimmer. Käthe richtet sich auf. Sie steht einen Augenblick mit hängenden Armen. Das zerknitterte Schreiben hält sie immer noch in der Hand. Sie hebt den Arm, er ist schwer und steif, als gehöre er nicht zu ihr. Sie sieht auf den Brief.
„Kä... the... Kä... the - wo bist... du?"
Käthe reißt sich zusammen. Die Mutter! Sie durfte bisher nichts erfahren - dies erst recht nicht. Käthe legt den Brief in die Schublade.
Die Mutter stützt sich auf den Ellenbogen. Sie hat wohl vergeblich versucht, aufzustehen. In ihrem gelblichen Gesicht ist die Haut wie straff gespannt über den Backenknochen. Sie sieht Käthe vorwurfsvoll an.
„Ich rufe... ich rufe... du kommst nicht", sagt sie.
Sie zeigt auf die Waschschüssel, das Handtuch. Käthe bringt ihr alles an das Bett.
„Musst du nicht bald... zur Arbeit?" fragt die Mutter. Ja, sie muss ins Büro - sie wird nicht gehen, ist ihr so gleichgültig jetzt.
„Wir haben heute - wir haben heute einen freien Tag", sagt Käthe. Sie wundert sich selbst, wie sie der Mutter das sagt.
Die Mutter legt den Waschlappen hin, sieht Käthe prüfend an.
„Wie sprichst du denn?... Ist dir nicht gut?... Bist so blass", sagt sie.
„Mir ist nichts - wir haben einen freien Tag heute", sagt Käthe wieder. Sie muss das Misstrauen der Mutter zerstören!
In den Vormittagsstunden geht die Nachricht, dass Franz tot ist, wie ein Lauffeuer durch unsere Straße. Die Straße trauert. Nichts Schwarzes ist zu sehen. Aber in allen Gesichtern steht der Tod des Kameraden, in den Gesprächen ist er, in den stummen Blicken. In diesen Stunden nimmt der tote Franz Abschied von seiner Straße. Er kommt in die Häuser. Er klopft nirgends an, keine Tür öffnet sich, doch überall tritt er ein.
Eine alte Frau weint. Hat ihr oft geholfen, der Junge. Etwas für sie getragen, Kohlen geholt.
Ein Genosse denkt:
Weißt du noch? ... Neukölln-Reichstreffen? ... Friedrichshain, Saalschlacht? - Weißt du noch?... Leb wohl, Franz, warst einer der Besten.
Ü berall nehmen sie Abschied von Franz, für immer.
Unsere Straße ist lang.
Der Häuser sind viele.
Ich gehe langsam die Berliner Straße hinunter. Dort drüben wohnt Hilde - ich muss Teichert heute abend fragen, ob er etwas von ihr gehört hat. Wir müssen uns jetzt alle viel mehr um sie kümmern, seit sie Franz verloren hat...
Mein Blick fällt auf die elektrische Uhr in einem Uhrenladen. Habe ich noch reichlich Zeit, um zwölf soll ich erst dort sein. Ich setze mich auf eine Bank. Rastlos zieht der Verkehr auf der breiten Straße vorbei. Herrlich warm scheint die Sonne schon. Und die Bäume! Vor einigen Tagen saßen noch gelbliche Knospen auf den Zweigen. Jetzt sind es schon kleine Blätter. Geht jetzt rasch, fast kann man zusehen. Auf einer Wiese möchte man liegen - Käfer summen hören... Franz! Er wird das alles nicht mehr sehen - nie mehr mit uns hinausfahren. Plötzlich ist alles, was geschah, wieder da. Einmal habe ich Käthe inzwischen getroffen, draußen im Grunewald. - Zu dem Arzt der Charlottenburger SA-Standarte ist sie gelaufen. Am Kaiserdamm wohnt der, in einer prächtigen Wohnung. „An Herzschlag kann auch ein kräftiger Mann sterben", hat er ihr höhnisch erklärt. Dann hat sie Franz sehen dürfen, nur sie. Im Leichenschauhaus. Sie hat nur durch eine Scheibe sehen dürfen, er lag einige Meter von ihr entfernt, in weiße Tücher gehüllt. Nur ein kleines Stück von seinem Gesicht war frei, das war noch dick mit Puder überzogen. Sie hat ihn nicht erkannt, hat nicht gewusst, ob er es überhaupt war. Weinend hat sie mir alles erzählt. Ich konnte kein Wort herausbringen, konnte nur ihr Haar streicheln. Was sollte ich ihr auch Tröstliches sagen. Franz kam nie wieder. - Wir werden uns jetzt nach allem überhaupt nicht mehr sehen können, sie wird doch sicher überwacht. Es war neulich schon schwierig. - Plötzlich ist das alles wieder da. - Der große Waldfriedhof. Die Hunderte, die den Bahnhof überschwemmten, dann um Franz' Grab standen. Viele hatten ihren letzten Groschen für das Fahrgeld, für ein paar Blumen geopfert. Ihre vor Hass und Trauer dunklen Gesichter stehen wieder vor mir. Frauen weinen, schluchzen - sonst ist es ganz still. Eine atemlose Stille, die die lauernden Gesichter der Gestapoagenten erzwingen. Da springt plötzlich der junge Genosse vom Jugendverband an das offene Grab, spricht zwei, drei Sätze. Die Arme des Gestapoagenten reißen ihn fort - trotzdem schreit es hundertstimmig: „Rache! Rot Front!" —
Ich öffne meine Augen. Es ist heller Tag. Du bist nicht mehr bei uns, Franz, mein bester Freund und Genosse.
Ich stehe auf. Es ist zwanzig Minuten vor zwölf, in zwanzig Minuten ... An der Straßenkreuzung Knie zeigt die Verkehrsampel rotes Licht. Ich warte.
Dort drüben ist der Zoologische Garten. Vor dem großen Gittertor stehen Menschen. Sie sehen alle zu den Elefanten hinüber. Ganz vorn nimmt Jumbo, der älteste Elefant, mit dem Rüssel Zuckerstücke in Empfang. Dann streut er sich Sand über seinen massigen Körper, bläst Wasserstrahlen in die Luft. Alle neben mir freuen sich darüber. Die Erwachsenen und die Kinder.
Ich hole meine Zeitung, die „Nachtausgabe", aus der Tasche, halte sie in der rechten Hand, den Zeitungskopf deutlich nach außen. Die Bahnhofsuhr drüben zeigt genau zwölf Uhr. Muss der Genosse jeden Augenblick kommen. Er kann noch nicht hier sein. Niemand trägt außer mir eine Zeitung. Ich kenne den Genossen noch nicht, aber er ist mir genau beschrieben worden. Auch er wird eine bestimmte Zeitung in der Hand halten, außerdem wird er mich mit genau verabredeten Worten ansprechen. Ich sehe, wie alle hier, zu den spielenden Elefanten hinüber, beobachte aber auch genau meine Umgebung.
Bald darauf kommt ein kleiner blasser Mann mit einer goldgeränderten Brille die Straße herunter. Er stellt sich ebenfalls an das Gitter. Das ist er bestimmt! Ich habe doch für solche Situationen schon ein Fingerspitzengefühl bekommen. Die Beschreibung passt auf ihn - die „Berliner Börsenzeitung" hat der Kleine auch in der Hand. Ich sehe auch, wie er die Menschen hier verstohlen mustert. Aber abwarten, kann alles noch Zufall sein, er muss mich ja ansprechen. Ich betrachte weiter die Elefanten, drehe aber meine Zeitung deutlicher nach außen. Einige Minuten vergehen. Als neben mir eine Frau fortgeht, steht bald danach der Kleine auf ihrem Platz. Also richtig getippt, jetzt aufpassen!
„Wie alt kann der Bursche sein?" fragt da auch schon der Kleine mit hoher Fistelstimme.
Die Frage ist wie zufällig hingeworfen. Niemand antwortet, alle sehen weiter hinüber.
„Kann man schwer sagen. Achtzig, vielleicht auch hundert Jahre alt", sage ich ruhig.
Trotzdem! Seine Frage kann auch noch Zufall sein. Seine Antwort - die Antwort jetzt!
Der Kleine lacht. Ein Goldzahn blitzt zwischen seinen Lippen auf.
„Wenn man das genau wissen will, müsste man sich so einen Koloss schon als Haustier halten. Wie ein indischer Nabob, was?" scherzt er.
Die Frau neben mir lacht amüsiert.
Seine Antwort war richtig - besonders „indischer Nabob". Geht also in Ordnung!
Einige Minuten später treffen wir uns ein Stück abseits. Der Kleine gibt mir seine Zeitung.
„Ist alles drin!" sagt er kurz.
Er spricht mit voller tiefer Stimme, ein ganz anderer Mensch geht jetzt neben mir her.
„Hast du für uns Nachrichten aus deinem Bezirk?"
„Nein. Unsere Genossen sind etwas deprimiert nach unserem letzten Todesopfer. Es muss sich alles erst wieder einrenken." Und nach einer Pause setzte ich leise hinzu: „Es war einer unserer Besten." Der Kleine nickt ernst, drückt mir die Hand.
„Also wieder in acht Tagen, um dieselbe Zeit", sagt er dann. „Nehmen wir eine andere Stelle. Ich bin jetzt für euch bestimmt worden."
Wir legen den neuen Treffpunkt fest, trennen uns dann sofort.
Abends bin ich bei Teichert. Seine Frau besuche heute Verwandte, hatte er mich vorher verständigt.
Wir lesen den Pressedienst der Berliner Bezirksleitung durch, den ich heute mittag von dem Kleinen erhalten habe. Ein ausführlicher Bericht über die Ankunft und den Empfang von Dimitroff, Popoff und Taneff in Moskau ist darin. Wir freuen uns.
Teichert sagt auf einmal: „Jetzt kommt Thälmann dran! Den kann nur so was retten wie bei Dimitroff. Ein ganz großer Protest. Bei uns und im Ausland."
Thälmann. Bei der Bülowplatz-Demonstration sahen wir ihn alle zum letzten Mal.
Teichert sagt wieder: „Die Genossen haben auf die Ermordung von John Scheer und den drei anderen gut geantwortet. Über zwei Eisenbahnbrücken in Schöneberg haben sie nachts Transparente gespannt. ,Rache für John Scheer.' - Dort ist immer starker Verkehr. Einige hundert Arbeiter, die morgens in die Fabriken gingen, haben die Transparente gesehen. Dann kam die Feuerwehr und holte sie runter."
Schweigen.
Immer noch kommt es mir sonderbar vor, wenn Teichert mit so einer Wohnung und so einer Frau so spricht wie eben.
Er greift in seine Westentasche, holt einen kleinen Zettel heraus, reicht ihn mir herüber.
Es ist ein Zeitungsausschnitt.
„Hingerichtet!" steht groß über der Spalte, darunter klein: „sind Ihre Augen auf meine billigen Angebote!"
Ich knülle den Zettel zusammen, werfe ihn wütend auf die Erde.
„Annoncen im Dritten Reich", sagt Teichert.
Dann steht Teichert plötzlich auf. Er holt eine Nummer unserer letzten „Roten Fahne". Ich erschrecke.
„Du hast noch ... in deiner Wohnung?!"
„Gestern erst bekommen, von Hilde zurück", beruhigt mich Teichert. „Hat seinen Zweck, dass ich dir die zeige!"
Ich sehe mir die Zeitung an. Auf einigen Seiten ist der Text durchgestrichen, auf anderen wieder unterstrichen. Neben einem Artikel über den sozialistischen Aufbau in der Sowjetunion steht am Rand groß: „Blödsinn!" Ein Artikel über die Korruptions- und Schleuderwirtschaft der Nazibonzen trägt den Vermerk: „Sehr richtig! Schon wie unter dem Marxistensystem!"
Ich sehe Teichert fragend an. Der lacht. Dass mir seine beiden schwarzen Zahnstummel vorn immer wieder auffallen.
„Das ist die Kritik der Naziparteimitglieder!"
„Hilde gibt...?"
„Einen Teil ihrer Zeitungen an Nazis weiter!"
Teicherts Gesicht wird ernst.
„Das ist an und für sich fruchtbar, wie du siehst. Aber wie Hilde das jetzt macht!"
„Wie denn, wie?"
„Seit Franz tot ist, ist sie kopflos. Sie rettet sich in die illegale Arbeit. Bestürmt mich jedes Mal, ich soll ihr mehr Zeitungen geben, soll sie stärker beschäftigen."
Teichert beugt sich zu mir herüber.
„Zu diesen Nazis hat sie früher schon Zeitungen gebracht. Aber unauffällig. Sie hat sie in deren Briefkästen gesteckt. Die Adressen dafür hat sie sich heimlich bei ihrem Bruder abgeschrieben. Von seinen Notizen. Jetzt hat sie aber scheinbar einigen Nazis die Zeitungen ganz offen gegeben. Diese letzte Nummer jedenfalls. Sie gibt das nicht zu, aber wie soll sie die Zeitungen, mit diesen Kritiken versehen, sonst zurückbekommen haben?"
„Wir können ihr vorläufig keine mehr geben. Das kann doch nicht gut ausgehen!"
Diese Hilde. Früher hat sie so etwas auch schon gemacht -aber niemand hat mir davon etwas erzählt. Franz wusste doch sicher Bescheid.
„Ich wollte deine Zustimmung haben", sagt Teichert. „Wir müssen Hilde überhaupt eine Zeitlang abhängen. Sie ist sehr kaputt."
Teichert überlegt einen Augenblick.
„Ich werde Käthe Bescheid sagen lassen. Die beiden Mädels können sich dann ab und zu treffen. - Sie kennen sich doch von der Handelsschule her - das ist eine gute Bekanntschaft."
Hilde hätte ihm gesagt, dass ihr Bruder Felix in den letzten Wochen mit einem verbitterten Gesicht herumläuft, erzählt mir Teichert dann. In der Familie spreche er überhaupt nicht mehr über Politik. Er hätte doch früher immer laute Propagandareden gehalten. Einmal habe er aber erzählt, dass ihm sein Sturmführer Arbeit besorgen wollte. Als Gefängniswärter. Er habe abgelehnt. Er sei Bauschlosser, habe er dem Sturmführer gesagt. Hilde sei der Meinung, dass auch ihr Bruder jetzt an der Nazibewegung zweifelt. Wenn sie über ihre hohen Gehaltsabzüge rede oder die Mutter über die Teuerung schimpfe, verteidige er die Regierung mit keinem Wort. Das habe alles bestimmt dazu beigetragen, dass Hilde unvorsichtig geworden sei. - Ich bin überrascht. Felix, dieser Truppführer!
Wir besprechen noch die technischen Einzelheiten für unsere nächste Zeitung, die ich übernehme, wie immer. Teichert verpflichtet sich, den Leitartikel zu besorgen.
Es ist schon spät, als ich das Haus verlasse. Unsere Straße liegt wie ausgestorben. Die spärlichen Gaslaternen werfen auf die vereinzelten buckligen ein- und zweistöckigen Häuser nur trübes Licht. Hundert Jahre und mehr stehen die sicher schon hier. Ihre bemoosten, verwitterten Ziegeldächer hängen weit herunter. Dumpf und rastlos summen die Maschinen im Umformerwerk.
Heute gab mir ein Funktionär von der Hilfsorganisation für unsere gefangenen Genossen, von der Roten Hilfe, einige dünne Bogen Papier, die mit Schreibmaschinenschrift beschrieben sind. Es ist der Bericht eines hohen Justizbeamten über den Ahe-Prozess, in dem Richard Hüttig zum Tode verurteilt wurde. Dieser Bericht wird auch an die ausländische Presse weitergegeben werden.
„Richard Hüttig brachte es in einer bewunderungswürdigen Weise fertig, dass die Wahrheit aufgedeckt wurde, obwohl er wusste, was ihn dafür erwartete. Er beantragte eine Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit, um richtig aussagen zu können. In dieser Geheimverhandlung schilderte er die Misshandlungen, denen er und seine Genossen ausgesetzt waren. Anfangs wurde nach folgendem Prinzip vernommen: Hüttig und je einer der Mitangeklagten saßen vor dem vernehmenden Polizeikommissar. Dieser fragte zuerst Hüttig: ,Hast du geschossen?' Hüttig: ,Nein.' Daraufhin wurde der Mitangeklagte, unter anderem auch der noch nicht achtzehnjährige Herbert Carius, von den Wachtleuten in Gegenwart des Kommissars und auch Hüttigs furchtbar geschlagen, besonders mit Nilpferdpeitschen. Dann fragte der Kommissar wieder: ,Hat Hüttig geschossen?' Antwort: Ja.' Dann wurde der am gleichen Tisch sitzende Hüttig wieder gefragt, ob er geschossen habe: ,Nein.' Dann sagte der Kommissar zu dem Mitangeklagten: ,Lügt Hüttig?' - Ja.' - Kommissar: ,Nimm die Nilpferdpeitsche und schlage ihn dafür, dass er uns ins Gesicht lügt.'
Hüttig betonte, dass in diesem Augenblick sofort und immer wieder die auf diese Art vernommenen Mitangeklagten ihre Belastungen zurücknahmen und sich weigerten, ihn zu schlagen. Erst als Voss und Drescher ermordet und die Prügeleien wochenlang wiederholt worden waren, gelang es der Polizei, die gewünschten belastenden Aussagen zu erhalten. Hüttig erzählte vor Gericht, wie die SA-Leute im Columbiahaus prügelten. Der Gefangene lag am Boden, meist unfähig, sich zu rühren. Von jeder Seite schlug je ein SA-Mann mit der Nilpferdpeitsche auf seinen Rücken ein, so dass die Schläge ein V bildeten. Voss, der sich weigerte, andere zu belasten, wurde auf diese Weise buchstäblich totgeschlagen. Er starb etwa eine Stunde nach einer solchen Vernehmung.
,Als ich schon halbtot geprügelt war', sagte Hüttig vor dem Gericht aus, ,habe ich mein Hemd aufgerissen und der SA-Mannschaft zugerufen: »Hier, schießt mich tot, aber lasst meine Kameraden zufrieden!«' Daraufhin hätten die SA-Leute, denen das imponierte, etwas nachgelassen. Hüttig fügte dann hinzu: Nach dem, was er im Columbiahaus erlebt hatte, wolle er bis an sein Lebensende Kommunist bleiben.
Auf die erschütternden Feststellungen des Hüttig sagte der Staatsanwalt nur: ,Es mag sein, dass die Angeklagten nicht allzu sanft behandelt worden sind.'"
Paul Voß. Totgeschlagen - weil er Hüttig nicht belasten wollte.
Bäckervoß haben wir ihn immer genannt. Damals, im Jahre 1932, hat er mir die Narben von Messerstichen der SA gezeigt. Als er aus dem Krankenhaus kam. Sonntags wollte er bei unserer Zeitungspropaganda immer mit meiner Gruppe gehen. „Du hast so eine laute Stimme, Jan", hat er gesagt, „die hören sie immer gleich auf zwei Höfen, darum können doch bei dir mehr mitkommen." Sein blasses, breites Gesicht mit den langen schwarzen Haaren steht wieder deutlich vor mir. Wie er immer mit den Armen geschlenkert hat, wenn er ging. Er ging immer wie eingeknickt, die Beine leicht gekrümmt, vom Stehen am Backtrog. Bäckervoß. -
Richard Hüttig.
Dimitroff stand an weit sichtbarer Stelle. Nicht jeder ist ein Dimitroff. Nicht jeder kann so sprechen wie er - aber Tausende Helden wie er kämpfen in Deutschland. Unbekannte Helden.
Diesen Bericht wollen sie an Auslandszeitungen weiterleiten. Vielleicht kann Richard doch noch gerettet werden!
Stundenlang laufe ich durch die Straßen, denke immer wieder dieselben Gedanken. Erschöpft, mit schwerem Kopf, gehe ich in unsere Straße zurück. Plötzlich wird mir bewusst, dass ein Mann schon durch zwei Straßen hinter mir geht. Auch in unsere Straße biegt er mit ein. In einem dunklen Hausflur bleibe ich einen Augenblick stehen, spähe hinaus. Der Mann geht vorbei, verschwindet drüben hinter dem Knick der Straße. War wohl ein Zufall.
Halb zwei Uhr nachts ist es schon. In meinem Haus ist es totenstill. Meine Wirtin schläft lange schon. Ich ziehe mich leise aus, wühle den Kopf in die Kissen. —
... Was ist denn ...? - Was klopft denn da...? - Ich bin ja -! Ich fahre im Bett hoch. Jemand klopft an meine Zimmertür. Jetzt wieder, stärker! Mein Kopf ist dumpf und schwer. Das Hemd klebt an meinem Rücken vor Schweiß. Ich presse meine Hände gegen die Schläfen, mache mich so gewaltsam wach - stehe auf. Mein Wecker zeigt vier Uhr - und es klopft?! Haussuchung - Polizei! Ich bin vor Schreck wie gelähmt, meine Hände zittern, ich kann sie nicht richtig halten. Den Bericht habe ich noch hier - diesen Bericht!
Noch etwas anderes? - Nein - und der Bericht ist ja gut versteckt! Langsam gehe ich zur Tür, öffne. Meine Wirtin steht auf dem Korridor. Sie hat einen Bademantel übergeworfen, ihr dünner weißer Zopf baumelt über die Schulter.
„Um Gottes willen - Herr Petersen - was haben Sie denn?! Sie schreien ja so!" sagt sie verstört.
„Ich? - Nichts! - Entschuldigen Sie, bitte", sage ich mühsam.
Die alte Frau geht kopfschüttelnd in ihr Zimmer zurück. Ich aber stehe und starre auf mein Zimmerfenster. Trübes graues Licht kommt dort herein. - Wochenlang geht das nun schon so. Nachts, im Schlaf jagen mich die Braunen, am Tage belausche ich jeden Schritt auf der Treppe, jedes Klingelzeichen. Meine Nerven. Ich werde eine Zeitlang ausspannen müssen. Was habe ich vorhin nur gerufen? Ich weiß es nicht mehr genau, über Bäckervoß muss es etwas gewesen sein. Ob mich meine Wirtin schon öfter schreien gehört hat? Ich werde mich ihr gegenüber noch verraten.
Ich starre lange auf das zerwühlte Laken, auf die Betten, die am Fußboden liegen. Mich fröstelt, meine Zähne schlagen aufeinander, das Hemd klebt mir kalt am Körper.
Vor zwei Tagen hat sich X, der SA-Mann aus dem Reservesturm, wieder bei Ernst Schwiebus gemeldet. Auf dessen Arbeitsstelle im Parfümgeschäft. X, der mir damals den Bericht über Kurgels Misshandlungen in der Maikowski-Kaserne gab. (Kurgel wurde von den Dreiunddreißigern ja nur verhaftet, weil sie von ihm wissen wollten, wo Franz Zander war. Franz ist nun tot - aber Kurgel ist immer noch im Konzentrationslager Oranienburg.)
Jetzt sitzt X vor mir. Er schweigt lange, zieht an seiner Zigarette. Ich dränge ihn nicht, aber ich denke: der war doch früher in einer unserer Massenorganisationen, er ist immer der alte geblieben, kennt mich schon jahrelang, dass er trotzdem immer so schwer aus sich herausgeht!
Da sagt X: „In den Charlottenburger Stürmen sind nach und nach 120 SA-Leute verhaftet worden. Wegen ,Nörgelei und Disziplinlosigkeit'. Sie sind in der Charlottenburger Polizeikaserne, Königin-Elisabeth-Straße. - Sie werden als Ehrenhäftlinge behandelt. Können sich unterhalten, dürfen Karten spielen, auch rauchen. - Aber sie werden mehrere Stunden am Tag zurechtgeschliffen. - Exerzieren - auf dem Kasernenhof."
„Hundertzwanzig Mann, weißt du das genau?"
„Ja! Von einigen weiß ich auch genau, warum sie dort sind!"
X drückt seine Zigarette aus.
„Einer ist von der ,alten Garde'. Hat seinen Sturm mit gegründet. Der Sturm hatte ihm Arbeit besorgt - er war jahrelang arbeitslos. Nach zwei Wochen hat er in der Fabrik Krach geschlagen. - ,Einen Saulohn verdient man! Die Schufterei ist schlimmer als früher!'" (Teichert hat mir doch aus seinem Werk einen ähnlichen Fall erzählt.)
„Ein anderer. Bei dem war's umgekehrt. Der hatte gute Arbeit, wollte sie nicht verlieren und ging darum im März 1933 in die SA. Dem haben die dauernden Ausmärsche den Nerv getötet. Seine Freundin ist ihm davongelaufen, weil er sonntags für sie nie Zeit hatte. Er ist dann einfach nicht mehr angetreten. Zweimal acht Tage Haft. Alexanderplatz, Polizeipräsidium. Dann hat er den SA-Dienst wieder geschwänzt. -Den sollen sie jetzt in der Polizeikaserne als ,Märzgefallenen' besonders rannehmen."
X legt die Beine übereinander, trommelt mit den Fingern auf seinen Schaftstiefeln. „Die meisten haben sie aber verhaftet, weil sie in den Stürmen für eine zweite Revolution Propaganda gemacht haben."
„Davon haben wir schon gehört. Weißt du etwas Näheres?"
„Nur, was sie jetzt noch so unter sich reden: Die SA hat die Kastanien aus dem Feuer geholt - wir sind betrogen worden -die Bonzen haben den Sozialismus verraten - die sind auf unsern Rücken in die Ministersessel gekrochen, das ist alles, was sich in Deutschland verändert hat - und solche Reden."
X nimmt ein Stück Papier vom Tisch, reißt es in kleine Streifen.
„Habt ihr da vielleicht nachgeholfen?"
„Möglich - ich weiß nichts davon."
X dreht die Papierstreifen in der Hand. Er sieht sie an.
„Hm, na ja. - Ich hörte nämlich die folgende Geschichte: Einer von den Verhafteten kam mal mit einer abgezogenen Zeitung ins Sturmlokal. - ,Der rote SA-Mann'. Die hätte ihm jemand in den Briefkasten gesteckt. - Er las einigen daraus vor. Einen Artikel über das Schlemmerleben der SA-Führer -die Namen waren genannt. Die Roten hätten schon früher manches Richtige gesagt, äußerte er sich. Deshalb hätten sie doch aber die Kommune nicht niedergeschlagen, deshalb bestimmt nicht!"
(Natürlich kenne ich diese Zeitung. Sie wird von SA-Leuten herausgegeben, die schon mit uns sympathisieren.)
X macht eine lange Pause.
„Kennt ihr einen Direktor Thomas?" fragt er plötzlich.
„Nein - warum?"
„Der Fall hat nämlich in der SA große Erregung hervorgerufen. - Deswegen sind auch einige von der ,alten Garde' in der Polizeikaserne!"
X spielt wieder mit dem Papierstreifen. Eh der so redet!
„Direktor Thomas war ein Nazikommissar. Bei der Berliner Verkehrsgesellschaft eingesetzt. - Er verschwand plötzlich. Einige Tage später brachten die Zeitungen eine Notiz: Direktor Thomas ist in der Havel ertrunken. - Es hat sich aber bald rausgestellt, dass der die Notiz selbst in die Zeitungen lanciert hatte. Die Polizei verhaftete ihn später. In einem Überseehafen. Der hatte nämlich die Unterstützungskasse der BVGler bei sich - so einige hunderttausend Märkerchen -"
„Und die SA-Leute - weshalb wurden die verhaftet?"
„Die waren Straßenbahnschaffner und so etwas. - Auf ihrem Betriebsbahnhof erschien ein Anschlag: Direktor Thomas gestorben - Beerdigung dann und dann. - Von der Belegschaft durfte aber niemand hingehen, und die haben sich damals darüber noch gewundert. - Jeder Nazibonze wird doch sonst feierlich eingebuddelt —"
„Und weiter! - Weiter!"
„Kommt ja!" - Die Unterschlagungsgeschichte wurde irgendwie bekannt. Die SA-Leute redeten in ihrem Betrieb darüber, sie gingen sogar zu ihren Nazivorgesetzten, verlangten Aufklärung. - Die haben das als alte SA-Männer für ihre Pflicht gehalten. - Dann sind sie mundtot gemacht worden. Kritikaster - ab in die Polizeikaserne." -
X meinte dann, dass die Verhaftungen diese Vorfälle erst zum allgemeinen Gesprächsthema gemacht hätten. Es gäbe ganze SA-Gruppen, die unzufrieden seien und nur noch durch eisernen Zwang zusammengehalten würden. Die Naziführer seien sich wohl auch darüber klar.
Ich habe X gefragt, ob er nicht versuchen könne, mit solchen oppositionellen Leuten mal in unserem Sinne zu reden. Wir müssten doch diese Stimmung ausnützen, ihr ein Ziel geben. Ob er uns nicht die Namen von unzufriedenen SA-Leuten nennen könne? Wir würden denen dann unsere Zeitungen zustellen, könnten vielleicht später selbst mit ihnen sprechen. X lehnte dies ab. Es könne ihn gefährden, er habe Familie, sagte er. Er würde sicher noch mehr erfahren und es uns wieder mitteilen. Mehr könne er aber nicht tun. Ich habe ihm gesagt, wie ungeheuer wichtig diese Berichte über die Stimmung in der SA für uns sind. (Auch Preuß hat mir erzählt, dass im Konzentrationslager Brandenburg und in der Feldpolizeikaserne General-Pape-Straße verhaftete SA-Leute waren. Genossen aus anderen Bezirken berichten dasselbe.)
X ist für unsere Gruppe ein nützlicher Stützpunkt in der SA. Zum ersten Mal haben wir gestern Einzelheiten über die Zersetzung in der Charlottenburger SA gehört. Ein leitender Genosse unserer Stadtteilleitung sagte mir, dass sie noch andere Verbindungen zur Charlottenburger SA hätten.
Wir müssen X im Laufe der Zeit dazu bringen, dass er mit enttäuschten SA-Leuten deutlicher spricht, dass er uns später selbst mit ihnen zusammenbringt.
Als Frau Zander die Wohnungstür zuklappte, stand ihre Nachbarin auch schon in ihrem Türrahmen. Sie ging auf die alte Frau zu, legte ihr den Arm um die Schulter.
„Was denn, was denn! Sie wollen doch nicht etwa runtergehen, wo Sie erst vor ein paar Tagen aufgestanden sind! Sie müssen sich doch noch schonen", sagte sie vorwurfsvoll.
Sie stützte die alte Frau.
Frau Zander sah aus, als ob sie kleiner geworden wäre. Die lange Krankheit hatte ihren Rücken leicht gekrümmt. Ihr Gesicht war eingefallen.
„Sie sind so gut zu mir - ich will nur etwas einholen", sagte Frau Zander.
„Das kann doch Käthe besorgen, wenn sie nach Hause kommt. Wenn Sie es aber gleich brauchen, gehe ich!" sagte die Nachbarin.
Frau Zander schüttelte den Kopf.
„Mal muss ich doch anfangen - langsam wieder reinkommen. Wenn Franz mich so sieht!"
Franz, immer Franz, dachte die Frau Schulze. Wochenlang verschweigen wir ihr nun schon, dass Franz tot ist. Alle Mieter im Haus. Wenn die alte Frau das alles mal richtig erfährt!
Da fragte Frau Zander: „Sie haben ihn doch zuletzt gesprochen - was hat Franz gesagt - wann wollte er wiederkommen?"
Die Nachbarin sah an den unruhigen, tief in den Höhlen liegenden Augen der alten Frau vorbei.
„Er wollte bald wiederkommen", sagte sie zögernd, „bald."
„Bald - bald", wiederholte Frau Zander, „es ist doch aber schon so lange her!"
Sie ging nun doch zum Treppengeländer, stützte sich schwer darauf.
„Sie sollen doch nicht gehen!" sagte die Nachbarin wieder.
„Ich will aber - ich muss auch", sagte Frau Zander.
Die Nachbarin sah ihr noch kopfschüttelnd nach. Wie die alte Frau Stufe um Stufe nahm, mit der Hand am Treppengeländer entlangrutschte.
In dem Milchladen stand nur eine Frau mit einer Markttasche am Arm. Sie sprach mit der Milchfrau. Die schnitt dünne Scheiben von einem Stück Käse. Als die Tür aufging, legte die Milchfrau das Messer schnell aus der Hand und lief um den Ladentisch.
„Frau Zander, Sie?!" sagte sie überrascht. „Sie stehen zu früh auf - ganz bestimmt zu früh!"
Sie stützte die alte Frau, zog einen Stuhl heran.
„Setzen Sie sich, setzen Sie sich."
Frau Zander setzte sich. „Mal muss man doch", sagte sie. Sie atmete schwer. Die Milchfrau schnitt wieder Käse, die andere Kundin hatte sich neben die alte Frau gestellt.
„Sie sind Frau Zander? So - so", sagte sie nachdenklich. Und dann mitleidig: „Dann war Franz Ihr Sohn?"
„Ja. Sie kennen ihn, meinen Franz?"
„Ich kannte ihn gut. Habe ihn oft gesehen. Ich kann mich noch genau erinnern", sagte die Kundin.
„Frau Meier! Frau Meier! Wünschen Sie noch etwas?" rief da die Milchfrau vom Ladentisch. Die Frau Meier drehte sich auch um. Sie wunderte sich noch, warum die Milchfrau so schrie. Die stand hinter der Glasvitrine, in der verschiedene Lebensmittel lagen, und nickte mit dem Kopf herüber, schüttelte ihn wieder verneinend, tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Lippen. Die Frau Meier verstand aber die Zeichen nicht. Die Milchfrau nickte immer wieder herüber, tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen.
„Was ist denn?" sagte die Frau Meier endlich. „Ja, geben Sie mir noch ein Viertel Salami - und ein Viertel Zungenwurst!" Sie zeigte auf die Glasvitrine.
„Sie kennen ihn?" sagte da wieder Frau Zander leise zu ihr.
„Ja, ich kannte ihn. War ein guter Mensch. Ist schade um ihn", sagte die Frau Meier.
Da rief die Milchfrau wieder: „Frau Meier! Frau Meier!"
Doch die ärgerte sich jetzt.
„Ja doch, ist ja richtig, davon!" sagte sie erbost. Die Milchfrau machte weiter ihre Gebärden, aber die Kundin kümmerte sich nicht mehr darum.
„Er war schon lange nicht mehr hier - er wollte doch bald wiederkommen", sagte da auch Frau Zander wieder zu ihr. Sie lächelte dabei noch vor sich hin.
„Wer denn?" fragte die Frau Meier unsicher.
„Franz, mein Junge", sagte die alte Frau leise, als spräche sie zu sich.
Da ging die Frau Meier ganz dicht an die alte Frau heran, sah sie groß an. Sie achtete nicht darauf, dass die Milchfrau mit dem Messerknauf auf den Ladentisch hämmerte.
„Ihr Franz?" sagte sie hastig, „der kann doch nicht mehr kommen - den haben wir ja schon vor sechs Wochen begraben!"
Es wurde totenstill im Laden. Die Milchfrau stand mit offenem Mund und hängenden Schultern, das Messer war ihr aus der Hand gefallen. Frau Zander griff sich plötzlich nach der Herzgegend, ihre Finger krallten sich in den Stoff ihrer Bluse. So saß sie sekundenlang, starr, mit weit aufgerissenen Augen. (In diesem Augenblick wurde ihr sicher vieles klar: die große Hilfsbereitschaft der Nachbarin, die mitleidigen Gesichter der Hausbewohner, das scheue Wesen von Käthe, dass sie in den letzten Wochen immer so ernst und blass gewesen war.)
Plötzlich sprang dann die alte Frau vom Stuhl auf.
Ihr Gesicht verzerrte sich, sie schrie laut.
Die andere Kundin rannte fort, um Hilfe zu holen. Als Frau Zander aus dem Laden getragen wurde, schrie sie immer noch. Auf dem Hof, auf den Treppen. Im ganzen Haus wurde es still. Mit verbissenen Gesichtern, mit zusammengepressten Lippen standen die Menschen an Türen und Fenstern.
Ich stehe vor einer Litfasssäule. Es ist eine Reklamesäule wie jede andere. Auf ihre obere Hälfte ist ein großes Plakat geklebt. Eine Frau ist darauf abgebildet. Ihr Körper wird aus einer Zigarette gebildet. „Die Berlinerin. Die große runde Juno!" steht in dicken Buchstaben darunter. Daneben stehen auf bunten Plakaten Filmtitel: „Gruß und Kuss Veronika" -„Annemarie, die Braut der Kompanie".
Das lese ich, lese ich. Ich kann doch nicht immer das gelbe Plakat in der Mitte lesen. Das kann ich nicht.
„Bekanntmachung!
Die Justizpressestelle teilt mit: Der Richard Hüttig aus Berlin, geboren am 18. März 1908 in Bottendorf, ist durch rechtskräftiges Urteil des Sondergerichts beim Landgericht Berlin vom 16. Februar 1934 zum Tode verurteilt worden. Das Urteil ist heute früh im Hofe des Strafgefängnisses zu Plötzensee vollstreckt worden.
Berlin, den 14. Juni 1934."
Ich weiß nicht, wie lange ich vor dem Plakat gestanden habe, bis ich endlich weitergehe. An jedem Fuß hängt mir eine schwere Kugel. Die Menschen laufen an mir vorbei, der Lärm der Straße braust dumpf in meinen Ohren. Den Fuß vorsetzen, wieder zurück - mechanisch geht das, ohne meinen Willen. So gehe ich langsam in unsere Straße zurück.
- März 1908 geboren - Plötzensee vollstreckt - sechsundzwanzig Jahre alt - heute früh. -
Die Sonne scheint hell. Die Fensterscheiben werfen ihre Strahlen in gleißenden Reflexen zurück. Lange Autoreihen rollen vorbei. Der Verkehrsschupo an der Ecke pendelt mit den Armen, Fußgänger gehen vorbei - alles wie sonst.
----Ich war in der Innenstadt. Nirgends kleben da diese
Plakate. Nur hier bei uns in Charlottenburg. Soll uns abschrecken —
Am Nachmittag gehe ich wieder durch unsere Straße. Hier gingen sie mit mir, hier standen wir oft. - An der Ecke Berliner Straße bleibe ich stehen, sehe zu dem blauweißen Namensschild der Straße hinauf: Maikowskistraße.
Diese Straße soll einmal Richard-Hüttig-Straße heißen. Er hat zwar nicht in unserer Straße gewohnt. Aber gekämpft hat er hier mit uns.
Langsam gehe ich weiter.
Seine rauhe, bellende Stimme, seine blonden wirren Haare, die buschigen Augenbrauen. - Sie haben Hüttig in der letzten Nacht jemanden in die Zelle geschickt. Er hat es abgelehnt, an Göring ein Gnadengesuch zu richten.
Ich gehe zu der Litfasssäule zurück. Ich ziehe einen schmalen Zettel aus der Tasche. Ich feuchte ihn schnell an. Ich klebe ihn schräg auf das Wort „Bekanntmachung". Mit dem Buchstaben eines Kinderdruckkastens sind darauf die Worte gestempelt:
„Auch Tote können zu uns sprechen! Wir kämpfen weiter, und wir werden rächen!"
Am nächsten Tag. Ede brachte mir eine Nachricht. Richard Hüttig hatte eine letzte Bitte: „Der Wagen mit meinem Sarg soll durch meine Straße fahren."
Die Braunen wollen seinen letzten Wunsch erfüllen. Warum auch nicht. Durch alle Straßen Berlins fahren täglich viele Wagen. Jetzt wissen wir es aber!
Unsere Aufforderung wird an die Genossen unserer Straße von Mund zu Mund weitergegeben: „Seid alle dort!"
Die angegebene Stunde rückt heran. Zu zweit, zu dritt gehen wir nach der kleinen Arbeiterstraße, in der Richard Hüttig gewohnt hat. Es ist eine Viertelstunde Weg.
Ede und Emil Schmidt gehen vor mir. Die anderen Genossen unserer Gruppe sind auf ihrer Arbeitsstelle. Sie wissen noch nichts davon. Auf Heinz Preuß habe ich lange einreden müssen, ehe er einsah, dass er, aus dem Konzentrationslager entlassen, nicht dabeisein darf. Wir gehen stumm. Hass und Trauer sind in unseren Gesichtern. Wir alle wissen: Richard Hüttig nimmt heute von uns Abschied. - Es ist, als gäbe er uns seinen letzten Befehl: Steht mir noch einmal gegenüber Ich will eure Front abfahren.
Wir alle wissen: jeder Schritt kann uns lauernden braunen Schergen näher bringen. Wir alle sind bereit, wie er sein Leben lang für uns bereit war. -
In der schmalen Straße gehen Polizeistreifen auf und ab. An den Ecken stehen kleine Trupps der SA. Die haben doch damit gerechnet, dass wir es erfahren könnten! Die Uniformierten sehen alle angestrengt zu den Fenstern der Häuser hinauf. Die sind geschlossen.
Aber vor den Haustüren stehen Menschen. Frauen mit Markttaschen, viele haben ihre Kinder an der Hand. Die Männer stehen regungslos daneben. Sie haben die Hände in den Hosentaschen. Die Straße ist schmal und nur kurz. Wir sind nicht die ersten. In losen Gruppen gehen „Passanten" hin und her. Immer mehr kommen aus den Seitenstraßen.
Ede und Emil Schmidt gehen jetzt auf der andern Straßenseite. Ich habe ihnen gesagt, was zu tun ist, wenn hier einer von uns verhaftet wird. Die Menschen gehen in weit auseinander gezogenen Gruppen auf den Bürgersteigen. Sie haben sich die Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Hände in die verschossenen Kleider vergraben. „Passanten." Hunderte. Wir nicken uns unmerklich zu, sehen uns stumm an. Viele Genossen, von denen ich nicht wusste, was aus ihnen geworden war, sind darunter. Ich kenne sie aus der legalen Zeit. Otto -Albert - Willi - sind alle noch da - sind alle noch da!
Hunderte gehen auf und ab - aber es ist still in der Straße. Unheimlich still. Auf dem Asphalt treiben zwei Jungens einen Trudelreifen vor sich her. Mit hellen Stimmen rufen sie sich etwas zu. Ein Kutscher wirft Bierfässer von seinem Wagen auf die Prellkissen an der Erde. Es dröhnt jedes Mal dumpf.
Diese beiden breitschultrigen Männer? - Gestapoagenten! Helle Hüte, tadellose Sommeranzüge - die erkennt doch hier jeder! Der Jüngere hat ein kleines Bärtchen. Der andere ist glattrasiert. Das aufgeschwemmte Gesicht, der Stiernacken -eine richtige Bulldoggenfresse. Auch sie gehen hin und her, sehen im Vorbeigehen scharf in alle Gesichter. Rechts, der Schuhmacher! Er hat seine Ladentür weit offen, hat seinen Arbeitsschemel „ans Licht gerückt", schabt emsig an einem Reparaturstiefel. Der Gemüsehändler! Der hat plötzlich viel an seinen Obstkörben, an den Auslagekästen zu „dekorieren". Die Straße ist in Bewegung. Aber mir ist, als ob die Zeit hier stillsteht. Als ob alle den Atem anhalten.
Meine Nerven zerren. Die Minuten schleichen, als wären es Stunden. Jetzt! Am Straßenrand links tauchen Uniformen auf. Blaue Polizeiuniformen, dazwischen braune. Der Totenwagen. Zwei SA-Leute führen die Pferde am Zügel. Auf den Bürgersteigen erstarrt jede Bewegung. Alle Köpfe drehen sich zum Fahrdamm. In dichten Reihen stehen die Menschen an den Rinnsteinen. Aus den Haustüren kommen sie, stellen sich dazu. Plötzlich fliegen die Fenster an den Häuserfronten auf, als hätte ein Klingelsignal alle Mieter alarmiert.
Vorn links nehmen sie die Hüte, die Mützen von den Köpfen. Die Bewegung läuft durch die Menge. Stille. Atemlose Stille. Hell klappen die Pferdehufe. Der Totenwagen - die Uniformen kommen langsam näher. Hinter mir schluchzt eine Frau laut auf. Jetzt ist der Totenwagen heran. Meine Augen werden weit, meine Kinnladen mahlen.
Da fliegt ein roter Blumenstrauß durch die Luft, prallt gegen den Totenwagen, fällt auf den Asphalt.
Ich reiße den Kopf herum. Aus den Fenstern über uns -da - noch einer!
„Du bist für uns gestorben, Genosse Hüttig! Wir werden dich rächen!" ruft eine Frau mit gellender Stimme aus einem Fenster. Auf einmal sind wir alle nicht mehr einzeln hier. Auf einmal sind wir alle ein Körper, ein Mund. Hundertstimmig schreit es in der engen Straße: „Rache! Rache! Rot Front!"
Die SA-Leute reißen am Zaumzeug der Pferde. Der Totenwagen hält mit einem Ruck, steht plötzlich allein auf dem Fahrdamm. Die Uniformierten laufen auf die Bürgersteige zu. Sie schlagen zwischen die Menschen, reißen Menschen zu Boden.
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